Luise Pusch: Gegen das Schweigen

Luise F. Pusch als Jugendliche: "Ich ließ mir nichts anmerken."
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Kurz vor Beginn des neuen Schuljahrs erfuhr ich, dass die Schule beschlossen hatte, Charlotte könne eine Klasse überspringen, sie sei ihren Mitschülerinnen einfach zu weit voraus. Dieser Beschluss traf mich gleich dreifach: Erstens verlor ich eine bewunderte und interessante Freundin. Zweitens war damit amtlich festgestellt, dass ich dümmer war als sie. Natürlich auch alle anderen in der Klasse, 48 an der Zahl, aber denen war das egal. Drittens hatte ich mich in Charlotte verliebt.

Es war eine Besessenheit, unter der ich litt. Als sie endlich, etwa sieben Jahre später, aufhörte, weil ich mich in Ilse verliebt hatte, war ich ungeheuer erleichtert. Endlich kreisten nicht mehr alle meine Gedanken nur um Charlotte.

Charlotte entschwand also in höhere Sphären, und ich blieb am Boden zurück. Wir wollten aber weiter Freundinnen bleiben, oder Charlottes Mutter wollte, dass wir Freundinnen blieben oder dass das arme, aber vielversprechende Mädchen nun nicht treulos fallengelassen würde. Sie schlug vor, ich sollte einmal pro Woche nach der Schule zu ihnen kommen, mit ihnen zu Mittag essen, den Nachmittag mit Charlotte verbringen und nach dem Abendessen wieder nach Hause fahren. Falls es meiner Mutter recht wäre. Es war ihr recht, aber nach einiger Zeit nicht mehr so sehr. Sie spürte, dass ich mich unter dem Einfluss der wohlhabenden Familie Frey veränderte, dass ich Vergleiche anstellte und mich ihr entfremdete.

Als „Freytag“ etablierte sich schon bald der Freitag. In den Pausen trafen wir uns nur noch zufällig; ich verging vor Eifersucht auf Charlottes neue Freundinnen, ließ mir aber nichts anmerken. Freitags wartete ich nach Schulschluss am Fahrradständer auf sie, und wenn sie dann kam, fuhren wir gemeinsam zu ihr nach Hause, wo Frau Frey schon den Tisch gedeckt hatte. Das Essen war immer sehr lecker, alles war vornehm und geschmackvoll, eben ein paar Klassen besser als bei mir zu Hause. Ich genoss all die Freundlichkeit und Verwöhnung, hatte aber das nagende Gefühl, nichts zurückgeben zu können, was diese Wohltaten gerechtfertigt hätte. Ich kam mir langweilig und unergiebig vor – und unterzog mich zu Hause einem strengen Bildungsprogramm an den sechs Nicht-Freytagen.

Was in dieser Familie vor allem zählte, war Literatur, genauer: Gegenwartsliteratur. Frau Frey las sehr viel und sprach mit ihrer Tochter darüber wie mit einer Erwachsenen. Ich hatte von den Büchern, über die sie sprachen, noch nie etwas gehört. Der Vater, obwohl er eine Literaturzeitschrift herausgab, war mehr an Musik interessiert. Ihm verdanke ich mein zweitwichtigstes Bildungserlebnis jener Zeit: den Zugang zu klassischer Musik. Ich war fasziniert von der Kultiviertheit der Familie, fühlte mich aber dem hohen Anspruch nicht gewachsen und war die ganze Zeit äußerst angespannt, ohne jedoch zu verstehen, wie mir eigentlich geschah.

Bald spielte sich jeden Freitag am Fahrradständer ein Drama ab, von dem niemand etwas bemerkte außer mir. Ich wartete auf Charlotte, damit wir gemeinsam zu ihr nach Hause fahren konnten. Manchmal kam sie nicht, war vielleicht schon allein losgefahren. Ich wartete noch eine Weile und fuhr dann nach Hause, zutiefst verletzt und enttäuscht. Ich war überzeugt davon, dass die Familie mich gerne losgewesen wäre, weil ich langweilig war und unter ihrem Niveau, dass sie es aber nicht fertigbrachten, mir das ins Gesicht zu sagen. Und so wollte ich ihnen helfen, mich loszuwerden, indem ich die unausgesprochenen Hinweise entschlüsselte und mich wortlos zurückzog, ohne Theater zu machen und sie zu Grobheiten zu zwingen.
Wie das meiste im damaligen Lesbenleben spielte sich auch diese Quälerei weitgehend „unter der Oberfläche“ ab und wurde von fast niemandem bemerkt. Meine Mutter fragte mich nicht: „Wieso bist du denn heute nicht bei Freys?“ Und auch Charlotte sagte am nächsten Freitag, an dem wir uns möglicherweise doch passend am Fahrradständer trafen, nicht etwa: „Warum bist du denn letzten Freitag nicht gekommen?“ Der Rest ihrer Familie stellte auch keine Fragen. Das, was für mich das Wichtigste im Leben war, war für alle anderen offenbar eine kleine, wenig beachtete Nebensache. Ob sie nun stattfand oder nicht, war nicht weiter wichtig.

Wie zum Trost für die Demütigung, dass ich nicht ausersehen war, eine Klasse zu überspringen, verlieh mir die Lehrer*konferenz den Preis für Töchter bedürftiger Familien mit guten schulischen Leistungen. Bedürftig war meine Mutter gewiss: Damals musste für das Gymnasium noch Schulgeld bezahlt werden, außerdem kosteten die neuen Bücher zu Anfang jedes neuen Schuljahrs ein Vermögen, das sie nur mit Mühe abstottern konnte. Ihr Stöhnen, wenn sie die Liste der Bücher sah, die wir brauchen würden, verursachte mir jedes Mal Schuldgefühle. Bei der Buchhandlung Thormann, wo wir immer unsere neuen Bücher kauften, stand sie jahrelang in der Kreide. Das Preisgeld war eigentlich gedacht für angemessene Bildungsmittel für die bedürftige, aber vielversprechende Preisträgerin. Meine Mutter setzte es gleich in Kohlen für den Winter um, nachdem Thormann bezahlt war. (…)

Manchmal gingen Charlotte und ich nachmittags zusammen ins Kino, meist in die Paul-Thöne-Halle. Wir sahen „La Belle et la Bête“ und „Orphée“ von Jean Cocteau mit Jean Marais und Maria Casarès und „Kinder des Olymp“, ebenfalls mit Casarès und dem erschütternden Jean-Louis Barrault.

Wir sahen uns aber auch einen russischen Film an, „Othello“, mit Sergej Bondartschuk und Irina Skobzewa. Diesen habe ich deshalb in besonders deutlicher Erinnerung, weil mich Desdemona/Skobzewa mit ihrer Unschuld und ihrem grausamen Tod zu Tränen rührte. Aber ich wollte mich um keinen Preis neben der ungerührt wirkenden Charlotte als Heulsuse blamieren. Es wurde in der Familie Frey so vieles als Kitsch verdammt – und wusste ich denn, ob dieser Film nicht einfach kitschig war und bloß „auf die Tränendrüsen drückte“? Also beherrschte ich mich für alle Fälle erstmal. Als ich Stunden später wieder zu Hause war, schluchzte ich haltlos, und sehr lange, um die arme Desdemona. Wie man sieht, machte ich mit der Beherrschung meiner Gefühle rasche Fortschritte; ich brachte sogar regelrechte Kunststücke wie diese Verschiebung eines Gefühlsausbruchs um mehrere Stunden zuwege. Nicht mehr lange, und die Beherrschung meiner Gefühle hatte sich automatisiert; ich wurde sie nun nicht mehr los. Ungefähr zehn Jahre lang, bis zu meinem 23. Lebensjahr, vergoss ich keine Träne mehr, obwohl mir oft genug zum Heulen zumute war.

Der Text ist ein Auszug aus: Luise F. Pusch: Gegen das Schweigen – Meine etwas andere Kindheit und Jugend. (AvivA)

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