Frauen mitverantwortlich für die Bombe?
Die Atomphysikerin Lise Meitner hatte den Chemiker Otto Hahn 1934 zu den Versuchen überreden müssen, die letztlich zur Kernspaltung führten und ihm den Nobelpreis einbrachten: "Ich habe mehrere Wochen gebraucht, bis sich Otto dafür interessiert hat." Die Berliner Arbeitsgruppe beschoß das schwerste bekannte Element, das Uran, mit abgebremsten Neutronen. In Paris arbeitete die Forscherin Irene Joliot-Curie, die Tochter Marie Curies, zusammen mit ihrem Ehemann auf dem gleichen Gebiet. Die weltverändernde Entdeckung lag in der Luft. Die deutsche Chemikerin Ida Noddack-Tacke hatte im September 1934 bereits in diese Richtung gedacht. In der Zeitschrift "Angewandte Chemie" schrieb sie: "Es wäre denkbar, daß bei der Beschießung schwerer Kerne mit Neutronen diese Kerne in mehrere größere Bruchstücke zerfallen, die (...) nicht Nachbarn der bestrahlten Elemente sind." Doch sie hat ihre Idee weder konsequent weiterverfolgt noch durch Experimente überprüft.
Am Montag, 19. Dezember 1938, war es so weit. Otto Hahn und Fritz Straßmann untersuchten im Labor des Kaiser-Wilhelm- Instituts die Spaltprodukte ihrer Versuche und fanden - völlig unerwartet - Barium, ein Element mit dem halben Atomgewicht des Uran: der erste chemische Nachweis einer Kernspaltung. An diesem Winterabend vor fünfzig Jahren schrieb Hahn einen Brief nach Schweden: "Wir wissen selbst, daß es eigentlich nicht in Ba (= Barium) zerplatzen kann... Also überleg Dir mal, ob sich nicht irgendeine Möglichkeit ausdenken ließe. Falls Du irgend etwas vorschlagen könnest, das Du publizieren könntest, wäre es doch eine Arbeit zu dreien..."
Die Adressatin des Briefes und Dritte im Team, Lise Meitner, lebte seit fünf Monaten im schwedischen Exil. Die Jüdin hatte im Sommer 1938 aus Nazi-Deutschland fliehen müssen. Anfang des Jahres 1939 lieferte sie die physikalische Erklärung für das "Zerplatzen" des Urans. Sie berechnete die große Energiemenge, die diese Reaktion entfesselt. Um die neue Entdeckung zu beschreiben, wählte Lise Meitner den englischen Ausdruck "nuclear fission", übersetzt Kernspaltung.
Nicht nur die politischen Verhältnisse allein, auch ihr Geschlecht brachte Lise Meitner um die öffentliche Anerkennung ihres Anteils an dieser Entdeckung, die die Welt verändern sollte. Eine Frau konnte bestenfalls "Mitarbeiterin" sein, und war sie dazu noch Jüdin, vergaß man(n) sie besser schnell und ganz - bis heute. Im Deutschen Museum in München steht unter einer Vitrine der Tisch, den das Team Hahn-Meitner-Straßmann im Berliner Institut gemeinsam aufgebaut und an dem es jahrelang gemeinsam experimentiert hatte. Die Baupläne für die Meßgeräte hatte die Physikerin federführend entworfen. Ein Schild verkündet: "Arbeitstisch von Otto Hahn". Der Name Meitner taucht nirgends auf.
Im Jahre 1987 protestierte eine 17jährige Schülerin des Düsseldorfer Lise-Meitner-Gym-nasiums schriftlich gegen dieses Verschweigen. Aus dem Deutschen Museum antwortete dem Mädchen "mit freundlichen Grüßen" ein Dr. O. K.: "Der Stil Ihres Briefes läßt den Verdacht zu, daß Sie hinter diesem Sachverhalt ein antifeminines Vorgehen des Deutschen Museums wittern. Doch dies trifft gewiß nicht zu. Der Vorgang ist ganz trivial:... Die ganze Betextung wurde im wesentlichen von Otto Hahn selbst verfaßt... Wahrscheinlich sah er Lise Meitners Beteiligung als mehr theoretischer Natur an und wollte sie daher bei der Schilderung des Experimentes nicht erwähnen... Gestatten Sie mir zum Schluß eine persönliche Anmerkung. Die friedliche und kriegerische Anwendung der Atomspaltung hat so viel Kummer und Angst über diese Welt gebracht und wird dies vielleicht auch noch in Zukunft tun, daß man schon fragen muß, ob es wirklich so schlimm ist, wenn man verschweigt, daß an dieser Entdeckung auch eine Frau beteiligt war."
50 Jahre nach der Kernspaltung verschweigt niemand schamhaft den Namen von Otto Hahn und den anderen Herren Atomwissenschaftlern. Warum sollten wir dann die Frauen verschweigen - im Guten wie im Bösen?
Naturwissenschaftlerinnen wie Lise Meitner und Marie Curie irritieren jedoch nicht nur ewiggestrige Männer, sondern auch manche Frau von heute. In ein mystisches, mutter-erden-farbiges Weltbild paßt ihr "unweiblicher" Verstand und ihr Ehrgeiz schlecht. Wissenschaftliche Neugier, Experimente gelten im "New Age" schnell als Verbrechen, ob Atom- oder Zellkern. Als ich aus meiner Biographie der Atomphysikerin Lise Meitner las, empörten sich Zuhörerinnen: Wie ich nur über so eine schreiben könnte! Die sei schließlich mitschuldig an der Atombombe und am Wettrüsten, an den Atomkraftwerken und am GAU von Tschernobyl.
Stimmt. Aber nicht ganz. Als die Physikerin im Exil Angebote erhielt, in den Vereinigten Staaten die erste Atombombe mitzuentwickeln, lehnte sie ab. Meitner war allerdings die einzige Frau, die vor dieser Entscheidung stand. Der Atombombenbau war auch deswegen Männersache, weil es kaum Expertinnen gab. Die Frauen hatten Glück. Die Männer die Verantwortung. Einige Wissenschaftler protestierten gegen den geplanten Abwurf der Bombe. Zu spät und ohne Erfolg. Die Entscheidung, Hiroshima und Nagasaki zu vernichten, war schließlich reine Militärsache. Und damit erst recht Männersache. Auch Lise Meitner hat vor der Bombe nicht rechtzeitig gewarnt. Was die Folgen ihrer Entdeckung betraf, waren sowohl sie als auch Marie Curie Gefangene ihrer Zeit. Wie ihre männlichen Kollegen sahen sie nicht die Risiken, sondern nur die Chance: eine unerschöpfliche Menge an Energie.
Madame Curie schrieb 1924: "Unsere Gesellschaft, in der ein gieriges Streben nach Luxus und Reichtum herrscht, begreift den Wert der Wissenschaft nicht. Sie macht sich nicht klar, daß diese ein Teil ihres kostbarsten und edelsten Erbes ist, sie gibt sich nicht genügend Rechenschaft darüber, daß die Wissenschaft die Grundlage jedes Fortschrittes ist, der das menschliche Leben erleichtert und Leiden vermindert." Röntgengeräte und die Erfolge der Strahlentherapie bestätigten Marie Curie. Die Bombe erlebte sie nicht mehr. Lise Meitner sprach sich - nach dem zweiten Weltkrieg, nach der Bombe - gegen die militärische, aber für die friedliche Nutzung der Atomenergie aus. Die Probleme der radioaktiven Abfälle sah sie nicht voraus.
Heute wissen wir um die Folgen und haben es mehr als einmal erlebt, daß wissenschaftliche Erkenntnisse zum Wohle, aber auch zum Verderben der Menschheit eingesetzt werden können. Von Männern und von Frauen. Und daß es eine politische Entscheidung ist, wie sie eingesetzt werden- eine Entscheidung von Männern und von Frauen. Von Wissenschaftlerinnen und Nicht-Wissenschaftlerinnen. Atomkraftwerke zum Beispiel stehen nicht in unserem Land, weil sie phallische Symbole wären. Die Antwort wäre- leider- zu einfach. AKWs sind Ergebnis wirtschaftlicher Interessen, politischer Willensbildung und Kräfteverhältnisse. Auch Frauen wählen CDU und nicht den Ausstieg aus der Atomenergie.
Wenn heute die Französin Martine Griffon-Fouco Direktorin eines AKW wird, weiß sie, daß sie sich nicht nur (verständlicherweise) für einen guten Posten entscheidet. Sie trifft auch eine politische Entscheidung: "Attraktiv und klug" wirbt sie für die Atomenergie. "Attraktiv und klug" posieren heute amerikanische Offizierinnen neben den Minuteman-Raketen, über die sie das Kommando haben.Lise Meitner fürchtete nicht den "bösen Geist der Wissenschaft", sondern sehr zu Recht die Menschen, die forschen und anwenden. Zu ihnen gehören heute - 50 Jahre nach der Kernspaltung - auch Frauen.
Aber immer noch zu wenig Frauen. Ohne Macht sind Frauen ohnmächtig. Ohne Macht machen sie sich nicht die Finger schmutzig. Können Frauen sich das leisten?
Das Atom und seine Enträtselung wird heute verglichen mit dem Zellkern und der fort- schreitenden Entschlüsselung des genetischen Codes. Droht ein genetisches Hiroshima? Vielleicht.
Aber gerade deshalb dürfen Frauen den Männern nicht das Forscherfeld überlassen. Ebensowenig wie die Politik. Frauen müssen dieses Feld selbst bestellen oder durcheinanderwühlen, mit eigenen Fragestellungen. Fachfrauen müssen informieren gegen uninformierte Ängste und dafür sorgen, daß berechtigte Ängste rechtzeitig entstehen. Klarer Verstand statt Tarot-Karten. Vielleicht forschen Frauen wirklich anders als Männer? Vielleicht machen sie die gleichen Fehler? Die Diskussion ist eröffnet.
Aber nicht nur Wissenschaft ist noch zu wenig Frauensache, sondern vor allem auch Wissenschaftspolitik. Heute hängt es weniger denn je vom individuellen Genie ab, was erforscht und entdeckt wird, sondern von den Wünschen und Vorstellungen der Planer, Förderer, Institutsgründer, Geldgeber - überwiegend Männer! Auch in diesen Strukturen müssen Frauen mitbestimmen, müssen sie kritisieren und verändern. Von außen sind wache Blicke, kritische Fragen und laute Proteste nötig, wie sie zum Beispiel von FINRRAGE kommen, dem internationalen feministischen Zusammenschluß gegen die neuen Reproduktions- und Gentechniken. Doch jede Wissenschaftlerin, die sich mit den Möglichkeiten der Gentherapie beschäftigt, in eine Reihe mit Verfechterinnen nazistischer Euthanasie- programme zu stellen, ist genauso gefährlich wie solche Gefahren nicht zu sehen.
In den vierziger Jahren entdeckte die Genetikerin Barbara McClintock, daß bestimmte Gene (sogenannte springende Gene) innerhalb eines Chromosoms den Platz wechseln können. Im Jahre 1950 erkannte Rosalind Franklin die Helixstruktur der DNS, unserer Erbinformation. Sind sie Opfer patriarchalischen Wissenschaftsdenkens? Nein, sie sind exzellente Forscherinnen. Was trieb sie an? Etwas ähnliches wie Lise Meitner. Diese bewahrte sich bis zu ihrem Tod im Jahre 1968 trotzig und mutig folgendes Wissenschaftsverständnis: "Die Wissenschaft erzieht der Menschen zum wunschlosen Streben nach Wahrheit und zu Objektivität, sie lehrt Menschen Tatsachen anzuerkennen, sich wundern und bewundern zu können, gar nicht zu reden von der tiefen Freude und Ehrfurcht, die die Gesetzmäßigkeit des Naturgeschehens dem wahren Wissenschaftler schenkt..." Ein Anachronismus?
50 Jahre nach der ersten Kernspaltung ist der Spielraum enger denn je, frei und "ehrfürchtig" zu forschen - für Männer und Frauen. Industrie, Militär und Staatsinteressen bezahlen und befehligen Labors und Spitzenforschung. Die Gentechnik verändert die Welt wie Weiland die Atomphysik. Anwendung um jeden Preis und nicht Verzicht ist gefragt. Lise Meitners Forderung nach "Ehrfurcht" klingt heute fast revolutionär. Um ihr neuen Raum zu schaffen, muß die Trennung fallen: hier reine Wissenschaft, dort schmutzige Politik. Die Wissenschaftlerlnnen müssen sich - 50 Jahre nach der ersten Kernspaltung - um die Anwendung ihrer Forschungsergebnisse kümmern und Stellung beziehen. Sonst wird reine Wissenschaft ein schmutziges Geschäft. Ideale sind keine Saubermacher.
Die erste Atomspaltung führte zur Atombombe. Ein Lehrstück, auch heute noch, für Männer und Frauen.