Sophie Hunger: Die Kosmopolitin

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Im Konzerthaus in Dortmund herrscht ehrfürchtige Stille, als die ersten Klänge von „Leave me with the monkeys“ in den Raum klingen, getragen von dieser eindringlichen Stimme, die sich so wenig bemüht schön zu sein, wie die junge Frau, der sie gehört.

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Sophie Hunger steht scheinbar selbstvergessen im roten Kleid auf der Bühne. Die Augen auf einen unsichtbaren Punkt im Publikum fixiert. Sie singt, als würde sie die Bedeutung jedes einzelnen Wortes noch mal erkunden, bevor sie es in den Raum schickt. Hunger spielt Gitarre oder begleitet sich selbst am Klavier. Sie ist stark, sie ist verletzlich, zornig, widersprüchlich. Sie ist bei sich.

„1983“ heißt ihr drittes Album, das sie über die Grenzen ihrer Heimat Schweiz hinaus endgültig bekannt machte. Ein fiktiver Dialog mit der Zeit, in der sie geboren ist. „Guten Morgen 1983, wo sind deine Kinder?“ fragt Hunger. „Wo sind deine Stimmen? Wo sind deine Ausnahmen, deine Mongoloiden?“ Hungers Songs werfen Fragen auf. Sie benennen die offenen Wunden einer zerrissenen Generation, die so viel weiß, dass sie mit diesem ganzen Wissen oft nichts anfangen kann. „Bitte sing mir ein Volkslied“, tönt Hunger in dem Lied 1983.

Als die Platte im vergangenen Jahr auf Platz Eins der Schweizer Charts kletterte, hatte Emilie Jeanne-Sophie Welti-Hunger, so ihr richtiger Name, schon für zwei gelebt. Und die Herausforderung, nach ihrem gefeierten Debüt „Sketches On Sea“ und dem in Platin gegossenen Folge-Album „Monday’s Ghost“, noch ein Album auf diesem Niveau zu machen, mit Bravour gemeistert. Sie gab weit über 100 Konzerte in Europa, unter anderem im legendären Olympia in Paris. Im Frühjahr ist ihr Album in Amerika erschienen. Und so geht es weiter: nach Siegen, ­Toronto, New York, Boston, Montreal, wieder Bern, Hannover, Bochum.

Sophie Hunger ist es ohnehin nicht gewohnt, still zu stehen. Der Vater Diplomat, die Mutter Juristin, beide leben heute in Indien. Als Kind saß sie mit Botschaftern aus China und Russland beim Mittagessen, reiste nach Teheran, Moskau, Peking, lebte in London und Bonn. So kosmopolitisch wie ihr Leben sind ihre Lieder mit Texten auf Deutsch, Englisch und Französisch – auch wenn sie das Schweitzerdeutsch am besten beherrscht.

Sophie sitzt an diesem Abend in Dortmund an einem Tisch im Backstageraum, etwas abseits von ihrer Band und der Crew, die sich am Catering tummeln. Das Konzert ist vorbei, ihr Publikum hat sie erst nach drei Zugaben unwillig von der Bühne gelassen. Es dauert eine Weile, bis sie ins Reden kommt. „Es gab in meinem Leben nie den einen Punkt, an dem mir klar wurde, dass ich Musikerin werden will,“ sagt sie. Aber schon in der Schule war Sophie das Mädchen mit der lauten Stimme, das Lehrer imitierte und Radiosendungen auf Kassette aufnahm. Dann kam das erste Lied. Und: „Ich trage viele Eigenschaften in mir, die als männlich gelten, obwohl ich eine Frau bin.“

Aber: „Auf meinen Reisen ist mir oft aufgefallen, wie privilegiert ich bin. Ich kann als Frau wählen, auf der Bühne stehen, Musik machen. Für uns sind diese Rechte heute ganz selbstverständlich. Dabei sind wir auf dieser Welt eine verschwindend kleine Minderheit, die so leben darf. Wir vergessen schnell, wie kurz die Spanne ist, in der Frauen so frei sind. In der Schweiz wurde das Frauenwahlrecht vor 40 Jahren eingeführt. Und es waren Männer, die darüber entschieden haben. Seit einigen Monaten wird die Schweiz von einer Mehrheit von Frauen regiert – seither geht es ihr besser denn je!“

Diese Erkenntnisse hat die Musikerin nicht aus Büchern und nicht aus Nachrichten, sondern von ihrer Mutter Myrtha Welti-Hunger. Die hatte keine Stimme und ist deshalb für das Frauenwahlrecht auf die Straße gegangen und hat im Bundeshaus für die Einführung der Mutterschaftsversicherung gekämpft.

Die Tochter kämpft auf ihre Weise. Nach einem Konzert in Zürich vor zwei Jahren kam die Sängerin noch ein letztes Mal zurück auf die Bühne, in der Hand ihr Notebook. „Ich habe einen Brief geschrieben.“ Einen offenen Brief an Madonna, das Vorbild für viele Mädchen. Nicht für Sophie. „Ständig die Kleider zu wechseln bedeutet nicht, sich zu verändern, es bedeutet einfach ständig seine Kleider zu wechseln,“ verlas die Musikerin. Auslöser war ein Foto, auf dem Madonna ihre Beine für die Kamera spreizt und lasziv auf eine Halskette beißt. Die heute 28-Jährige findet das „unwürdig“.

Bei solchen Aktionen lässt sich Sophie Hunger nicht reinreden. Sie ist hier Chefin, das ist auch klar, als sie ihren Kollegen am Buffet auf Französisch zuruft: „Leute, seid doch bitte nur ganz kurz mal ein bisschen leiser!“ Die sind prompt still.

In ihrer Band spielen nur Männer, denn „Frauen, die auf diesem Niveau ihre Instrumente beherrschen, sind rar in der Schweiz“. Hunger sagt: „Alle gehen davon aus, dass du als Frau sanft und zerbrechlich bist und immer Liebeslieder singst“. Aber: Hunger singt keine Lieder über Liebe.
 

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