Bei Männern ist Grau cool

"Silverfox" George Clooney. - Foto: Amando Gallo/Imago/ZUMA Press
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Frauen leben heute länger als jede Generation vor ihnen in der Geschichte. Sie waren niemals qualifizierter, entscheidende Posten einzunehmen und Einfluss auf unsere Gesellschaft zu haben. Dennoch – trotz aller Errungenschaften der feministischen Bewegung – stehen wir immer noch unter enormem Druck, unsere echte Haarfarbe zu färben und jünger auszusehen als wir sind.

Hier wird zweierlei Maß angelegt. Wir würden von Männern niemals erwarten, dass sie sich verjüngen müssen, um überhaupt wahrgenommen zu werden, geschweige denn, um voran zu kommen. Warum also erwarten wir das von Frauen?

Mary Beard, Althistorik-Professorin an der Universität zu Cambridge, in den Sechzigern und grauhaarig, fasst es so zusammen: Eine Frau mit grauen Haaren sähe „aus wie jemand, den wir nicht beachten müssen“. Hinzu kommt die Assoziation von Frauen mit grauen Haaren und dem Bösen. Eine Botschaft, der wir durch Hollywoods garstige Stiefmütter, Hexen, Übeltäterinnen und Teufelinnen ausgesetzt sind. Denken wir nur an die Hexe in Disneys „Schneewittchen“, die böse Stiefmutter bei „Cinderella“, an Cruella de Vil in „101 Dalmatiner“ oder Meryl Streeps Rolle als Miranda Priestley in „Der Teufel trägt Prada“.
Erst in ihren späten Jahren sehen wir einige wenige Hollywood-Stars, die als Poster-Girls für ein Ja zu grauen Haaren taugen: Jamie Lee Curtis in ihren späten Fünfzigern sowie Judy Dench und Helen Mirren in ihren Siebzigern.

Doch neuerdings sprießen überall in den sozialen Medien Widerstandsnester gegen die Abwertung grauhaariger Frauen. Sie erzählen Geschichten und zeigen Bilder von älteren Frauen, die das Färben aufgegeben haben, die grau werden – und dabei phänomenal aussehen.

Die Facebook-Community „Going grey, looking great!“ (Graue Haare bekommen und großartig aussehen) ist voll mit Geschichten und Bildern von Frauen, die sich dafür entschieden haben, grau zu werden. Munitioniert werden sie durch eine Reihe von Selbsthilfebüchern, Webseiten und Blogs, die Frauen Hilfestellung geben, „wie sie den Übergang schaffen können“ und „welche Kleidung und welches Make-Up zum neuen grauen Haar passt“.

Der Markt für Haare wird weltweit auf jährlich rund 83,1 Milliarden US-Dollar geschätzt, der Anteil von Haarfärbemitteln auf über 20 Prozent davon. Angesichts des Trends hin zum grauen Haar wird sich also der ein oder andere Vertreter der Haarfärbemittel-Industrie die Hände reiben. Denn die Prozedur, gefärbtes Haar wieder in graues zurückzuverwandeln kann bis zu acht Stunden dauern und 200 bis 700 Dollar kosten, je nach Haarfarbe und Verfassung des Haars.

Andererseits wird die Aussicht darauf, dass immer mehr ältere Frauen ihr Haar mit der Zeit einfach so grau werden lassen, die Branche mit Sorge erfüllen. Kein Wunder also, dass die Schönheitsindustrie zwar den Trend junger Frauen zum grauen Haar feiert – aber gleichzeitig versucht, ältere Frauen davon abzuhalten.

Und um es besonders überzeugend zu machen, wird das Färben grauer Haare mit dem feministischen Diskurs verwoben: Es gehe hier um das „Recht“ von Frauen, ihre Haare zu färben, und sich damit den gesellschaftlichen Erwartungen darüber, wie eine alternde Frau „aussehen soll“, zu „widersetzen“. Es wird behauptet, es seien besonders unabhängige, weibliche Werbetexterinnen gewesen, die die ersten massentauglichen Anzeigenkampagnen entwarfen, die Frauen ermutigten, ihre grauen Haare zu färben.

Wie die New Yorker Werbetexterin Shirley Polikoff, die vor einem halben Jahrhundert das Haarfärbemittel namens „Loving Care“ von Clairol anpries. Sie richtete sich besonders an jüngere Frauen mit grauem Haar: „Graues Haar, besonders wenn es vorzeitig ergraut ist, macht dich älter als du wirklich bist.“ Es genügt, dass du „Loving Care“ benutzt, und „alles was man sieht, ist dass du so viel jünger, hübscher bist! Schon nach der allerersten Anwendung. Du hasst dieses Grau? Wasch‘ es einfach weg!“

Die Clairol-Kampagnen der 1950er- und 1960er-Jahre ließen den Prozentsatz der Frauen, die ihr Haar färbten, kometenhaft in die Höhe schießen: von sieben Prozent in den 1950ern auf 40 Prozent in den 1970er-Jahren. Heute färben bis zu 75 Prozent aller US-Amerikanerinnen ihre Haare. In Europa färben 60 Prozent der Frauen und fünf bis zehn Prozent der Männer die Haare.

In den frauenbewegten 1970er-Jahren entwarf der Werbetexter Ilon Specht den Slogan „Weil ich es mir wert bin“ für eine Haarfarbe von L’Oréal. Eine Kampagne, die L’Oréal an die Spitze der weltweit bestverkaufte Haarfarben-Marken katapultierte, noch vor Clairol. Dieser Slogan wird noch immer verwendet.

Die Message, dass L’Oréal für das Empowerment von älter werdenden Frauen steht, geht einher mit dem Engagement einer Schauspielerin, Fitness-Guru, politischer Aktivistin, Feministin und Ikone der Baby-Boomer-Generation: Jane Fonda, 81, ist die Wortführerin. In einem Anzeigenvideo von L’Oréal sagt sie: „Haare-Färben hätte ich fast aufgegeben, es wirkte so unecht.“ Dann sagt eine männliche Voice­over-Stimme: „New Age Perfect von L’Oréal. Die erste nuancenreiche Haarfarbe für speziell für reiferes, graues Haar. Mit einfacher Kamm-Anwendung. Für lebendige, natürliche Farbe.“ Und wieder Fonda: „Ganz ohne Ansatz! Eine Haarfarbe, so natürlich schön wie früher. Wir sind es uns sowas von wert!“

Doch warum sollen Frauen im 21. Jahrhundert besessen davon sein, sich ihre Haare zu färben – wenn Männer sich kein bisschen um so etwas scheren? (Ja, es gibt Männer, die Haare färben, aber das ist nur ein sehr geringer Prozentsatz.) Für Männer ist graues Haar normal. Für Frauen nicht. Die Frage muss also lauten: Warum sind graue Haare bei Frauen unnormal?

Die Merkmale, die Autorität repräsentieren, haben sich über Jahrtausende entwickelt. Eines dieser Autoritätsmerkmale ist graues Haar. Mitglieder der (einst maßgeblich männlich geprägten) Justiz trugen graue, gepuderte Perücken. Sie repräsentieren damit symbolisch die Eigenschaften, die wir von jemandem erwarten, der den Rechtsstaat repräsentiert. Es ist kein Zufall, dass wir all diese Bedeutungen mit älteren, grauhaarigen Männern in Autoritätspositionen in den sozialen Institutionen unserer westlichen Welt verknüpfen.

Bei Frauen ist Älterwerden eine Abweichung. Normalität ist, dass Frauen jung sind. Was im Umkehrschluss dazu führt, dass ältere, grauhaarige Frauen unsichtbar und sozial ausgeschlossen werden. Die Autorität wird ihnen abgesprochen, sie kommen nicht mehr vor – es sei denn, es geht um Anzeigen für die Behandlung von Sexualstörungen, Pflege im Alter oder Sterbeversicherungen.

Wir Frauen haben verinnerlicht, dass wir – um begehrt zu sein und Karriere zu machen – immerzu so jung, fruchtbar und sexuell attraktiv aussehen müssen wie in unseren Zwanzigern. Aber was, wenn genau das – dass wir jung, fruchtbar und sexuell attraktiv aussehen – gleichzeitig ein schwerwiegender Grund dafür ist, dass wir gar nicht auf dem Schirm derer auftauchen, die die Kandidaten für die Chefposten auswählen?

Hoffnung machen jetzt die Millionen von Frauen Ü40, die ihre Haare ergrauen lassen und uns sagen: „Es reicht! Diesen Zirkus mache ich nicht mehr mit.“ Je mehr von uns das tun, desto normaler wird es. 

Die Autorin ist Professorin am College of Creative Arts an der Universität in Massey/Neuseeland.

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Graue Haare: Die neue Freiheit!

Going gray ist angesagt, auch bei Marge Simpson, Judie Dench, Helen Mirren und Annie Lennox.
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Viele von uns erinnern sich an die wunderbare Szene in Loriots „Ödipussi“, in der das ältere Ehepaar seine neue Sofafarbe aussucht. Aus Herrn und Frau Melzer scheint, wie auch aus ihrem Wohnzimmer, jede Farbe gewichen. Das von Evelyn Hamann angepriesene ­„frische Gelb“ wird von den beiden ebenso abgelehnt wie das „zarte Apfelgrün“. Die Farbpalette, aus der sich das ergraute und sichtlich komplett freudlose Paar den neuen Bezug aussucht, bietet an: aschgrau, bleigrau, staubgrau, steingrau oder mausgrau. Man entscheidet sich schließlich, und auch das nur widerwillig, für ein „frisches Steingrau“.

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Die Szene hat, wie so viele Loriot-Szenen, Kult-Status. Allerdings hätte wohl anno 1988 niemand gedacht, dass die so belächelte Nichtfarbe Grau, Synonym für Trübsinn und Tristesse, zwei Jahrzehnte später ihrerseits kultig sein könnte. Und zwar auf Frauenköpfen jeden Alters. Tatsache.

„Gray Hair ist angesagt!“ jubeln Modemagazine. Aktuelle Buchtitel, geschrieben von grauen Frauen, heißen „Grau ist great!“ oder „Glückssträhnen“. „The Hottest Color of the Moment is ... Gray“ weiß sogar das Wall Street Journal. Das Wirtschaftsmagazin berichtet, dass auf der angesagten Social Media-Plattform Pinterest Anfragen nach dem Suchbegriff „going gray“ von 2017 auf 2018 um satte 879 Prozent angestiegen seien. Überhaupt schießen Foren auf Pinterest, Insta­gram oder Facebook wie Pilze aus dem Boden, in denen Zehntausende Frauen stolz ihre grauen oder weißen Köpfe präsentieren.

„Aber ist das eine Mode, die vorbeigeht oder eine wirkliche Revolution unserer überkommenen Vorstellungen von weiblicher Schönheit?“ fragt das Wall Street Journal. Gute Frage. (...)

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