Wer ist Tariq Ramadan?

"Islam-Star" Tariq Ramadan ist angeklagt, Frauen sexuell missbraucht zu haben. - Foto: Imago/Pacific Press Agency
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Genf, wo Calvins Widersacher Michel Servet auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde, ist inzwischen die internationale Hauptstadt der Ökumene, und als Saïd Ramadan 1961 das Centre Islamique de Genève (CMI) ins Leben rief, war es das erste in Europa. Ramadan hatte die Tochter von Hassan al-Banna geheiratet, dem 1949 ermordeten Begründer der Muslimbruderschaft. In die Schweiz kam er auf der Flucht vor Nasser über Saudi-Arabien, Syrien und den Libanon.

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Saïd Ramadan lebte auf grossem Fuß. Katar stellte ihm eine Villa zur Verfügung, Jordanien ernannte ihn zum Botschafter bei den Vereinten Nationen, Saudi-Arabien finanzierte seine Tätigkeit als Vertreter der Islamischen Weltliga, in deren Namen er das Magazin AlMouslimoun herausgab. Er liebte schnelle Autos und schöne Frauen. Sein CMI wurde zur Drehschreibe zur Verbreitung des Islamismus im Westen. Aus den USA kam Malcolm X, Anführer der Black-Power-Bewegung. Bei dessen Islamisierung soll Saïd Ramadan eine wichtige Rolle gespielt haben – so jedenfalls beschreiben die Genfer CMI-Hagiografen seinen Einfluss.

Das Centre Islamique de Genève: eine Drehscheibe zur Verbreitung des Islamismus

Unvermittelt wurde der Geldhahn zugedreht. Dass Saïd Ramadan für den amerikanischen Geheimdienst CIA arbeitete, lassen zahlreiche Dokumente vermuten. Dass er seinem ausschweifenden Lebenswandel zum Opfer fiel, ist genauso plausibel. 1967 hätte er die Schweiz verlassen müssen, doch er durfte bleiben – ohne Aufenthaltsbewilligung. Aus Dank für geleistete Dienste? Noch fast 30 Jahre lang lebte er in einer schäbigen Einzimmerwohnung, getrennt von Frau und Kindern. 1978 gründeten die Saudis die Genfer Moschee, in deren Schatten das CMI seine Bedeutung verlor und zu einer ausschliesslichen Familienangelegenheit wurde.

Witwe Wafa, Mutter von sechs Kindern, lebt noch immer zurückgezogen in Genf. Aymen Ramadan, der älteste, noch in Ägypten geborene Sohn, ist ein renommierter Chirurg, von dem sich Genfer Prominente und Patienten aus den Golfstaaten operieren lassen. Yasser, Bilal und Tochter Arwa sind in der Öffentlichkeit wenig bekannt. Hani Ramadan leitet das CMI. Als Lehrer wurde er in Genf aus dem Schuldienst verbannt, weil er die Steinigung von Ehebrecherinnen als "Akt der Reinigung" rechtfertigte. Über das CMI vertreibt er seine eigenen Schriften und die Bücher von Vater Saïd und Bruder Tariq, dem berühmtesten Spross aus der Dynastie des Hassan al-Banna.

Lange war der Fussball die grosse Leidenschaft des 1962 geborenen Schweizer Staatsbürgers Tariq Ramadan. Sein Trainer erklärte den Mitspielern, warum der Junior aus religiösen Gründen mit einer Badehose bekleidet unter die Dusche ging. Ramadan war talentiert, ein intelligenter Spieler, der auch Boxtrainings absolvierte. Er spielte bei Collex-Bossy und Perly-Certoux und brachte es bis in die zweite Liga. Den Fussball opferte er, als er sich für seine Religion zu interessieren begann. Als Zwanzigjähriger war er bereits verheiratet und Familienvater, seine Frau, eine Französin, hatte er in der Schule kennengelernt – sie konvertierte zum Islam. Tariq Ramadan unterrichtete Französisch und Philosophie. Er war der jüngste Vize-Rektor einer Mittelschule in der Schweiz. Die Jugendlichen vergötterten ihn, den schwächeren Schülern gab er Nachhilfestunden.

Schon damals schwärmte Ramadan von den "Vorzügen des Islamischen Staates"

Erica Deuber, Kunsthistorikerin und langjährige Abgeordnete der Partei der Arbeit im Genfer Grossrat, kennt die Ramadans seit langem. Zusammen mit ihrem Mann Jean Ziegler förderte und unterstützte sie Tariq. Ramadans Politisierung, erzählte Erica Deuber 2004 der Zeitung Le Temps, sei im Sog der antirassistischen Jugendbewegungen "Touche pas à mon pote" und "SOS racisme" erfolgt. Mit seinen Schülern veröffentlichte er zwei Bücher und unternahm im Rahmen der Organisation "Coup de main" Reisen nach Afrika, Indien und Brasilien. Ramadan organisierte Begegnungen mit dem Dalai Lama, Mutter­Teresa und Dom Helder Camara, dem Begründer der lateinamerikanischen Befreiungstheorie. Auch für die Palästinenser habe er sich bereits engagiert. Den jungen Genfern erschlossen die Expeditionen in Sachen Entwicklungshilfe eine unbekannte Realität. Immer dabei: Ramadans Frau – mit Schleier.

Spannungen zwischen "dem Chef" und den erwachsenen Begleitern blieben nicht aus: Sie schildern ihn als rechthaberisch und "überzeugt, die Wahrheit gepachtet zu haben". Schon damals schwärmte Ramadan von den "Vorzügen des Islamischen Staats", der damals eine Utopie der Islamisten war. Niemand dachte an die Gräueltaten, die seit seiner Auferstehung in Syrien und im Irak begangen wurden. Auf diesen Reisen gelangte Ramadan zur Überzeugung, dass im Kampf gegen den Kolonialismus und für mehr soziale Gerechtigkeit die Religion mobilisiert werden müsse. Das war schon die Lehre der Muslimbruderschaft: die Rückkehr zum ursprünglichen Islam, die Verbreitung der islamischen ­Moralvorstellungen und die ausschliessliche Anerkennung von Regimes, die in Übereinstimmung mit der Scharia regieren.

Anfang der 90er Jahre zog Ramadan mit seiner Familie nach Ägypten, wo er vierzehn Monate lang lebte. Laut seinem Biografen Ian Hamel hielt er sich auch im Sudan auf: beim 2016 verstorbenen Hassan al-Turabi, dem "schwarzen Papst des Terrorismus". Al-Turabi war Muslimbruder und stand der Hamas wie der Hisbollah nahe, bei ihm fanden in diesen frühen 90er Jahren die Terroristen Carlos und Osama Bin Laden Unterschlupf. "Tariq Ramadan verkörpert die Zukunft des Islams", soll al-Turabi gemäss LeMonde von seinem Gast gesagt haben.

Völlig verwandelt kehrte er nach Genf zurück. 1993 kämpfte er zusammen mit Bruder Hani gegen die Aufführung von Voltaires Tragödie «Mohammed der Prophet oder der Fanatismus». Sie war für die Feiern zum 300. Geburtstag des religionskritischen Philosophen und Dichters gedacht. Der Genfer Schriftsteller und Dramaturg Yves Laplace bearbeitete das Stück, Hervé Loichemol sollte die Regie führen. Angesichts des Protests verweigerte der grüne Kulturbeauftrage der Stadt, Alain Vaissade, die zugesagten Gelder. "Alles gelogen", behauptet Ramadan seither immer wieder: "Diese ganze Geschichte ist eine Lüge. Ich war in Ägypten und wusste überhaupt nichts davon. Als mich der Regisseur der Zensur bezichtigte, antwortete ich ihm mit einem offenen Brief. Ich habe das Stück sogar mit meinen Schülern gelesen." Der "offene Brief", erinnert sich die in Berlin lehrende Genfer Literaturwissenschaftlerin Vanessa de Senarclens, erschien im Journal de Genève und war ein Plädoyer für ein Verbot.

Ramadan hielt sich auch im Sudan auf: beim "schwarzen Papst des Terrorismus"

Der Protest der Ramadans zeitigte verheerende Folgen weit über die verhinderte Jubiläumsaufführung hinaus: Voltaires "Mohammed", der von Goethe übersetzt wurde, wird überhaupt nicht mehr gespielt. Eine szenische Lesung konnte 2005 nur unter Polizeischutz stattfinden. Laplace verarbeitete den Schock der Zensur in seinem Drama "Nos fantômes". Nach dem Attentat auf Charlie Hebdo warf Hervé Loichemol endgültig das Handtuch: "Für uns ging es keineswegs um eine Provokation. Wenn ich das Stück heute aufführen würde, hätte ich schnell eine Kugel im Kopf."

Im Streit um «Mohammed» betrat der noch völlig unbekannte Tariq Ramadan erstmals die Bühne der Öffentlichkeit. Er fand Geschmack an der politischen Einflussnahme. 1994 versuchte er von Genf aus die in unserem Land lebenden Muslime der zweiten Generation in eine Organisation einzubinden. In der Deutschschweiz waren sie nach dem Zerfall von Jugoslawien zahlreicher als in der Romandie. Doch seiner Bewegung "Musulmans, Musulmanes de Suisse" gelang es nicht, den Röstigraben zu überwinden. In Bussen mussten die Teilnehmer des ersten Kongresses aus Frankreich nach Genf gebracht werden. Das Magazin L’Hebdo spottete: "Die Muslime der Schweiz waren ... Franzosen." Journalisten und Andersgläubige seien als "Insekten" tituliert worden. Der Flop war so gewaltig, dass Ramadan Genf in Richtung Frankreich verliess. 1994 war er erstmals im französischen Fernsehen, 1995 wurde er mit einem Aufenthaltsverbot belegt. Zwischen Juli und Oktober hatte eine Reihe von islamistischen Attentaten acht Tote und mehr als 200 Verletzte gefordert.

Tariq Ramadan zog weiter nach Grossbritannien. Er begann ein Studium an der Islamic Foundation in Leicestershire, von der aus 1988 der Vorwurf der Blasphemie gegen Salman Rushdies ­«Satanische Verse» ausgegangen war. Viele Schriften der Islamic Foundation – zu deren Leitfiguren der 1966 gehängte Muslimbruder Sayyid Qutb gehörte – sind auf Französisch in den Editions Tawhid erschienen, die auch zahlreiche Bücher von Hani und Tariq Ramadan herausbringen. Ihr Verleger Yamin Makri verbreitet die These, bei den Vergewaltigungsvorwürfen gegen Tariq Ramadan handle es sich um ein Komplott der "Zionisten" und "israelisch-französischer Kreise".

Henda Ayari hat mit ihrer gegen Ramadan Klage Ende Oktober eine ganze Welle von Anschuldigungen ausgelöst. Zahlreiche Frauen erklären, sie seien von Ramadan sexuell missbraucht worden. Seit der Vergewaltigungsklage stellen französische Medien nun auch seinen akademischen Ruf in Frage. Das Nachrichten­magazin L’Obs interviewte den angesehenen Arabisten Charles Genequand, der in Genf die Doktorarbeit abgelehnt hatte. Ramadan habe ihm eine Arbeit über Werk und Wirken seines Grossvaters vorgeschlagen und zahlreiche neue Dokumente versprochen. Das Resultat sei eine Verklärung "al-Bannas zum muslimischen Gandhi" gewesen. Sie habe die Ideologie der Muslimbruderschaft verharmlost; ihren Antisemitismus unterschlug der Verfasser. Übergangen habe Ramadan auch die Tatsache, dass seine Vorfahren für die Befreiung Ägyptens von der britischen Kolonialherrschaft auf die Unterstützung durch Hitler setzten. Richtiggehend terrorisiert habe Ramadan am Telefon ihn selber und die Juroren. In der Erinnerung durchaus glaubwürdiger Zeugen hat Ramadan in seinen Rundumschlägen auch die "Juden von Genf" für die Ablehnung verantwortlich gemacht.

Henda Ayari und weitere Frauen erklärten, sie seien von Ramadan sexuell missbraucht worden

Jean Ziegler, damals Soziologieprofessor an der Uni Genf, will Ramadans Verhalten nicht entschuldigen. Er vermittelte ihn an Philippe Borgeaud, einen Historiker der Religionen, der eine neue Jury zusammensetzte. Erica Deuber hatte die Arbeit gelesen und eine Expertise geschrieben. «Pas génial», war ihre Einschätzung. Aber auch: Es sei keine Propagandaschrift – jedenfalls nicht mehr als Dutzende von Doktorarbeiten über protestantische Figuren und Bewegungen, die an der von Calvin begründeten Uni anstandslos angenommen würden. Auch Tariq Ramadan bekam seine akademischen Weihen, er lehrte in Freiburg, Rotterdam, den USA und zuletzt in Oxford, wo ihm die Universität einen von Katar finanzierten Lehrstuhl einrichtete. Seit den Vergewaltigungsvorwürfen hat sie seine Vorlesungen suspendiert.

Islam-Experten wie Gilles Kepel, der ihm in Frankreich zu seinen ersten Fernsehauftritten verhalf, haben Tariq Ramadan als Islamologen nie wirklich ernst genommen. Aber der Doktortitel verlieh ihm einen Hauch von wissenschaftlicher und religiöser Autorität und beflügelte seine Karriere, die nach dem 11. September 2001 zum Höhenflug wurde. Die Jugendlichen in den Banlieues verehrten Bin Laden als neuen Helden. Ramadan wurde als Vermittler gebraucht. Im Fernsehen diskutierte er auf Augenhöhe mit dem damaligen Innenminister Nicolas Sarkozy. Den Muslimen predigte er die Integration und das Einhalten der Gesetze, gleichzeitig aber auch den Stolz auf ihre Religion und den Widerstand gegen die westlichen Werte. Grossen Einfluss auf die Jugendlichen haben seine Kassetten in arabischer Sprache. Seine dürftigen, am Laufmeter geschriebenen Bücher sind langweilig.

Tony Blair, der ihn nach dem ersten Attentat von London in eine Task-Force holte, und Romano Prodi setzten auf den Brückenbauer. In Frankreich wird die Politik des Dialogs seit der Serie von Anschlägen und angesichts der fortschreitenden Radikalisierung weiter Teile der muslimischen Bevölkerung als gescheitert betrachtet. Ex-Premierminister Manuel Valls erklärte, der Salafismus sei im Begriff, den Kulturkampf innerhalb des Islam zu gewinnen – und Tariq Ramadan situiert er durchaus im Lager der Brandstifter.

Als Michel Houellebecq den Islam als "dümmste Religion der Welt" bezeichnete, gehörte Ramadan noch zu jenen, welche die Pariser Moschee vergeblich von einer Klage abhalten wollten. Seit dem Attentat auf Charlie Hebdo indes hat er regelmässig für den fundamentalistischen Islam und gegen die laizistische Republik Stellung bezogen. Auf Facebook teilte er die Reaktionen aus seinem engsten Umfeld, nach dem es sich bei den Vergewaltigungsvorwürfen um eine Verschwörung "zionistischer" und "französisch-israelischer Kreise", seiner "ewigen Feinde", handle. Sie haben eine Welle von Enthüllungen ausgelöst, die kaum noch Raum für Zweifel an seiner Doppelmoral offenlassen. Seine Biografen Caroline Fourest und Ian Hamel verschwiegen seine sexuellen Ausschweifungen aus Rücksicht auf die Privatsphäre, die in Frankreich besser geschützt ist als anderswo. Die erstaunlichste Aussage machte Bernard Godard, während zweiter Jahrzehnte "Monsieur Islam" im Innenministerium. "Dass er viele Geliebte hatte, dass man ihm nach den Vorträgen Frauen im Hotel zuführte, war bekannt", sagte Godard im Nachrichtenmagazin L’Obs. Auch dass Ramadan "aggressiv und gewalttätig" (Godard) werden konnte, wusste der Spitzenbeamte. Aber von einer Vergewaltigung habe er nie etwas gehört.

Ramadan hat regelmäßig für den fundamentalistischen Islam Stellung bezogen

Auch in Genf hat sich der Skandal ausgeweitet. Im Frühjahr wurde Hani Ramadan aus Frankreich in die Schweiz abgeschoben. Vor rund zwei Jahren hatte er sich erneut Zutritt zu einer Schulklasse verschaffen können: Vor den Jugendlichen verglich er unverschleierte Frauen mit Münzen, die durch alle Hände gingen. Im Anschluss an die Vergewaltigungsklagen haben in Genf mehrere Frauen ausgesagt, sie seien als Minderjährige von ihrem Lehrer Tariq Ramadan verführt worden. Eine Untersuchung läuft. Verschiedene Erziehungsdirektoren haben sich öffentlich gerechtfertigt, Schulleiter waren offensichtlich informiert gewesen. Mit seiner Verteidigung hat Ramadan die Anwältin Yaël Hayat und den Anwalt Marc Bonnant beauftragt, der umgehend erklärte, es gehe zunächst darum, die Frauen "aufzuscheuchen". Zur Unterstützung der "von Ramadan missbrauchten Schülerinnen" wurde von der ehemaligen Nationalrätin Fabienne Bugnon ein Komitee gebildet, dem bereits Hunderte von Genfern aller Parteien und Religionen beigetreten sind.

Charlie Hebdo brachte Tariq Ramadan mit einer gewaltigen Erektion in der Hose auf das Titelblatt: "Ich bin die sechste Säule des Islam." In der Folge kam es zu Beschimpfungen und Morddrohungen wie nach dem Abdruck der Mohammed-Karikaturen. Am Morgen des Attentats im Januar 2015 war die Satirezeitschrift mit Michel Houellebecq auf dem Cover erschienen, dessen Roman "Unterwerfung" gleichentags in die Buchhandlungen ausgeliefert wurde. Mehr als zehn Mitarbeiter von Charlie Hebdo kamen ums Leben, Houellebecq musste untertauchen. Auch Tariq Ramadan las dessen Roman, in dem der Autor die Wahl des Muslims Ben Abbes zum französischen Präsidenten beschreibt. In Interviews beantwortete Tariq Ramadan die Frage nach seinen politischen Ambitionen gelegentlich mit dem Hinweis auf Houellebecqs Szenario. Und reichte einen Antrag auf die zu seiner ­Realisierung notwendige französische Staatsbürgerschaft ein.

Mit ihrer Klage hat die Ex-Salafistin Henda Ayari, die nach den Attentaten ihren Schleier ablegte, diesen politischen Traum zunichtegemacht. An seiner Stelle droht der Albtraum Wirklichkeit zu werden, der Tariq Ramadan seit seiner Genfer Jugend verfolgt: ein Schicksal, wie er es bei seinem Vater miterlebte, dem er auf den Fotos so sehr gleicht – der Verlust der Familie und der Ehre, ein brüskes Ende der brillanten Karriere und einer Existenz in Saus und Braus.

Jürg Altwegg - Der Artikel erschien zuerst in der Schweizer Weltwoche.

 

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Alice Schwarzer schreibt

Tariq Ramadan: Der Bruder

© Mehdi Fedouach/AFP/Getty Images
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Ramadan ist die Schlüsselfigur für den Schulterschluss zwischen fundamentalistischen Muslimen und Linken. Gemeinsam kämpfen sie für Gerechtigkeit für die neuen „Verdammten dieser Erde“, die Muslime, und gegen „Rassismus“ und „Islamophobie“ (Letzteres ein Schlagwort, das auch Ramadan in Europa salonfähig gemacht hat). Nach außen, auf Französisch und Englisch, pflegt der Enkel der Gründer der ägyptischen Muslimbrüder einen „toleranten“ und „europäischen ­Islam“ – nach innen, auf Arabisch, gibt er „den islamistischen Einpeitscher“, schreibt Caroline Fourest, die schon 2003 ein Buch über den "Frère Tariq" veröffentlicht hatte. Genauer befragt im Fernsehen mochte Ramadan sich weder von der pseudoreligiösen Genitalverstümmelung noch von der Steinigung von Frauen bei „Ehebruch“ distanzieren.

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Die Tatsache, dass der schillernde Guru seit über 15 Jahren in zahlreichen Veröffentlichungen der Doppelzüngigkeit überführt werden konnte, hat seine Beliebtheit allerdings weder bei seinen Fans noch in den linken und liberalen Medien trüben können. Jetzt scheint zur Doppelzüngigkeit also noch die Doppelmoral hinzuzukommen. Denn im Gegensatz zu Weinstein, der aus seiner „sexuellen Libertinage“ noch nie einen Hehl gemacht hat, predigt der Islamo-Star, der mit einer Konvertitin verheiratet und Vater von vier Kindern ist, öffentlich sexuelle Enthaltsamkeit außerhalb der Ehe. Doch die Geschichten, die die Frauen jetzt über ihre Erfahrungen mit dem in der Schweiz geborenen Ägypter erzählen, klingen alles andere als fromm. Sie klingen auch mehr als pervers. Sie klingen pathologisch. Eine Pathologie, die Resultat von zu viel Macht sowie der Zerrissenheit zwischen Ideologie und Lebensrealität zu sein scheint.

Die erste, die das Schweigen brach, ist Henda Ayari. Die mit 18 mit einem Salafisten zwangsverheiratete Tochter einer Tunesierin und eines Algeriers war nach 20 Jahren Ehe ausgebrochen. 2016 hat sie ein Buch veröffentlicht. Darin berichtet die gläubige Muslimin von einer Kindheit unter der Fuchtel einer Mutter, die ihr mit dem Tode drohte, falls sie ihre Jungfräulichkeit verlieren sollte, sowie dem Milieu des Hasses gegen alle „Anderen“, in dem die Salafisten leben. Und bereits da spricht sie von einer Vergewaltigung 2012 in einem ­Pariser Hotel, nennt aber den Namen des Täters nicht.

Am 20. Oktober 2017 erklärte Ayari auf ihrer Facebook-Seite, sie habe sich jetzt entschlossen, Ramadan anzuzeigen. Am 24. Oktober reichte sie die Klage ein. Die Frauen, die öffentlich Weinstein angeklagt hatten, hatten sie ermutigt. Prompt wurde Ayari im Netz als „Lügnerin“, „Hure“ und „Zionistin“ beschimpft. Die Beschuldigung sei ein „jüdisches Komplott“ gegen den Muslim Ramadan. Ayari, die in Rouen lebt, steht inzwischen unter Polizeischutz. Ramadans Anwalt kündigte eine Anzeige wegen "Verleumdung und Falschaussage" an.

Am 27. Oktober ging eine zweite Frau an die Öffentlichkeit: eine 42-jährige französische ­Konvertitin, die in den Medien das Pseudo­nym Christelle hat. Ihre Anschuldigungen klingen noch schwerer, haben jedoch dasselbe Muster wie die von Ayari geschilderten Vorkommnisse.

Die Frauen sagen: Der Islamologe pflegte zunächst per E-Mail mit den tiefgläubigen Frauen über religiöse Fragen und Konflikte zu korrespondieren. Sodann bestellte er die Frauen in eine Hotellobby und schlug vor, doch in sein Zimmer zu gehen, um ungestörter reden zu können.

Die seit einem Unfall an Krücken gehende Christelle berichtete, dann habe er sie plötzlich mit den Worten: „Du hast mich lange warten lassen, das wirst du mir büßen!“ von hinten angefallen. Er habe sie geschlagen, penetriert, an den Haaren durch das Zimmer geschleift, sexuell erniedrigt. Sie habe geweint und geschrien, er solle aufhören. Vergeblich. Die Kleidung der Frau habe er so hochgehangen, dass sie sie kaum erreichen konnte, die Krücken versteckt. Erst gegen Morgen, als Ramadan im Bad gewesen sei, hätte sie fliehen können.

Das alles soll sich im Januar 2009 zugetragen haben. Christelles Anwalt Morain wies darauf hin, dass seine Mandantin in ­einem starken Abhängigkeitsverhältnis zu Ramadan gestanden habe, den sie wie einen Halbgott bewunderte, „wie in einer Sekte“. Und er kündigte an, weitere Opfer von ­Ramadan hätten sich bei ihm gemeldet.

Christelle war nach der Nacht mit Ramadan ins Krankenhaus gegangen, wo man schwere genitale Verletzungen konstatierte, an denen sie bis heute leidet. Es folgten Depressionen und ein Selbstmordversuch. In Marianne – eine der wenigen französischen Zeitschriften, die schon immer einen kritischen Blick auf Ramadan & seine Brüder hatte – erzählte Christelle, dass Ramadan sie danach über drei Jahre lang mit Psychoterror verfolgt habe. „Es war das Vergewaltigen, das ihm Lust gemacht hatte“, sagt sie im Rückblick.

2009 vertraute Christelle sich Caroline Fourest an. In ihrem Buch über den „Frère Tariq“ (Bruder Tariq) belegte die Nahost-Expertin dessen Doppelzüngigkeit und Machenschaften so fundiert, dass es eigentlich allen hätte die Augen öffnen müssen. Aber nein. Stattdessen wurde Fourest nun auch von manchen Medien geschnitten und von gewissen Linken und Liberalen als „Rassistin“, ­„islamophob“ und „Islam-Feindin“ beschimpft. Auch sie steht heute unter Polizeischutz. Die Journalistin hatte sich übrigens noch nie zum Islam geäußert, sondern ausschließlich zum Islamismus.

Doch Fourest, eine Kämpferin, ließ nicht locker. 2009 wagte sie im Fernsehen ein spektakuläres Streitgespräch mit dem als brillanter Redner bekannten Ramadan. An diesem Abend nahm Christelle Kontakt zu Caroline auf. Sie schien entschlossen, Ramadan anzuzeigen. Doch ein paar Tage später kam der Anruf: „Ich ziehe alles zurück.“ Christelle war zur Polizei gegangen und ­hatte gesagt: „Ich bin von Tariq Ramadan vergewaltigt worden und möchte Anzeige erstatten.“ Doch die hätten nur gelacht, „sie haben mich behandelt wie eine Verrückte“. Und dann folgten die Drohungen. Per Mail. Per Telefon. Und der Mann auf der Café­haus-Terrasse, der ihr zuzischte: „Hör auf. Oder du endest geselbstmordet in der Seine.“

Nun, acht Jahre später, traut Christelle sich. Nach der mutigen Anzeige von Henda Ayari habe sie sich gesagt: „Jetzt muss ich es tun! Ich kann sie doch nicht alleine lassen.“ Wenig später brach in Frankreich die öffentliche Debatte über die Rolle der ­honorablen Förderer von Tariq Ramadan los, ohne die der „Reformsalafist“ niemals hätte zum „Islamo-Star“ werden können. Es sind wohltönende Namen, die sich jetzt unangenehme Fragen gefallen lassen müssen – ob sie sich  ndlich auch selber Fragen stellen, ist fraglich. Darunter geschätzte Philosophen sowie linke Politiker und Journalisten.

Bernard Godard, der den Spitznamen „Monsieur Islam“ hat, weil er in mehreren Regierungen als Berater für den Islam zuständig war, blieb es vorbehalten, nach den Enthüllungen über Ramadan folgenden entlarvenden Kommentar von sich zu geben: „Dass er viele Geliebte hatte, dass er auf Portalen surfte, dass man ihm nach den Vorträgen Frauen im Hotelzimmer zuführte, dass er sie dazu animierte, sich auszuziehen, dass ihm einige Widerstand entgegensetzten und er aggressiv und gewalttätig werden konnte – ja. Aber nie habe ich von Klagen wegen Vergewaltigung gehört. Ich bin verblüfft.“

Ja, wer hätte das gedacht.

Ein ebenfalls hoch renommierter Linker, der für Gerechtigkeit in der ganzen Welt kämpft, der Schweizer Jean Ziegler, hatte sich schon sehr früh für Ramadan eingesetzt. Als der Dekan der philosophischen Fakultät in Genf Ramadans Doktorarbeit ablehnte wegen „Unwissenschaftlichkeit“ und „ideologischer“ und „tendenziöser Wertung“ der Muslimbrüder, sorgte Ziegler persönlich dafür, dass zwei andere Professoren und „Islamwissenschaftler“ die „Doktorarbeit“ abnickten. Und in Amerika war das Einreiseverbot für Ramadan unter der Regierung Obama aufgehoben worden. Im Namen des Dialogs.

Auch die Universität Oxford in Großbritannien tat sich noch lange nach dem Bekanntwerden der Anschuldigungen gegen Ramadan schwer zu reagieren. Schweigen. Erst nach einem von Aisha Ali-Khan lancierten Aufruf („Suspendiert Tariq Ramadan, bis die Anschuldigungen wegen Sex-­Attacken untersucht worden sind“) entschloss Oxford sich zu einer „einvernehmlichen Beurlaubung“ Ramadans. Vorläufig. Nicht nur Ramadans Lehrstuhl, das ganze Institut „Islamologie“ in Oxford wird von Katar finanziert.

Tariq Ramadan ist der Enkel des Gründers der Muslimbruderschaft, Hasan al-Bannā. Unter Präsident Nasser wurde diese Urzelle des Islamismus als „faschistisch“ bekämpft. Ramadans Vater ging zunächst nach Deutschland und dann nach Genf. In Ägypten sind auch heute wieder die Muslimbrüder als „Terrororganisation“ verboten. In Deutschland ist der „Zen­tralrat der Muslime“ lange wegen seiner Nähe zu den Muslimbrüdern vom Ver­fassungsschutz beobachtet worden. In dem europäischen Land mit dem anscheinend unkritischsten Verhältnis zu den Islamisten, Deutschland, wurde über den ­Ramadan- Skandal, der in Frankreich über Wochen Tagesthema war, bisher kaum ­berichtet. Angemessen informierten nur die FAZ und die FAS. Die FAS erinnerte daran, dass Tariq Ramadan das Vorbild für den Protagonisten in Michel Houellebecqs Roman „Unterwerfung“ sei: als Mohamed Ben Abbes, der erste mus­limische Präsident Frankreichs. Er hätte es werden können.

Alice Schwarzer

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