Über Lesben gestolpert

Artikel teilen

Wenn sie ausgeht, dann ins „Stadtkasino“ oder in den „Versuchsschoppen“, Hamburgs ein­schlä­gige Lokale für Mädchen wie Ingrid, die statt Jungs lieber andere Mädchen kennen lernen wollen. Mit 18 wird die junge Frau wegen „moralischen Schwachsinns“ vom Jugendamt entmündigt. Wir schreiben das Jahr 1944. Zuvor hatte das Jugendamt ­Ingrid Liermann jahrelang in verschiedene Heime gesperrt. Endstation ist das „Versorgungsheim Farmsen“, eine Erziehungsanstalt, hinter dessen harmlosem Namen sich die Hölle verbirgt: Verstöße gegen die eiserne Zwangsarbeits-Disziplin werden mit Essensentzug und Dunkelhaft geahndet, Zwangssterilisationen sind an der Tagesordnung; allein zwischen 1934 und 1939 werden in Farmsen 1.143 Sterilisationen der ausschließlich weiblichen Insassen veranlasst. Ingrid Liermann entkommt diesem Schicksal im letzten Moment durch den Einmarsch der britischen Truppen in Hamburg am 3. Mai 1945.

Anzeige

Lebensgeschichten wie diese erzählt ab dem 26. April die Ausstellung „Homosexuellen-Verfolgung in Hamburg 1919–1969“. Anders als die Initiatoren des Berliner „Mahnmals für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen“, die die Verfolgung lesbischer Frauen im Dritten Reich schlicht bestreiten, haben sich die Hamburger Ausstellungsmacher auf die Spuren homo­sexueller Männer und Frauen begeben. Zwei Jahre lang haben Bernhard Rosen­kranz und Ulf Bollmann „Berge von Akten“ im Hamburger Staatsarchiv durchforscht und sind auf erschütternde Dokumente gestoßen.

Obwohl der berühmt-berüchtigte § 175 offiziell nur Männer betraf, wurden auch Frauen aufgrund ihrer Liebe zum gleichen Geschlecht bestraft, wie die Recherchen der beiden Forscher beweisen: „Um der Angeklagten klar zu machen, dass sie künftig ihre Neigungen in dieser Hinsicht im Zaume zu halten hat, glaubte das Gericht von einer Geldstrafe Abstand nehmen zu müssen und auf eine Haftstrafe von 1 Monat zu erkennen“, urteilte das Amtsgericht Hamburg am 6. April 1937 zum Beispiel über die Angeklagte Thea Hasselfeldt.

Obwohl auch die Gerichtsakten Auskunft über die Verfolgung lesbischer Frauen geben, wussten die beiden Forscher, dass sie deren Spuren auch an anderen Orten suchen mussten: „Wenn man die Frauen finden will, darf man sich eben nicht nur die Strafakten anschauen“, erklärt Bernhard Rosenkranz. Stattdessen recherchierten die Gründer der Initiative „Gemeinsam gegen das Vergessen“ auch in den Dokumenten medizinischer Institute, wo sie auf zahlreiche Zeugnisse von Zwangssterilisationen homosexueller Frauen stießen. Oder auf Akten wie die von Clara Schröder. Sie ist in den Dossiers der Kriminalbiologischen Abteilung der Ham­bur­gischen Gefangenen-Anstalten verzeich­net – in der Kategorie „Perversität“. Privatfotos der Gefangenen, die die junge Frau als Dandy mit Hut und Zigarre oder gemeinsam mit ihrer Freundin zeigen, illustrieren den strafwürdigen Verstoß gegen das nationalsozialistische Bild der Frau als blondbezopfte Gebärmaschine.

Und auch in den Erziehungsheimen werden der Archivar Bollmann und Buchautor Rosenkranz fündig: „Sie selbst ist vielmehr homosexuell veranlagt. Neben dieser sexuellen Perversität treten auch an­dere psychopathische Züge hervor. Sie ist triebhaft und von jeher schwer erziehbar gewesen. In der Anstalt hat sie wiederholt Freundschaften mit anderen Insassen unter­halten und musste deswegen bestraft werden. Lieselotte Riess ist entmündigt.“

Auf 48 Schautafeln dokumentieren die Forscher nun im KZ Neuengamme ihre Funde. Und nicht nur das: Seit 2004 haben Rosenkranz und Bollmann dafür gesorgt, dass in Hamburg über 200 „Stolpersteine“ verlegt wurden. Die 10x10 Zentimeter großen Messingplatten, in die Name, Geburts- und Todesjahr des oder der Ermordeten eingraviert ist, werden vor dem letzten Wohnsitz des oder der Toten in den Bürgersteig eingelassen. 12.000 Stolpersteine hat ihr Erfinder, der Kölner Künstler Gunter Demnig, bisher in 220 Städten verlegt. Dank der Arbeit von Rosenkranz und Bollmann stolpern PassantInnen in Hamburg nun auch über fünf Schicksale frauenliebender Frauen. Darunter auch dem der Künstlerin Anita Rée, die – als homosexuell und „entartet“ aus der Nazigesellschaft ausgeschlossen, schon ein knappes Jahr nach der Machtergreifung am 12. Dezember 1933 Selbstmord beging.

„Es war für uns selbstverständlich, dass wir nach Männern und Frauen geforscht haben“, sagt Bernhard Rosenkranz. „Schließlich heißt es ja homosexuelle NS-Opfer.“ Eine Erkenntnis, die man sich auch bei Jury und Initiatoren des Homomahnmals gewünscht hätte, das nun am 28. Mai im Berliner Tiergarten enthüllt wird und im Innern eines Betonkubus einen Männerkuss in Endlosschleife zeigt. Nach zwei Jahren – so das Resultat des von EMMA initiierten Protestes gegen die Unsicht­barkeit der verfolgten Frauen – dürfen dann auch Frauen küssen. Heißt es. Bis dahin muss, wer Frauen wie Ingrid Liermann, Thea Hasselfeldt oder Clara Schröder gedenken will, in die Hamburger Ausstellung gehen.

www.hamburg-auf-anderen-wegen.de/stolpersteine

In EMMA zum Thema: Lesben in der NS-Zeit (EMMA 1/07)

Artikel teilen
 
Zur Startseite