Prägt das Gehirn uns - oder wir das Gehirn?

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Nicht nur die Vorstellung, Männer und Frauen hätten unterschied­liche Gehirne, ist falsch. Auch die Idee, unser Gehirn sei irgendwann ausgereift und alles fest verdrahtet, stimmt nicht.

Man weiß, dass der Fötus schon lernt, während sein Gehirn noch in rasantem Tempo wächst. In der zweiten Schwangerschaftshälfte wird zum Beispiel die erste „Landkarte“ des kleinen Körpers in seinem Gehirn angelegt. Und zwar aktiv. „Während das Baby um sich tritt, Arme und Beine anzieht und streckt, sein Gesicht und seine Beine berührt und an die Uteruswände stößt, verschafft es sich selbst eine Fülle somatosensorischer Reize.“ So beschreibt es die amerikanische Neurobiologin Lise Eliot in ihrem Buch „Was geht da drinnen vor?“. Sie beschreibt darin detailliert die Hirnentwicklung in den ersten fünf ­Lebensjahren.

Man beachte: Schon bevor der Mensch geboren wird, nimmt er seine Umwelt wahr und interagiert mit ihr. Da läuft zwar auch ein biologisches Programm ab, aber es wird von Anfang an durch Erfahrung modifiziert.

Was ist aber mit den Einflüssen von Hormonen während der Embryonalentwicklung? Vor allem das Testosteron soll doch so prägend sein – und das ­Gehirn auf „männliches“ Verhalten programmieren.

Es stimmt, dass es dazu viele Tierversuche gibt. Vor allem an Ratten und anderen Nagetieren ist ein hormoneller Einfluss gut belegt – auch deshalb, weil er bei ihnen erst um die Geburt herum stattfindet und sich deshalb gut untersuchen lässt. Aber: „Jungen sind keine Ratten“, schreibt Lise Eliot in ihrem zweiten Buch „Wie verschieden sind sie?“, das sich speziell mit der Hirnentwicklung von Mädchen und Jungen befasst. Schon bei Affen ist der Hormoneinfluss geringer ausgeprägt als bei Nagern – und bei Menschen hat man nur in extremen Fällen (etwa bei Mädchen mit einer angeborenen Testosteron-Überproduktion) Auffälligkeiten im Verhalten gefunden.

Meist spielt die Umwelt eine viel größere Rolle. So fanden Wissenschaftler etwa eine Vorliebe für Autos und anderes „Jungenspielzeug“ bei Mädchen, die einen männlichen Zwillingsbruder hatten. Sie schrieben das zunächst dem Testosteron zu, das der Bruder im Mutterleib produziert hatte und von dem die Schwester etwas abbekam. Bis zu dem Zeitpunkt, als herauskam, dass eine andere Gruppe von Mädchen noch viel lieber und häufiger mit Autos spielt: diejenigen mit älteren Brüdern!

Man findet in Eliots Büchern viele weitere Beispiele, die zeigen, dass Unterschiede, die einst biologisch gedeutet wurden, heute als klar umweltbedingt gesehen werden. „Geschlechtsunterschiede beginnen als kleine Samen, gepflanzt durch Gene und Hormone, aber genährt durch soziales Lernen“, schreibt sie. „Hinzu kommen die Identifikation mit einem Geschlecht und der starke Drang von Kindern, sich konform zu verhalten.“

Und was den Auf- und Abbau von Hirnsubstanz betrifft, so geht er vermutlich ein Leben lang weiter. In der Regel wird Hirnsubstanz auf- und nicht abgebaut, wenn Menschen etwas Neues ­lernen, denn das Gehirn bildet neue ­Verknüpfungen (Synapsen) zwischen Nervenzellen. Die irische Hirnforscherin Eleanor Maguire hat das sehr schön an Londoner Taxifahrern gezeigt, die für eine Prüfung 25.000 Straßen auswendig lernen mussten.

Doch was passiert eigentlich im Gehirn von Frauen, die ein Baby bekommen? Kurz vor Weihnachten 2016 wurde diese Frage erstmals systematisch beantwortet. Am 19. Dezember erschien auf der Website von Nature Neuroscience, einer angesehenen Fachzeitschrift für die Neurowissenschaften, die Studie eines spanisch-holländischen Forscherteams mit der Überschrift: „Schwangerschaft führt zu lang anhaltenden Veränderungen der menschlichen Hirnstruktur.“

Die ForscherInnen hatten – unter anderem mit Hilfe einer Kinderwunsch-Klinik – nach Frauen gesucht, die Mutter werden wollten, und bereit waren, sich vor und nach der geplanten Schwangerschaft in einen Hirnscanner zu legen. Bei 25 jungen Müttern gelang der Vorher-Nachher-Vergleich. Und die Ergebnisse waren schockierend deutlich: Bei allen 25 Frauen, die ein Kind bekommen hatten, war das Gehirn geschrumpft.

Nicht flächendeckend, sondern vorwiegend in Regionen entlang der Mittellinie, die Hirnforscher mit sozialen Fähigkeiten in Verbindung bringen: etwa Gesichter erkennen und sich in andere hineinversetzen. Gelitten hatte auch der Hippocampus, der für das Gedächtnis wichtig ist. Im Gegensatz zu den „sozialen“ Regionen erholte er sich aber wieder, wie eine Nachuntersuchung nach zwei Jahren zeigte. Die anderen Veränderungen waren von Dauer. Und es war egal, ob die Frauen auf natürliche Weise oder durch künstliche Befruchtung schwanger geworden waren.

Schockierender noch als die Befunde aus dem Scanner war die Art, wie das Autorenteam um Susanna Carmona von der Autonomen Universität Barcelona die Veränderungen deutete: Nicht etwa als Hinweis auf bisher übersehene neurologische Risiken einer Schwangerschaft. Nicht als Aufforderung, künftig bei Vorsorgeuntersuchungen genauer auf das Denkorgan der werdenden Mutter aufzupassen. Nein, sie spekulierten vielmehr, das „weibliche Gehirn durchlaufe während der Schwangerschaft eine weitere Reifung oder Spezialisierung des neuronalen Netzwerks, das dem sozialen Denken dient.“ Ganz so, als sei eine kinder­lose Frau noch nicht ganz ausgereift!

Die spanischen WissenschaftlerInnen glauben sogar, signifikante Hinweise gefunden zu haben, dass die Bindung an das neue Baby umso besser klappt, je stärker die sozialen Regionen bei der Mutter geschrumpft sind. Sie fragen nicht nach dem Preis, den eine Mutter für eine solche „Spezialisierung“ zahlt.

Und die Ursache sehen sie – man ahnt es schon – viel eher im „biologischen Prozess der Schwangerschaft als in den erfahrungsbedingten Veränderungen, die mit der nahenden Elternschaft verbunden sind“. Denn bei einer Kontrollgruppe kinderlos gebliebener Frauen waren in demselben Zeitraum keine Hirnveränderungen aufgetreten, ebenso wenig bei werdenden Vätern. Was verwundert, denn hormonelle Reaktionen und Verhaltensanpassungen sind bei den Papas-in-spe durchaus bekannt – und werden ihrer bewussten Vorbereitung auf die Elternrolle zugeschrieben. Bei der Mutter dagegen – alles Biologie?

Dass die erste, pionierhafte Untersuchung des Schwangeren-Gehirns ideologisch so zurückfällt, ist bedauerlich. Denn wenn es um die Gehirnentwicklung von Kindern und Jugendlichen geht, ist die Wissenschaft längst weiter. Beeindruckend, was man allein über das sich entwickelnde Gehirn ungeborener Kinder weiß – aus immer besseren ­Ultraschall-Untersuchungen, Kernspintomographien (die den Mutterleib durchdringen), aber auch raffinierten Verhaltensuntersuchungen bei Neugeborenen.

Es gibt aber mindestens zwei Phasen im Leben, in denen zunächst ein Zuviel an Synapsen aufgebaut wird, dem hernach ein allmählicher Abbau folgt: das Babyalter und die Pubertät. Der Abbau erfolgt nach dem Motto „Beseitigung bei Nichtgebrauch“. Er betrifft beide Geschlechter gleichermaßen und kann durchaus als Zeichen von Reifung und Spezialisierung gedeutet werden. Er geht aber immer auch mit dem Verlust von Fähigkeiten und kognitiven Möglichkeiten einher: So können Babys noch viel mehr unterschiedliche Laute unterscheiden als Kinder, die bereits eine Sprache gelernt haben, in denen manche Laute gar nicht vorkommen.

Was tun wir also unseren Gehirnen an, wenn wir uns rollenkonform wie Frauen verhalten und nicht auch wie Männer? Welche sozialen Fähigkeiten verlernen Schwangere, wenn sie sich nur auf ihr Baby konzentrieren? Das sind die Fragen, die wir uns wirklich stellen müssen.

Judith Rauch

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