Neue Familien: Zwei Mütter & drei Kinder

Familie tom Dieck/Pietz
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Ruth tom Dieck (li) und Birgit Pietz haben ihren Leben und ihre Kinder zusammen gelegt - mit beneidenswertem Selbstbewusstsein.

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Neben dem Wohnzimmertisch steht eine Pappmaché-Figur mit Trenchcoat und Hut. "Das ist unser Mann im Haus," erläutert Lena die Funktion des Herrn auf dem Hocker, kaut ihren Käsekuchen und grinst. Damit ist für die Achtjährige eigentlich alles gesagt: Daß es bei ihnen keinen Mann gibt, weil ihre Mutter Ruth mit einer Frau zusammenlebt. Und daß das okay ist. Max, Lenas vier Jahre älterer Bruder, hatte anfangs das Problem, daß seine Schulfreundinnen ihm nicht glaubten, als er von seiner Frauen-Familie erzählte: Zwei Frauen als Paar und mit Kindern - das könne es ja gar nicht geben. "Ich hab' denen dann gesagt: Ihr könnt gern zu mir nach Hause kommen und nachsehen." Damit waren die anderen überzeugt. Fabian, der Sohn von Ruths Lebensgefährtin Birgit, sorgte schon im Hort für Überraschung: Als die Erzieherin von den verschiedenen Familienformen erzählte, erwähnte sie auch Männer- und Frauenpaare. "Wie meine Mami und Ruth," platzte Fabian offenherzig heraus. Mit diesem Diskussionsbeitrag hatte er seine Familie kurz und schmerzlos geoutet. - Vier Jahre war es da her, daß Ruth tom Dieck, 39, und Birgit Pietz, 33, ihre Haushalte zusammenlegten und zusammen eine Familie gründeten: Zwei Mütter und drei Kinder.
Rund vier Millionen homosexuelle Frauen und Männer ziehen weltweit acht bis zehn Millionen Kinder groß, vermutet die internationale Vereinigung schwuler und lesbischer Eltern. Einer anderen Schätzung zufolge soll es allein in den USA schon vier Millionen Homo-Familien geben. Das ist gut möglich, denn in einigen amerikanischen Bundesstaaten sind die Bedingungen für's "Kinderkriegen" auch unter diesen Umständen günstig: In Kalifornien dürfen gleichgeschlechtliche Paare Kinder adoptieren, Samenbanken und Ärzte dürfen auch Homo-Paaren ihre Hilfe zur Verfügung stellen, wenn sie sich ein Kind via künstliche Befruchtung wünschen. In Deutschland dürfte der häufigste Weg zu lesbischer Elternschaft der sein, den auch Birgit Pietz und Ruth tom Dieck eingeschlagen haben: Beide Frauen haben ihre Kinder auf ganz "konventionelle" Art und Weise, sprich: in einer Ehe, bekommen und erst nach einigen Jahren entdeckt, daß sie auch das eigene Geschlecht ziemlich spannend finden. Nach ihrer Scheidung lernten sie sich in einer Gruppe für lesbische Mütter kennen und verliebten sich ineinander. Schon drei Monate später wurde der gemeinsame Haushalt gegründet. Die 33jährige Media-Planerin zog mit Fabian in das große Einfamilienhaus in Düsseldorf, in dem Ruth tom Dieck mit Max und Lena nach der Scheidung geblieben waren.
In Sachen Sorgerecht haben sich die Mütter mit den Vätern gütlich einigen können. Glücklicherweise. Denn - Toleranz hin, gesellschaftlicher Wandel her - wenn Eltern sich um das Sorgerecht streiten, ist in den Augen der Richter eine homosexuelle Beziehung offenbar nach wie vor eher ungünstig. Denn die könne das Wohl des Kindes gefährden. Die Liste der Urteile mit dieser Argumentation ist lang ... Es gilt der Grundsatz: In dubio pro hetero. Zwei lesbische Frauen erziehen Kinder - da erscheinen den Vertretern Justitias wohl immer noch Bilder von verbohrten Mannweibern, die ihre Sprößlinge radikal von der Männerwelt isolieren, die Töchter zu kleinen (natürlich ebenfalls lesbischen) Amazonen und die Söhne zu verschüchterten Softies erziehen, die sich ihres Geschlechts schämen. Es ist eben doch irgendwie nicht gut, wenn da das männliche Vorbild fehlt.
"Darüber haben wir uns natürlich auch Gedanken gemacht," gesteht Birgit Pietz. Ihrer Ansicht nach haben die Kinder aber genug männliche Identifikationsfiguren. Ihre Väter, die sie regelmäßig sehen, ihre Lehrer und Freunde. Und wofür in anderen Familien traditionellerweise der Papa zuständig ist - Fußballspielen, Drachen steigen lassen oder Löcher bohren - das ist hier ganz selbstverständlich Sache der beiden Mütter. Genauso wie der Haushalt und das Geldverdienen. Das ist für Lena, Max und Fabian natürlich erklärungsbedürftig, denn bei den Eltern ihrer Freundinnen läuft das ganz anders. "Wir reden mit den Kindern auch über Männer- und Frauenrollen, erklärt Ruth tom Dieck und beruhigt zugleich: "Wir vermitteln dabei bestimmt keine 'Schwanz-ab-Mentalität', sondern einfach ein kritisches Männerbild."
Welche der beiden Frauen die Adressatin der kindlichen Anliegen ist, das ist keine Frage des Blutes, sondern hängt in erster Linie davon ab, wer gerade zu Hause ist. Birgit Pietz, die Werbefachfrau, arbeitet halbtags, Ruth tom Dieck, die Kinderärztin, hat wegen ihres Schichtdienstes manchmal auch ganze Tage frei. Ob es Dinge gibt, bei denen sie lieber die eine oder die andere fragen? Max und Lena haben sichtlich Zweifel, ob sie ihre Strategie preisgeben sollen. Sie tun es: "Birgit erlaubt mehr Fernsehen gucken, und Mama erlaubt mehr Süßigkeiten."
Als Birgit Pietz und Ruth tom Dieck vor vier Jahren die Entscheidung für ihre Beziehung und den neuen Fünfer-Haushalt trafen, mußten sie sich natürlich sehr bald mit der Frage befassen: Wie sag' ich's meinem Kinde? Sie bedienten sich dabei eines kindgerechten Hilfsmittels: Playmobil. Wenn zum Beispiel in einem frischgebauten Haus "Vater, Mutter, Kind" angesiedelt werden sollte, intervenierten die Doppel-Mütter behutsam: Wir haben dann öfter gesagt: Da könnten ja jetzt auch mal zwei Männer oder zwei Frauen wohnen."
Was innerhalb der vier Wände relativ leicht mit kleinen Plastikfiguren zu bewerkstelligen war, mußte draußen hart erkämpft werden. Zum Beispiel bei Birgit Pietz' Eltern, die sich ihren Enkel Fabian offenbar beim besten Willen nicht in der Obhut eines lesbischen Paares vorstellen konnten. Sie fanden, Fabian solle bei ihnen bleiben, bis sein Vater eine neue Frau gefunden habe.
Mittlerweile hat sich die Lage etwas entspannt. Birgit kann ihre neue Frau und alle drei Kinder zu Festen mitbringen, und zu Weihnachten gibt's auch Geschenke. Ganz ausgetragen ist die ganze Sache aber wohl nicht. Auch die Tatsache, daß für das finanzielle Wohl des Enkels bestens gesorgt sein würde, weil Birgit Pietz und Ruth tom Dieck als Mediaplanerin und Kinderärztin gemeinsam über ein überdurchschnittliches Einkommen verfügen, konnte die Großeltern nicht so recht überzeugen.
Obwohl beiden Frauen klar war, daß das erst der Anfang war, waren sie sich in einem Punkt völlig einig: Das Ganze kann nur funktionieren, wenn frau sich nicht versteckt. Diese Strategie hat sich offenbar bewährt. Die Schul- und Spielfreundinnen von Max, Lena und Fabian wissen alle, daß es bei ihnen keinen Mann im Haus gibt. Und wie es aussieht, wenn sich zwei Frauen umarmen oder küssen, wissen sie auch - von Spielnachmittagen und vom Kindergeburtstag. Ein einziges Mal hat dieser offene Umgang zu einem Konflikt geführt: Birgit Pietz, Fabian und einer seiner Freunde bauten auf der Terrasse mit Ton, als Ruth nach Hause kam und ihre Freundin mit einem Kuß begrüßte. "Ihh, zwei Frauen, die sich küssen!" kommentierte der Junge und ward fortan nicht mehr gesehen. Es war derselbe Junge, der sich im Kindergarten mal die Fingernägel angemalt hatte -was seine Mutter zu der entsetzten Bemerkung veranlaßte: "Was hast du denn da gemacht? Du willst doch wohl nicht andersrum sein?" Homophobie für Anfänger.
Doch ist es bisher bei diesem einen Fall geblieben. Kinder wie Eltern nehmen das Damen-Doppel frag- und kommentarlos hin. "Die fragen nicht nach," erzählt der sehr ruhig und besonnen wirkende Max. Warum die ansonsten so typische kindliche Neugier in diesem Fall verstummt, weiß er nicht so genau. "Ich denke, sie fragen nicht, weil sie das komisch finden. Aber sie akzeptieren es eben auch." Für die achtjährige Lena, die im Schneidersitz auf dem Sofa hockt und das Gespräch der "Großen" aufmerksam verfolgt, gibt es zu diesem Thema nicht viel zu sagen. "Die wissen es alle." Punkt. Damit ist die Sache für das Mädchen erledigt.
Lena und Fabian gehen noch zur Grundschule, Max geht ans Gymnasium. In den Schulen sind die beiden Mütter so manches mal Initialzündung in Sachen Toleranz. Als Max im siebten Schuljahr zum ersten Mal Sexualkundeunterricht bekommen sollte, ging seine Mutter am Elternsprechtag zur Biologielehrerin. "Ich hab' sie gefragt, ob denn auch das Thema Homosexualität angesprochen würde. Ich lebte mit meiner Freundin zusammen, und mir sei das sehr wichtig. Die Lehrerin zeigte sich keinesfalls unangenehm berührt, sondern dankbar für die Anregung: "Toll, daß Sie das ansprechen!" In Niedersachsen beschloß das Landesparlament im September letzten Jahres, daß den Schülerinnen Homosexualität als gleichberechtigte Lebensform vermittelt werden solle. Nun arbeitet das Hannoveraner Kultusministerium an "neuen Richtlinien" für den Biologie- und den Sozialkundeunterricht.
Der Wunsch nach Gleichbehandlung hat für Familien mit zwei Müttern oder zwei Vätern aber nicht nur eine soziale, sondern auch eine materielle Komponente: Sie werden, was finanzielle Dinge anbelangt, nicht als "richtige" Familie anerkannt - weder vom Finanzamt in Form eines Steuersplittings noch im Schwimmbad mit Familienkarte: Lesbische Eltern gelten - so wie alle Eltern ohne Trauschein - als Alleinerziehende. Birgit Pietz und Ruth tom Dieck versuchen, gegenzusteuern. Zum Beispiel an der Zoo-Kasse, wo die Kassiererin ihnen die Familiekarte verweigert oder im Turnverein und Kinderhort, die normalerweise das zweite Kind einer Familie umsonst aufnehmen. Bisher ohne Erfolg: Niemand mag den zwei Müttern mit Kindern Familienrabatt gewähren. Trotzdem fragt Birgit Pietz bei jeder Versicherung und an jeder Kasse immer wieder nach - aus Prinzip.
Besonders durchschlagend ist die Wirkung des fehlenden Familienstatus und -rechts dann, wenn die Lebensgefährtin bestimmten Entscheidungen für das Kind ihrer Freundin treffen muß. Das kann in liberaler Umgebung zwar noch funktionieren, solange es nur um einen Arztbesuch oder um einen Elternabend geht. Wenn aber bei einem Unfall im Krankenhaus eine schnelle Entscheidung gefragt, die Mutter aber beim besten Willen nicht greifbar ist, dann hat die "Nur"-Freundin keinerlei Befugnisse mehr. Selbst dann nicht, wenn die Mutter ihre Lebensgefährtin vorher in weiser Voraussicht bevollmächtigt hat.
Birgit Pietz und Ruth tom Dieck planen nun, diese Rechte, die ihnen nicht gewährt werden, weil sie keine klassische "Keimzelle des Staates" sind, einzuklagen. Übrigens hatten die beiden immer mal wieder überlegt, noch ein viertes Kind zu bekommen (ein Wunsch, den sie inzwischen wieder aufgegeben haben) - per Insemination. Diese recht einfache Art der künstlichen Befruchtung - frau führt sich den Samen selbst mit einer Kanüle in die Scheide ein - ist in Deutschland auch lesbisch lebenden, unverheirateten Frauen solange erlaubt, wie kein Arzt und keine Samenbank daran beteiligt sind. Die dürfen nämlich nur bei "richtigen" Eheleuten helfen. Ein Mann-Frau-Paar ist auch bei Adoption und Pflegschaft klar im Vorteil. Nur Letzteres scheint lesbischen Paaren zumindest ab und zu zu gelingen.
Zum Beispiel Sabine und Tine, die in Witten mit vier Kindern sowie sechs Katzen und einer Dogge als kleine Großfamilie leben. Sie durften als lesbisches Paar ganz offiziell ein Kind in Pflege nehmen. Aus Berlin-Neukölln ist ein Fall bekannt, in dem ein Frauenpaar zwei Kinder einer drogenabhängigen Mutter in Pflege nehmen durfte, sogar das Jugendamt im schwäbischen Heimatort der beiden Frauen spielte mit. Ausschlaggebend war allerdings, daß die Frauen Mutter und Kinder kannten und sich massiv für die Kinder eingesetzt hatten. Das Jugendamt Berlin-Neukölln, das an der Vermittlung beteiligt war, erklärte, daß eine Pflegschaft bei lesbischen Paaren generell kein Problem sei. Gänzlich ausgeschlossen scheint auch eine Adoption nicht. "Es ist durchaus möglich, daß sich ein Beamter vor Ort für ein gleichgeschlechtliches Paar entscheidet," erklärt Matthias Münning vom Landesjugendamt in Münster. Er findet: "Man müßte dafür sorgen, daß Vorurteile abgebaut werden." Die Familie von Ruth, Birgit, Lena, Max und Fabian wäre da ein gutes Anschauungsobjekt.
Chantal Louis, EMMA 3/1994

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