Selfies mit den Taliban?

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In den Tagen nach der Einnahme Kabuls durch die Taliban berichtete mehr als ein Korrespondent von den Straßen der Stadt und staunte darüber, wie schnell man zu einer "überraschenden Normalität" zurückgekehrt war, mit Einkäufern und einem plötzlichen Gefühl der Ruhe in einem Ort, wo man zuvor ständig auf das nächste Selbstmordattentat gefasst war. Bei den Korrespondenten handelte es sich um Männer, die offenbar einen gravierenden Unterschied zu dem Kabul vor der Machtergreifung der Taliban nicht bemerkten: In ihren Videos waren überwiegend Männer zu sehen. Die meisten Frauen der Stadt hatten sich in ihre Häuser zurückgezogen, aus Angst.

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Afghanistan war schon vor der Machtübernahme durch die Taliban das Land, in dem man als Frau am schlechtesten lebte. Doch mit dem Versuch, Frauengesichter sogar von den Fernsehbildschirmen zu verbannen, rutschte das Land in neue Tiefen.

Es ist 120 Tage her, dass die Taliban den Mädchen den Zugang zu höherer Bildung verwehrt haben, und es gibt keinen Termin für eine Rückkehr zur High School.

Welche Botschaft sendet das an die neuen Machthaber Afghanistans?

Doch in den Wochen und Monaten unter der Kontrolle der Taliban schien der einzigartige Schatten, der auf das Leben der Frauen fiel, bei vielen männlichen Journalisten in Afghanistan oder ihren Redakteuren zu Hause nicht in vollem Umfang angekommen zu sein. Eine der führenden Zeitungen der USA brauchte vier Tage, um über die Ankündigung der Taliban zu berichten, Mädchen den Besuch weiterführender Schulen zu verbieten. Am 20. Jahrestag der Anschläge vom 11. September auf Amerika fragte sich ein prominenter männlicher Korrespondent in Kabul auf Twitter, ob "wir vielleicht heute damit beginnen können, zu heilen und voranzukommen". Die afghanischen Frauen fragten sich hingegen, ob sie jemals wieder studieren oder arbeiten oder überhaupt ihr Haus verlassen könnten.

Die spezifischen Einschränkungen für das Leben und die öffentliche Rolle der Frauen scheinen auch für viele der Diplomaten, UN-Beamten und Hilfsorganisationen, die wieder nach Kabul fliegen - allzu oft als Teil rein männlicher Delegationen - keine Priorität zu haben. Das Vereinigte Königreich schickte zwei Briten, um mit zwei Taliban-Männern über "die Rechte von Frauen und Mädchen" zu diskutieren, offenbar ohne sich um die Botschaft zu kümmern, die das an die neuen Machthaber Afghanistans sendet, die Frauen aus der Regierung und dem öffentlichen Raum ausschließen.

Die Vereinten Nationen ernannten einen Mann zum Leiter des UN-Frauenbüros in Kabul. Und als die Taliban das Verbot der Sekundarschulbildung für Mädchen einführten, gab die UN-Kinderhilfsorganisation Unicef eine Erklärung ab, in der sie zunächst die Wiedereinführung des Schulunterrichts nur für Jungen begrüßte, bevor sie sich "besorgt" über die Zukunft der Schulbildung von Mädchen äußerte.

Frauenrechte sind kein Nischenthema. Das ist eine Menschenrechtskrise!

Auch Männer aus der internationalen Gemeinschaft riefen dazu auf, den Taliban in Bezug auf ihre Rechte "Zeit zu geben" - als ob die Fähigkeit der Frauen, sich selbst zu ernähren und zu bilden, nur ein Druckmittel sei. Dies ging einher mit zu vielen Berichten, die den Eindruck erweckten, die Rechte der Frauen seien ein Nischenthema, nicht aber eine dringende Menschenrechtskrise.

Etwa drei Wochen nach dem Fall von Kabul überprüfte ich die Namen prominenter männlicher Korrespondenten, die in Afghanistan für Zeitungen auf beiden Seiten des Atlantiks arbeiteten. Ich konnte bei keinem von ihnen eine einzige eigenständige Geschichte über den systematischen Angriff auf die Rechte der Frauen finden, abgesehen von der Berichterstattung über die Proteste der Frauen.

Ihre Zeitungen brachten zwar Geschichten über die abrupte Beschneidung des Lebens von Frauen, aber sie wurden von Frauen geschrieben, die meist außerhalb des Landes lebten. Vielleicht wussten die Männer nichts davon, vielleicht waren sie desinteressiert.

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Die selektive Blindheit schien in den sozialen Medien durch eine Flut von Bildern von und mit Taliban-Kämpfern illustriert zu werden. "Halb ‚Komm her!‘, halb „Ich bringe dich um!“, lautete eine Bildunterschrift, mit der Frage, ob der junge Talib wohl versuche, "sexy oder furchteinflößend" auszusehen.

Ein anderer Kollege teilte kürzlich Bilder von sich, auf denen er im Wesentlichen als Talib gekleidet ist und den schwarzen Turban trägt, der von der Gruppierung geschätzt wird. Ein dritter, der bei einem großen internationalen Fernsehsender beschäftigt ist, postete ein Bild von seiner Kamera neben einer Taliban-Panzerfaust mit der Bemerkung: "Ich muss mein Equipment aufrüsten.“

Selfies mit den Taliban lösen bei Exil-Afghanen Wut und Verzweiflung aus

Es ist ein seltsamer Umgang mit den Fußsoldaten einer Regierung, zu deren Kriegsverbrechen unter anderem das Abschlachten von JournalistInnen gehört. Auch die jüngsten, gut dokumentierten Rechtsverletzungen einschließlich Vergeltungstötungen, Zwangsvertreibungen und Massakern an Minderheiten, gehen weit über die Kontrolle von Frauen hinaus. Würden Selfies mit den Truppen anderer repressiver Regierungen - von den chinesischen Sicherheitskräften in Xinjiang oder den iranischen Revolutionsgarden - auf die gleiche Weise gesehen werden?

Sicher, es ist dringend notwendig, die Taliban zu verstehen. Doch die visuell beeindruckenden Selfies mit den Taliban und die kuratierten Instagram-Feeds von jungen Kämpfern beim Spielen tragen mehr dazu bei, die Zahl der Likes und Follower zu erhöhen, als dass sie nennenswerte Erkenntnisse liefern. Bei vielen Afghanen zu Hause und im Exil aber lösen sie Wut und Verzweiflung aus.

Unter der finanziellen Katastrophe, die auf die Machtübernahme der Taliban folgt, werden die Frauen am meisten leiden. Männer werden vielleicht auf manuelle Arbeit oder den Verkauf ihrer Kinder reduziert, aber viele Frauen können überhaupt nicht arbeiten, und es sind immer die Mädchen, die verkauft werden.

Wenn die besondere Krise, mit der die afghanischen Frauen konfrontiert sind, nicht in den Mittelpunkt der Berichterstattung über Afghanistan gerückt wird und die Frauen nicht im Mittelpunkt der Verhandlungen über Hilfsgelder und den Zugang zur Hilfe stehen, werden sie und ganz Afghanistan einen noch höheren Preis zahlen müssen.

EMMA GRAHAM HARRISON

Der hier leicht gekürzte Text erschien zuerst im Guardian. Die Autorin berichtet seit 2009 über Afghanistan.

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