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Und wenn mein Sohn kämpfen will?

Einen Sohn zu haben, hatte sich Hannah Lühmann immer einfach vorgestellt. Was sollte schief gehen?
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Dass der Fötus in meinem Bauch ein Junge würde, erfuhr ich nicht auf die ganz typische Art und Weise: kein Ultraschall, der mir das Organ zeigte, das den ganzen Unterschied machen sollte, positiv oder negativ, Penis vorhanden oder nicht. Sondern mein Freund und ich hatten uns in der Frühphase der Schwangerschaft für einen Bluttest entschieden, bei dem mein Blut auf alle möglichen kindlichen Krankheitsmarker untersucht wurde – ein Zufallsergebnis solcher Tests ist das Geschlecht. Bruchstücke der kind¬lichen DNA schwimmen im Blut der Mutter und geben das Geschlechtschromosom preis. Wir bekamen das Geschlecht unseres Kindes also per Brief mitgeteilt, zusammen mit allen möglichen anderen Einschätzungen und Wahrscheinlichkeiten.

Geschlecht: männlich stand da. Ich weiß noch, wie ich es nicht fassen konnte. Wir gingen gerade durch den Hinterhof des heruntergekommenen Neuköllner Mietshauses, in dem ich in den letzten Jahren gelebt hatte, vorbei an den stinkenden Mülltonnen, und ich jubelte. „Ein Junge!“ schrie ich, es klang durch den kalten Februarmorgen. Ein Junge. Ich freute mich wirklich sehr. Das war 2020.

Meine Freundinnen wünschten sich ein Mädchen, der toxischen Männlichkeit wegen

Damals dachte ich, dass es einfacher sein würde, einen Jungen zu haben als ein Mädchen, weil es die Mutter-Tochter-Dynamik durchbrach. Mein Kind – so dachte ich – würde sich nicht damit herumschlagen müssen, zu ergründen, was es bedeutet, wie ich zu sein, weil es nicht wie ich sein würde.

Ich empfand so zu einer Zeit, in der – zumindest in meiner Bubble akademischer Großstädterinnen – eher das Gegenteil en vogue war: Ich habe oft von schwangeren Freundinnen gehört, sie wünschten sich ein Mädchen. Die Gründe sind offensichtlich: Mit der toxischen Männlichkeit wird es nicht besser, von Donald Trump über Putin bis hin zu Andrew Tate und Konsorten, es sieht nicht gut aus für den Mann der Zukunft. Etwas in mir – und sicher ist das aus feministischer Sicht ein grober Fehler – hat sich jedoch stets geweigert, in meinem Kind das Potenzial zu einem toxischen Mann zu sehen. Und so fuhr ich auch, ohne es so zu benennen, eine Art feministisches Minimalprogramm, das man so beschreiben könnte: viel Liebe, ein sehr zugewandter und weitgehend untoxischer Papa und eine working mom. Was sollte da schiefgehen?

Ich stehe mit dieser Haltung nicht allein da – wenn ich die Mütter all der netten, weißen, gebildeten Jungs aufsuchen würde, die sich im Laufe meines 38-jährigen Lebens an mich gedrängt, ein „Nein“ nicht akzeptiert und meine Freundinnen belästigt haben, dann würden die wahrscheinlich ganz ähnliche Erziehungsprinzipien benennen. Die Feministin Bell Hooks sieht den Schlüssel zur Veränderung von Männern bei den Müttern. Erst wenn die aufhörten, ihren Söhnen das Patriarchat beizubringen, könne wahrer Wandel entstehen.

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Ich bin also in der Verantwortung. Ich glaube, wer heute einen Jungen feministisch erziehen will, hat es schwerer als die Mütter unserer Vorgängergeneration. Die kolossale Verunsicherung durch Erziehungsratgeber, Social Media und verschiedene ideologische Ansätze gilt insbesondere für die Jungserziehung. Manchmal habe ich das Gefühl, dass wir Großstädterinnen uns so viel darauf einbilden, dass wir unseren Jungs erlauben, Glitzernagellack zu tragen, dass wir darüber den Rest vergessen.

Sicher, auch ich kenne es, dieses Gefühl, dass mein Sohn ein Kleid sieht, es schön findet, und in mir der Kampf beginnt zwischen meiner progressiven Seele und der Angst, mein Kind könnte gemobbt werden. Auch ich kenne den Blick der Schuhverkäuferin, die versucht, meinen Sohn wegzulotsen von den pinken Schuhen, die ihn begeistern, hin zu den blauen. Aber ich glaube, das sind Nebenschauplätze.

Ich glaube nicht an genderneutrale Erziehung. Ich wurschtele mich irgendwo zwischen nature und nurture durch. Natürlich glaube ich an die Macht der Sozialisierung, aber ich lasse ihn mit den Plastikpistolen spielen, ich bewundere seine Lego-Flieger, ich sage: Aber niemals auf Menschen zielen, auch nicht im Spaß.

2022 geschahen zwei Dinge, die das Verhältnis zu meinem geliebten Sohn, die Art, wie ich über ihn nachdenke, umwälzten. Im Februar griff Russland die Ukraine an, und im April wurde meine Tochter geboren. Ich kann nicht sagen, was die Geburt meines kleinen Mädchens mit mir machte, aber es war viel: einen Sohn und eine Tochter zu haben, erscheint mir als ein großes Glück. Seit sie da ist, spüre ich, dass er es manchmal schwer hat: als Erstgeborener, aber irgendwie auch als Junge. Wenn meine Tochter ein Kleidchen anzieht, quietschen wir los – ich mache komplett den ganzen Scheiß mit ihr, von dem ich eigentlich weiß, dass er nicht gut für uns Frauen ist. Vielleicht auch, weil ich ihn selbst als Tochter von eher genderunkonventionellen Eltern gefühlt zu wenig hatte. Zu wenig Kleidchen, zu wenig rosa, zu wenig Prinzessin.

Ich hätte Angst, was die anderen sagen. Dass er verletzt wird

Ich erzähle meiner Tochter bestimmt 12-mal täglich, wie schön ich sie finde, bei ihm ist es dreimal. Ich nenne sie „Mäuschen“ und „mein Baby“, obwohl sie schon zwei ist, er war früher „Mops“ oder „Bär“, jetzt ist er „großer Junge“. Studien zeigen, dass die Tonlage von Menschen, wenn sie mit Babys reden, höher ist, wenn ihnen gesagt wird, das Baby sei ein Mädchen. Mir scheint, meine Stimme ist zwei Oktaven höher, wenn ich mit meiner Tochter spreche.

Gleichzeitig hat die Tochter mehr Freiheiten: Zu Fasching als Ash, der (männliche) Trainer des Pokémons Pikachú? You go girl. Nächsten Fasching will sie, das hat sie schon gesagt, als Feuerwehrmann Sam gehen, das Fasching darauf als „Cat Noir“, das ist so eine Art Katzenjungen-Superheld aus dem ziemlich fragwürdigen, weil irgendwie total sexualisierten Comic „Ladybug“, sie kennt das aus Comicheften, die ich ihr kaufe, weil sie sie toll findet. Ihr aktueller Berufswunsch ist Bauarbeiterin.

Er aber hat sich bisher nicht als Eiskönigin Elsa oder Pippi Langstrumpf verkleiden wollen, aber es wäre auch etwas anderes. Natürlich würde ich nicht mit der Wimper zucken, aber ich hätte Angst, was die anderen sagen. Angst, dass er verletzt wird. Ich bin nicht so abgebrüht progressiv, wie ich es gerne wäre. Wenn sie neue Haarspangen bekommt, sagt er manchmal: „Ich will auch!“ und natürlich bekommt er dann welche, aber es fühlt sich anders an, und außerdem sind seine Haare zu kurz für richtige Frisuren. In solchen Momenten tut er mir unendlich leid, ich habe dann das Gefühl, den Jungs wurden Privilegien genommen – ihr Wildsein unter Generalverdacht –, und sie haben nichts dafür bekommen: So richtig entspannt ist das Leben als „Prinzessinnenjunge“ spätestens in der Grundschule nicht mehr.

Im Glauben an Gerechtigkeit vergreifen wir Mütter uns manchmal im Ton

Mein Mitleid ist paradox, denn am Ende ist es natürlich sie, die auf ihr Aussehen reduziert wird, sich vielleicht ein Leben lang an unserem Kleidchen-Gequietsche abarbeiten muss. Er ist es, der in Ruhe gelassen, der vor allem an seinen Handlungen gemessen wird. Aber mir scheint es doch, als seien für ihn zumindest ein paar Hürden hinzugekommen: Jungs gelten als Bildungsverlierer, leiden häufiger an ADHS, Autismus oder Lese-/Rechtschreibschwächen. Ich glaube, im Versuch, Gerechtigkeit herzustellen, vergreifen wir Mütter uns manchmal im Ton, sind unnötig hart mit Jungs, wo wir doch gerade weich sein müssten.

Wir schreiben das Jahr 2025, mein Sohn wird nächstes Jahr sechs, wir müssen ihn bald für die Schule anmelden. Ich habe gerade die Netflix-Miniserie „Adolescence“ gesehen, in der ein behüteter 13-Jähriger seine Mitschülerin ersticht. Die britische Serie beruht auf einem wahren Fall, und sie gibt verstörende Einblicke in den Schulalltag: versprengte, unregierbare, durch Social Media empathielos gewordene Kinder, knuffige Jungs, die Andrew Tate anhängen und der Ermordeten mit dem Messer „nur ein bisschen Angst“ machen wollten. Ich empfinde große Angst vor dieser veränderten Welt da draußen.

Für meine beiden Kinder aber habe ich unterschiedliche Ängste. In Bezug auf sie habe ich vor allem die Angst, sie könnte in den Sog falscher Körperbilder geraten. In Bezug auf ihn habe ich Angst, dass er in den Sog maskulistischer Ideologien gerät. 2038 wird er 18 Jahre alt. Vielleicht ist bis dahin sowieso alles obsolet. Ich glaube, dass mittlerweile meine größte, vielleicht meine einzige wahre Angst, die ist: Dass er kämpfen wollen würde.

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