Alice Schwarzer schreibt

Viagra & die Lust

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„Die negativen Ergebnisse von Viagra bei Frauen überraschen uns nicht,“ erklärte das Kinsey-Institut. „Unsere Forschungen untermauern die Tatsache, dass für die meisten Frauen sexuelles Verlangen und Erregung davon abhängen, dass die Umstände stimmen.“ Physische Voraus-setzung ist ein Blutstau in den männlichen oder weiblichen Schwellkörpern. Physisch findet der Orgasmus im Kopf statt. Und das nicht nur bei den Frauen. Verschärfend hinzu kommt laut dem British Medical Journal: Mediziner hatten das neue Krankheitsbild „FSD“ – früher schlicht „Frigidität“ – über Jahre gezielt geschaffen – um es dann mit einem gewinnbringenden Mittel zu „heilen“. Den nachfolgenden Text schrieb Alice Schwarzer vor sechs Jahren in EMMA.

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Aus den USA kommt die frohe Kunde, dass die Männerpille schon bis zu 100.000 mal täglich verschrieben wird. Da schrecken auch die Nebenwirkungen nicht, im Gegenteil: der tödliche letzte Schuss, die Verbindung von Koitus und Exitus ist ja eine besonders heiße Phantasie des koitierenden Abendländers. In der Europäischen Gemeinschaft wird für September mit der Zulassung des Potenzmittels gerechnet. Brechen dann amerikanische Verhältnisse aus? Nein, hofft Gunter Schmidt, für den „diese aufgedonnerte Aufregung, die bombastische Mystifizierung der Pille was Groteskes“ hat. Der Sexualforscher mutmaßt kühl, das ganze Medientheater liege nur daran, dass „ältere Männer noch immer das Sagen haben in den Redaktionen“. Da mag was dran sein. Aber Viagra ist nicht nur ein Old-boy-Problem. Viagra, das ist auch die Stunde der Wahrheit. Die überraschendste Wahrheit ist das epidemische Ausmaß der männlichen Impotenz – fünf bis acht Millionen sollen allein in Deutschland betroffen sein (das wäre jeder fünfte Mann). Die erfreulichste Wahrheit ist das epidemische Ausmaß der weiblichen Skeptik. Die Frauen halten überhaupt nichts vom Gerammel um jeden Preis. Für sie ist Viagra 23 Jahre nach der Aufregung um den „kleinen Unterschied“ schlicht ein Erotikkiller. Und auch so mancher Mann scheint von einer gewissen Nachdenklichkeit erfasst. Zwar titeln Old-boy-Blätter wie Focus („Die Sexrevolution“) und Stern („Die Potenzpille“) mit angegrauten Adonissen, die matt der Wunderpille entgegenträumen. Das Hamburger Magazin schickte sogar seinen Reporter Röhl zum Schlucken an die Viagra-Front (der meldete stramm Erfolg). Der Spiegel hingegen schlug schon in seiner ersten Coverstory einen spöttischen Ton an und titelte: „Macho auf Rezept“.

Wird der Potenzverstärker aus dem Land der Powerboys, die immer alles können, in Old Europe zur peinlichen Pille? Geschluckt nur heimlich von Dumpflingen? Nicht auszuschließen. Viagra birgt schließlich nicht nur neue Möglichkeiten, sondern auch neue Gefahren. Vor allem für die „impotenten“ Männer. Denn Viagra kann das Feuer nur nachladen, aber nicht entzünden. Konkret: die Potenzpille kann das schon vorhandene Blut in den Schwellkörpern stärker stauen, die Erregung jedoch nicht auslösen. Für diesen Knopf gibt es keine Pille – und wird es nie eine geben.

Alarm also für die Millionen armer impotenter Männer, von denen die Forschung weiß, dass nur jeder zehnte aus Krankheitsgründen schlapp ist – die anderen haben schlicht keine Lust. Mit Viagra aber gibt es nun keine Ausrede mehr. Damit wird klar, ob der Mann nicht kann – oder ob er nicht will. Vier bis sieben Millionen körperlich gesunder deutscher Männer leisten sich bisher die „Impotenz“ – so wie Frauen die „Frigidität“. Was vor allem psychische Gründe hat. Neun von zehn frigiden Männern könnten, aber sie wollen nicht. Was ihr gutes Recht ist. Die Gründe gehen vom schlichten Nicht-Begehren bis zum strafenden Nicht-Begehren. Gerade emanzipierte Frauen können ein Lied davon singen: Vom Mann, der die erstarkte Frau abstraft, indem er sich ihr entzieht oder verweigert (und es entweder vorwurfsvoll gar nicht mehr treibt oder heimlich mit einer anderen).

Den wahren Gründen dieser männlichen Frigidität auf die Spur zu kommen – das wäre sicherlich spannend für alle Beteiligten, für Männer wie Frauen. Aber da hilft ein offenes Gespräch mehr als das stumme Schlucken der blauen Pille. Und selbst wenn es beim tendenziell lustlosen Mann dank Viagra doch irgendwie klappen sollte, ist er noch lange nicht am Ziel. Denn Erektion und Ejakulation sind nicht automatisch identisch mit orgiastischen Gefühlen. Ein Mann kann eine Ejakulation haben und dennoch gefühlsmäßig kalt bleiben. Ganz wie die Frau, deren Geschlechtsorgane den männlichen ja sehr ähnlich sind. Auch Frauen haben Schwellkörper, auch Frauen haben einen „Penis“, die Klitoris. Die ist übrigens nur die Spitze des Eisberges: der Hauptteil der weiblichen Schwellkörper liegt innen, im Körper. Der Ablauf der körperlichen Erregung ist auch bei Frauen quasi identisch mit dem des Mannes: Blutstau in den Schwellkörpern und Entspannung durch Abfluss des Staus. Nur die „sexuelle Performance“… die kann ganz klein oder ganz groß sein, orgiastisch oder mickrig. Denn Sexualität ist nicht nur eine Frage mechanischer körperlicher Abläufe, sondern eine sehr komplexe Angelegenheit.

Uns Frauen, dem auf Gefühle abonnierten Geschlecht, ist das längst klar. Was Frauen früher heimlich und privat darüber gedacht haben, haben Feministinnen Anfang der 70er Jahre politisch analysiert und öffentlich gemacht: Wirklich guter Sex ist nicht auf zwei mal zwei Schwellkörper fixiert, Hau-ruck-Sex ist öde, und das reine Rein-raus macht den Körper und die Seele wund. Übrigens: Wenn Frauen schon zwischen zwei Übeln zu wählen haben, dann ist den meisten das schlappe Würstchen immer noch lieber als der rammelnde Bock. Beim ersteren haben sie wenigstens noch was zum Bemitleiden, beim zweiteren müssen sie öde Stunden lang Schäfchen zählen …

Bisher hat nur eine Frau öffentlich behauptet, dass sie Viagra „super“ findet. Verona Feldbusch im Stern: „Dann brauchen wir uns nicht mehr mit den Männern rumzuschlagen, die mies drauf sind, nur weil es bei denen untenrum nicht funktioniert.“ Untenrum … Wer nur gibt den Veronas dieser Welt und ihren miserablen Lovern endlich mal den heißen Tip, dass gerade beim Sex auch das „Obenrum“ dazugehört? Die Zeiten der sogenannten sexuellen Revolution, die Ende der 60er Jahre den männlichen Privatbesitz Frau für alle Männer kollektivieren wollte, sind schließlich vorbei („Wer zweimal mit derselben pennt, gehör schon zum Establishment“). Die Lektion der Feministinnen, die seit den 70ern die symbolische Überhöhung des Phallus und seinen Einsatz als Waffe entlarvten, ist in Fleisch und Blut übergegangen. Und auch die von den Old Boys so genannten Girlies stehen, trotz miniröckiger Keckheit, ganz sicher nicht mehr so zur Verfügung wie ihre Mütter und Großmütter.

Für selbstbewusste Frauen und sensible Männer also wird Viagra nichts ändern, es bleibt in der Schachtel. Nur – was ist mit den anderen Männern? Was ist mit den saufenden und prügelnden Rammlern? Was ist mit den Potenzhörigen unter den Homosexuellen? Was ist mit den pornographisch angetörnten Jungs? Und was ist mit den Männern, in deren Köpfen Lust und Gewalt schier unlösbar verknüpft sind?

Für sie alle ist der Penis kein Körperteil, sondern eine Waffe. Und die wird mit Viagra so richtig geladen.

Zuerst erschienen in EMMA Juli/August 1998.

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