Unbeliebt gemacht

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Seit ihrem medial spektakulären Einzug ins EU-Parlament im Juni 2004 war das Abgeordneten-Leben in Brüssel für Silvana Koch-Mehrin relativ unspektakulär verlaufen. Einmal, im Frühjahr 2005, schlugen die Wogen hoch – da hatte sich die heutige Mutter dreier Töchter im Stern mit nacktem Babybauch präsentiert und erklärt: "In Deutschland eine schwangere Politikerin zu sein, die Karriere machen will, ist ein Politikum." Aber ansonsten ging – abgesehen davon, dass im Zusammenhang mit der promovierten Volkswirtin die Adjektive "blond", "attraktiv" und "hochbeinig" recht häufig fielen – alles seinen gewohnten Gang.

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Damit war es ab dem 6. November 2008 vorbei. Plötzlich schäumten ihre EU-Kollegen von links bis rechts über die liberale Abgeordnete. Was war passiert? Silvana Koch-Mehrin hatte der Bunten ein Interview gegeben, in dem sie in deutlichen Worten beklagte, dass EU-Parlamentarier sowie deren Dolmetscher, Fahrer et cetera während der vier monatlichen Sitzungstage in Straßburg massenhaft die Dienste von Prostituierten in Anspruch nähmen. "Die Sitzungstage sind wie Ausflüge ins Landschulheim – nach dem Motto: Hier sieht mich keiner, hier kann ich machen, was ich will", sagte sie. Folge: "Die Straßen zum Parlament sind voll von Prostituierten. Man kann sich dem Anblick gar nicht entziehen."

Konsequent schloss sich die deutsche EU-Parlamentarierin einem Antrag von 37 skandinavischen Abgeordneten – Frauen und Männern aller Fraktionen – an, die fordern: EU-Angehörige dürfen nur in Hotels absteigen, die keine Prostituierten vermitteln oder bei sich dulden. Eine Regel, die für den Nordischen Rat (eine Art skandinavisches Parlament) eine Selbstverständlichkeit ist. In Schweden, Norwegen und Finnland gilt Prostitution als "Verstoß gegen die Menschenwürde" und Freier werden bestraft.

Koch-Mehrins Freierschelte hatte Folgen. Stufe 1: Sie habe die Abgeordneten "beschmutzt und beleidigt" wetterte der konservative Franzose Joseph Daul. Und sein grüner Kollege Cohn-Bendit verspottete die Anti-Prostitutions-Initiative als "dümmliche Sauberkeitskampagne", die den "Fantasien von Frau Koch-Mehrin" entsprungen sei. Auf der Sitzung der EU-Fraktionsvorsitzenden am 20. November wurde die Kritik von Koch-Mehrin gar auf Platz 1 der Tagesordnung gesetzt und die Nestbeschmutzerin zu einer Stellungnahme aufgefordert.

Also schrieb Koch-Mehrin am 29. November einen Brief an alle Abgeordneten und nannte die Dinge noch einmal beim Namen. Zum Beispiel die neun Strich-Straßen um das EU-Parlament, gegen die sich bereits eine Bürgerinitiative gegründet hat. Und die Straßburger Prostituierten-Hilfsorganisation "Mouvement du Nid", die "auf die Tatsache aufmerksam macht, dass ein nicht unwesentlicher Anteil der Prostituierten zu ihrer Tätigkeit gezwungen wird". Könnte es sein, dass mann der liberalen Fraktionschefin dies nachgetragen hat?

Stufe 2: Pünktlich zur Europawahl am 7. Juni 2009 wurden plötzlich die "Anwesenheitszeiten" von Koch-Mehrin im EU-Parlament öffentlich debattiert, die vier Jahre lang keinen Menschen interessiert hatten. "Arbeitsscheu" sei sie und eine "Schauspielerin", gaben Parlamentarier jetzt den Medien zu Protokoll. Die FDP-Spitzenkandidatin holte trotz dieser Kampagne elf Prozent der Stimmen, fünf Prozent mehr als 2004.

Folgt Stufe 3: Als am 14. Juli die 14 VizepräsidentInnen des EU-Parlaments gewählt werden sollten, wird Koch-Mehrin erst im dritten Wahlgang und mit dem mit Abstand schlechtesten Ergebnis gewählt. Diesmal allerdings sprach die FAZ deutlich aus, was die Abneigung hervorgerufen haben könnte: "Verübelt" würden Koch-Mehrin ihre "Äußerungen zum lockeren Lebenswandel während der Plenarsitzungen in Straßburg". "Ich finde es bemerkenswert, dass das Benennen der Tatsachen stärker angegriffen wird als die Tatsachen selbst", sagt Silvana Koch-Mehrin.

Seit sie das Treiben in Straßburg öffentlich gemacht hat, sei "bei ihnen zu Hause die Hölle los", klagten EU-Parlamentarier bei den Liberalen über deren Chefin. Dabei ist im französischen Straßburg Prostitution ohnehin verboten. "Ich habe also lediglich eine Selbstverständlichkeit eingefordert", sagt Koch-Mehrin. "Das Parlament müsste nur eine klare Haltung haben und sagen, dass es die Missachtung des Verbots nicht in Ordnung findet."

Diese Absicht scheinen die EU-Parlamentarier nicht zu haben. Die 37 skandinavischen Abgeordneten, die ihren Antrag vor einem Jahr, nämlich am 25. September 2008 gestellt hatten, haben bis heute keine Antwort bekommen. Und Silvana Koch-Mehrin? Die lässt sich nicht einschüchtern. Für Anfang Dezember plant die EU-Abgeordnete gemeinsam mit Kolleginnen verschiedener Fraktionen und Nationen im EU-Parlament einen Informationstag zum Thema: Prostitution.

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