Die starke Virginia
Virginia Woolf ist nicht nur eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen und Feministinnen dieses Jahrhunderts, sie ist auch eine vielstrapazierte Projektionsfläche - die Frauenbewegung nicht ausgenommen. Jetzt hat eine englische Literaturprofessorin eine gründlich recherchierte 1.000-Seiten-Biographie über die Ikone geschrieben.
Über Virginia Woolf sind unzählige Artikel, Dissertationen und Biographien erschienen. Ihre Romane und Essays haben, so scheint es, die wenigsten Menschen gelesen, ein paar Stichworte zu ihrer Person aber fallen jedem ein: Geisteskrankheit... Mißbrauch durch den Halbbruder ... Liebe zu Frauen ... die Zugehörigkeit zum Bloomsbury-Kreis ... Selbstmord mit 59 Jahren. Eine Ausnahmeerscheinung wie Virginia Woolf muß zwangsläufig zur Projektionsfläche werden, und die Aussagen mancher Biographen verraten mehr über den Verfasser als über den Gegenstand seines Interesses.
Dabei wurde die Künstlerin Virginia Woolf häufig auf spektakuläre Ereignisse ihrer Biographie reduziert - von Männern (die Abhandlungen von Roger Poole und Stephen Trombly beginnen mit "War Virginia Woolf geisteskrank?" bzw. "War Virginia Woolf verrückt?"), aber auch von Frauen. So baute Louise DeSalvo ihr Porträt von Virginia Woolf ganz auf dem - wie auch immer gearteten - Mißbrauch auf.
Jetzt legt Hermione Lee, Professorin für englische Literatur an der Universität York, eine weitere Biographie vor. Ihre Vorgehensweise ist eine völlig andere, vorweg gesagt: Hier wird Virginia Woolf mit Respekt, Wärme und Genauigkeit betrachtet; hier werden die "heiklen Themen" ihres Lebens behutsam ausgelotet; hier wird eine Frau und eine Künstlerin nicht nur aus ihrer Beschädigung heraus erklärt, sondern in ihrer Stärke dargestellt.
Hermione Lees Leitgedanke ist: "Virginia Woolf war eine normale Frau, die eine Krankheit hatte." Die Literaturwissenschaftlerin hat unzählige Briefe und (zum Teil unveröffentlichte) Manuskripte gesichtet und auch mit den letzten Zeitzeugen gesprochen. Es entstand das Porträt einer sprühenden, gleichzeitig hochsensiblen und geradezu lustvoll widersprüchlichen Person.
Scheu war Virginia Woolf und in Gesellschaft notorisch ungeschickt, gleichzeitig begeisterte sie sich für Glanz und Ruhm. Liebevolle Einfühlung wechselte mit ätzender Kritik, ihr Vergnügen an Klatsch und Tratsch war berüchtigt. Ihren Freunden erschien sie eher konventionell, dennoch scheute sie sich nicht, als junge Frau einen Haushalt mit ihrem Bruder und einem homosexuellen Paar zu führen.
Hermione Lee folgt ihrer Protagonistin, ohne ihr jemals zu nahe zu treten. Sie versteht und macht verständlich - Freuden, Zweifel, Verirrungen - und bleibt doch immer Begleiterin, die sich von Virginia Woolf weder verführen noch verärgern läßt. Gleichzeitig versteht sie es, uns wunderbar zu unterhalten.
Betrachten wir einmal die Zeit, in der Virginia Woolf zu schreiben begann. Das spätviktorianische England erregt sich gerade über die ersten Bilder von Cézanne, Manet und Picasso, und Dr. Hyslop, einer der Ärzte Virginias, scheut sich nicht, die Bilder als das "Werk von Verrückten" zu bezeichnen. Die unerkannte Geisteskrankheit von Virginias Stiefschwester wird als besondere "Boshaftigkeit" geahndet. Und Virginias diversen Ärzten fallen nur Ruhekuren und das völlig sinnlose Ziehen von gesunden Zähnen ein - Virginia trug schon als junge Frau ein Oberkiefergebiss.
Mehrere Nervenzusammenbrüche in jungen Jahren werden von ihrer Familie einerseits zu leicht genommen ("Die Ziege ist eben ein bißchen verrückt."), andererseits behält man sie wachsam im Auge, mit anderen Worten: Die anderen sind weder für sie da, noch darf sie wirklich für sich sein - und letzteres ist für eine Versenkung in die Welt der Sprache nicht gerade förderlich.
Dann tritt Leonard Woolf in ihr Leben, dem sie in ihrem Abschiedsbrief im Jahr 1941 danken wird: "Liebster, ich möchte dir sagen, daß du mir vollkommenes Glück geschenkt hast..." Ohne Zweifel gibt Leonard Woolf ihr den Boden unter den Füßen, den sie braucht. Außerdem ist er ihr geistig ebenbürtig; er wird der erste Kritiker ihrer Manuskripte, und es scheint, als habe er diese heikle Aufgabe taktvoll bewältigt.
Wo aber ist der Punkt, an dem Fürsorge in Bevormundung umkippt? Vielleicht ist es das eine Glas Milch zuviel, das er ihr hinstellt; das Gespräch mit dem Arzt über ihren Kopf hinweg; das Schreibverbot in dem einen Augenblick, in dem sie hätte schreiben müssen. Er war eine unsichtbare Grenze, an der entlang beide sich bewegten - zur beiderseitigen Freude, wenn der Balanceakt gelang, aber auch zu Virginias Verdruß, wenn die Grenze - von ihm - überschritten wurde.
Virginia und Leonard Woolf haben sich inzwischen eine Druckerpresse gekauft und geben unter dem Namen "Hogarth Press" bibliophil gestaltete Bücher heraus, in erster Linie von Virginia - eine bemerkenswerte Initiative dieser selbst von den Freunden fälschlicherweise als hilflos angesehenen Frau: Sie hat schlichtweg keine Lust mehr, ihre Manuskripte verständnislosen Verlegern anzubieten.
Da sitzt also im Lager des "Hogarth House" zwischen Papier- und Bücherstapeln - auf dem Tisch über- quellende Aschenbecher, auf dem Boden Bürstenabzüge - Virginia, ein Sperrholz- brett auf den Knien, und erschafft Weltliteratur. Sieht so eine hilflose Frau aus?
Kunst wird nicht aus einer Krankheit heraus erschaffen, sondern trotz dieser Krankheit. Es mag sein, daß eine Malerin, eine Schriftstellerin sich Beschädigung als ihr Thema wählt - die Kraft aber, die das Thema gestaltet, ist ihre tiefinnere Stärke und Gesundheit. Dies zu würdigen ist eines der Verdienste der Hermione Lee und sie stellt die naheliegende Frage: Warum schreibt Virginia Woolf?
Virginia hat schon in jungen Jahren ein Lebensanliegen formuliert, das, wie mir scheint, zur wichtigsten Motivation ihres Schreibens wurde: "...daß es ein Muster hinter der 'Watte' des täglichen Lebens gibt und daß jeder einzelne und jedes einzelne Kunstwerk Bestandteil dieses Musters ist". Hermione Lee spricht dagegen lieber vom "therapeutischen oder heilenden An- trieb ihres Werks" - und hier schleicht sich durch die Hintertür doch wieder die Vermischung von Leben und Kunst ein.
Diesem Denkansatz entsprechend, sollen die meisten Zitate aus Texten von Virginia Woolf Lebensereignisse erklären und erweitern. Wenn Zitate aus Essays stammen, funktioniert das Verfahren - Virginia Woolf war ja auch eine scharf beobachtende Zeitgenossin, politisch interessiert, feministisch engagiert. Verständnis für ihre Romane und Erzählungen wird allerdings damit nicht geweckt.
Virginia Woolf selbst nannte ihr Schreiben "medial", und wir können uns durchaus fragen, ob nicht der sogenannte "Wahnsinn" der Preis war, den sie für ihre Ausflüge in die unsichtbare Welt zu zahlen hatte. Es ist jedoch das Dilemma vieler Biographen, daß sie kundig über jemanden schreiben können, den Prozeß der literarischen Erschaffung einer Figur aber nicht beherrschen: Dieses Eintauchen in eine Welt, in der sich die realen Personen zu eigenständigen Wesen mausern und die Autorin manchmal an die Hand nehmen, um ihr zu zeigen, was sie nicht weiß.
Auch bei der Wissenschaftlerin Lee ist etwas von diesem Unverständnis zu spüren, man kann das jedoch auch anders lesen: Als Zurückhaltung einer Biographie, die weiß, wo ihre Zuständigkeit endet - und der Respekt vor dem/ der anderen beginnt.