Ein Triumph der anderen Art

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Jetzt ist sie also "größenwahnsinnig" und "geistesgestört". Verhaltensexpertinnen und Neurologie-Professoren werden herbeizitiert, die sie als "schwierige Einzelgängerin" diagnostizieren, die sich unglücklicherweise für die "wiedergeborene Maria Callas hält". Darüber habe bereits ihr "merkwürdiges Verhalten auf der Bühne" Aufschluss gegeben. Kurz: Der Fall Susan Boyle ist eine "menschliche Tragödie".

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Ist er? Oder wird da eine Frau ins Armselige geschrieben, die mit ihrem herzanrührenden Auftritt bei der Talentshow "Britain’s got Talent" am 11. April innerhalb von Tagen zu Englands schärfstem weiblichen Export seit Miss Marple wurde? Susans Triumph über Botox und Body-Mass-Index wurde auf YouTube öfter angeklickt als Obamas Inaugurations-Rede, nämlich weltweit 280 Millionen Mal. Sie brachte wohl vor allem Frauen dazu, diesen Link mit Betreffzeilen wie "Fuck Ageism!" (sinngemäß: Scheißt auf den Jugendkult!) an ihre Freundinnen weiterzuschicken, so wie es Ms.-Redakteurin Letty Pogrebin tat. "Die Hälfte aller Frauen, denen ich den Link mit Susan Boyle schickte, hat geweint", schreibt die Journalistin.

Dass der Jungstar Boyle nach dem Finale von "Britain’s Got Talent" zusammenbrach, ist dennoch eigentlich kaum verwunderlich. Sieben Wochen Vollstress lagen hinter Susan. Dabei dürften die Talkshows bei Oprah Winfrey und Larry King sowie zahllose Interviews mit Medien aus aller Welt der lebenslang Arbeitslosen weniger zugesetzt haben als der Belagerungszustand, in den Paparazzi und Journalisten ihr Haus versetzten. Dieses Haus im schottischen Blackburn, in dem Susan Boyle vor 47 Jahren geboren wurde, und das sie seither nie verlassen hatte. Sie ist eins von neun Kindern und hat ihre Mutter bis zu deren Tod dort gepflegt.

Nicht zu vergessen die Fotos, die die Paparazzi schossen und die Häme, die Journalisten über ihr ausgossen. Über die "Unförmige", das "hässliche Entlein" mit der "Rauhaardackelfrisur", das wegen Sauerstoffmangels bei der Geburt "geistig zurückgeblieben" sei. Die "graue Maus", die "wie ein Mittelgewichtsboxer" auf die Bühne kam und dort mit ihren "arthritischen Hüftschwüngen" den "Ekel" der Juroren hervorrief.

Und dann das "makeover": Nachdem die Sun ein Foto von Boyle ergattert hatte, das sie mit kastanienbraun gefärbten Haaren und in Kunstlederjacke zeigt, schätzte das Boulevardblatt die Kosten für die "Runderneuerung" abschätzig auf 100 Pfund. Das Bild vom nun eigentlich gar nicht mehr so hässlichen Entlein erschien mit Preisschildern an Hose, Jacke, Schal und Pulli und verwies ihre Trägerin in die Welt der Geld- und Geschmacklosigkeit. Als Susan Boyle ausfallend wurde, weil Reporter sie einige Tage vor dem Finale im Londoner Wembley Plaza Hotel belästigten, war das also mehr als verständlich. Das Verhältnis des "newborn Stars" zur Presse verbesserte es nicht.

Chef-Juror Simon Cowell jedenfalls fühlte sich, als Susan schließlich im Finale ihr "I dreamed a Dream" noch einmal sang, bemüßigt zu erklären: Er kenne "die wahre Susan Boyle, und das ist nicht die Person, wie sie die Medien porträtiert haben". Und in den zahllosen Boyle-Blogs mutmaßt nicht nur "Patprovo": "Ich glaube, sie hat wegen der gemeinen und verletzenden Presse nicht gewonnen."

Wahrscheinlich ist Susan Boyle im Finale am 30. Mai auch deshalb "nur" Zweite geworden, weil die Fangemeinden unterschiedlicher nicht sein könnten: hier die Youngsters aus den Vororten, die die Breakdancer des Tanztrupps Diversity zu ihren Stars erkoren hatten und für die jeder vierte der vier Millionen AnruferInnen stimmte – dort diejenigen, denen Size Zero und Heidi Klum das Leben vergällen, sprich: Frauen aller Altersklassen. Jeder fünfte Anrufer wollte Susan auf Platz eins, und es ist nicht sehr verwegen anzunehmen, dass dies vor allem Anruferinnen waren.

Es war der CNN-Nachrichtensprecher, der als erster vom "Susan- Effekt" gesprochen hatte. Und in der Tat dürfte es dieser Effekt gewesen sein, der so globale Auswirkungen hatte, wenngleich vor allem auf weibliche Erdenbürger der westlichen Hemisphäre. Die freuten sich einfach von Herzen über eine Frau, die noch kurz vor dem Auftritt beherzt in ihr Butterbrot beißt; die mit Maulwurfsblick und schwerem schottischem Akzent erklärt, sie lebe mit ihrem Kater Pebbles und sei weder verheiratet noch jemals geküsst worden. Und die dennoch siegesgewiss verkündet: "I’m gonna rock this audiance!"

"Susan Boyle rockte nicht nur das Publikum, sondern die unrealistischen und unerreichbaren Schönheitsideale für Frauen", froh - lockte Beverly McPhail vom Houston Chronicle. Deshalb ist der "Susan-Effekt" nicht nur die von der Presse postulierte und kritisierte "Aschenputtel-Story". Der Witz ist nämlich: Im Märchen von Susan Boyle gibt es keinen Prinzen. Sondern eine gestandene Außenseiterin mit Mutterwitz und einer wunderbaren Stimme, die es allen, die Talent, Können und Ausstrahlung zwanghaft mit Stupsnasen, Modelmaßen und Faltenfreiheit verbinden, so richtig gezeigt hat.

Sicher, selbst das war kalkuliert bei dem vorgeblichen Über - raschungserfolg dieses schottischen Aschenputtels. Denn längst sind solche Shows, deren ewiggleiche Botox-Produkte inzwischen auch das Publikum langweilen, auf nicht perfekte Außenseiter wie Susan angewiesen. Doch der Welterfolg ihres Auftritts konnte nicht kalkuliert werden. Er hat viel mit der steigenden Ma laise von Frauen aller Haarfarben und Alterklassen in Sachen Jugend- und Schönheitswahn zu tun. Und sie alle, wir alle, dürfen uns bei der Häme über Susan durchaus mitgemeint fühlen. "Es ist nicht nur Susan Boyle, die von dieser hässlichen Episode beschädigt ist, sondern wir alle", erklärt Guardian-Redakteurin Tany Gold. Ob es in diesem Märchen ein Happy End gibt, bleibt abzuwarten.

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