Güner Balci: Mein Heimatland

Güner Balci auf ihrem Kiez im Neuköllner Rollbergviertel. - FOTO: Jesco Denzel
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Güner Balcis Heimatland, das sind die Hände ihrer runden Tanten, die nach Zwiebeln riechen und blubbernde Kessel mit rotschwarzem Tee. Es ist Wettspringen vom Beckenrand im Columbiabad und Fernsehabende mit Hans Rosenthal. Es ist die Bude von Curry-Helmut auf der Karl-Marx-Straße, wo Güner mit ihren Freunden Oskar, Roby und Ali zusammen Schaschlik nach Helmuts Geheimrezept aß. „Mein Heimatland ist der Rollbergkiez, ist Neukölln, ist Berlin. Es ist der Aussichtsturm, der archimedische Punkt, von dem aus ich die Welt zu erfassen und einzuordnen versuche.“ 

Was Güner Balci, 50, von diesem Aussichtsturm aus sieht, hat sich in den letzten vier Jahrzehnten verändert. Und zwar auf so beunruhigende Art und Weise, dass sie nun ein Buch über ihr „Heimatland“ geschrieben hat. Denn sie sieht dieses Heimatland, das in seiner Verfassung Menschenwürde, Gleichberechtigung der Geschlechter und die freie Entfaltung der Persönlichkeit garantiert und das sie auch deshalb heiß und innig liebt, existenziell bedroht. „Durch die einen, die diesen Werten den Kampf angesagt haben, aber auch durch die anderen, die überhaupt nicht mehr wissen, was sie daran haben, und nicht erkennen, was verteidigt werden muss. Sie setzen leichtfertig ausgerechnet das aufs Spiel, was ziemlich einmalig ist in der Welt.“ 

Güners Vater arbeitet in der Fabrik und zieht zum Elternabend seinen besten Anzug an  

Seit fünf Jahren ist Güner Balci Integrationsbeauftragte von Neukölln. Zuvor hatte sie 20 Jahre lang als TV-Journalistin aufgeklärt über Probleme, die lange niemand sehen wollte: Hassprediger in Berliner Moscheen oder Sexismus und Antisemitismus unter Muslimen. Sie hat Romane geschrieben über arabische Jungs, die auf die schiefe Bahn geraten, und die „ArabQueen“ Miriam, die sich zwischen Zwangsheirat und Freiheit entscheiden muss. Diese Schicksale hat sie hautnah mitbekommen, als sie noch im Mädchentreff MaDonna im Rollbergviertel arbeitete. Dort hatte sie sich selbst schon als Siebenjährige die Nase am Fenster plattgedrückt und fasziniert beobachtet, wie Frauen drinnen Karate übten. Dass diese Frauen als lesbisch verschrieen waren, war Güners Eltern egal, auch wenn sie aus Ostanatolien stammten. Schließlich waren sie vor den Schlägen ihrer Eltern auch deshalb geflohen, damit ihre eigenen fünf Kinder, Jungen wie Mädchen, frei aufwachsen und eine Schulbildung bekommen konnten. 

Deshalb staunt die Mutter, selbst Analphabetin, „über die aufgeräumten Klassenzimmer, die ordentlich aufgereihten Lernmaterialien und die zugewandten Lehrkräfte“. Deshalb zieht sich der Vater seinen besten Anzug an, wenn er in die Schule zum Elternabend geht. Und er wird höchstpersönlich bei MaDonna vorstellig: „Entschuldig Sie bitte, kenn mein Tochter hier spielen?“ Später wird Güner als Sozialarbeiterin selbst bei MaDonna die Mädchen aus dem Rollbergviertel in Sachen Selbstbewusstsein stärken. 

Wir haben den Zeitpunkt verpasst, die muslimischen Menschen zu unterstützen

Doch das Viertel hat sich da schon verändert, zuerst schleichend, dann rasant. Begonnen hatte das in den 1980er-Jahren. Da kamen „immer mehr arabische Großfamilien in den Rollberg, ein großer Teil von ihnen war vor dem Bürgerkrieg im Libanon geflohen. Ihre Söhne beherrschten bald die Straße und die öffentlichen Plätze. Ihre ersten Opfer waren die Mädchen im Kiez, sie verschwanden aus der Öffentlichkeit, mussten zu Schattenwesen werden, denen die Selbstbestimmung abgesprochen wurde.“ Die Zeiten, in denen es „keinen nennenswerten Unterschied zwischen Mädchen und Jungen, zwischen Blonden und Dunkelhaarigen gab“, sind vorbei.

„Der Zuzug reaktionärer religiöser Menschen in unserem Viertel veränderte den Alltag aller und für alle. Mit jeder neuen Moschee breitete sich die Geschlechtertrennung weiter aus“, schreibt Balci. „Je mehr Kinder und Jugendliche nachmittags in den Koranunterricht gingen, desto mehr bestimmten angeblich religiöse Vorschriften ihren Alltag. Auch meine Kolleginnen und ich wurden von den Jugendlichen ständig mit Koranzitaten bombardiert.“ 

Noch glauben Güner und ihre Kolleginnen, dass sie nur genügend aufklären müssten über die Strategien der Fundamentalisten - und dass die Politik dann schon reagieren würde, ja: müsse. Denn „der reaktionäre Islam und die Stammessitten archaisch organisierter Familienclans hatte noch nicht die Deutungsmacht darüber erobert, was sich für Migranten gehörte und was sich verbot. Es war eine Zeit, in der vieles möglich gewesen wäre, um die Menschen aus muslimischen Ländern in ihren Nöten und Bedürfnissen aufzufangen, sie im Widerstand gegen ihnen aufgezwungene Lebensentwürfe zu unterstützen. Den Zeitpunkt haben wir verpasst.“ 

Sie sieht fassungslos, wie Islamisten für das Kalifat demonstrieren und die Hamas feiern

Heute muss Güner Balci erleben, wie an Silvester Banden junger Männer Bürgerkrieg spielen, während die Mädchen nach Sonnenuntergang komplett aus dem Straßenbild verschwunden sind. Sie sieht fassungslos, wie Islamisten für das Kalifat demonstrieren und das Massaker der Hamas am 7. Oktober mit Baklava feiern. Und sie ist erstaunt darüber, dass auf antisemitischen Demos vollverschleierte Frauen auf Queere in Netzstrumpfhosen und Federboas treffen.

Wieso, fragt sich Güner Balci, wurde, nicht nur, aber vor allem vom links-grünen Milieu, die Chance vertan, der lange absehbaren Entwicklung Einhalt zu gebieten? „Ich hätte nie gedacht, dass ich in meinem Heimatland eines Tages auf gebildete Frauen – Politikerinnen, Kirchenfrauen, Sozialarbeiterinnen, Journalistinnen – treffen würde, die sich für muslimische Prediger einsetzen, die bereits kleine Mädchen unter den Schleier zwingen.“ 

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Und wie kann es sein, dass sich angeblich fortschrittliche PolitikerInnen „bei Moscheebesuchen mit islamistischen Predigern fotografieren lassen, um das Selfie anschließend zu posten und ausgerechnet solche reaktionären Imame als Garanten eines ‚gelungenen interreligiösen Dialogs‘ zu legitimieren.“ Balci kritisiert diese „Appeasement-Politik gegenüber Islamofaschisten“ ebenso scharf wie die Tatsache, dass islamistische Verbände über Jahrzehnte „mit leichtfertiger Unterstützung der hiesigen Volksparteien zu scheinbar seriösen Ansprechpartnern für migrationspolitische Belange“ gemacht wurden. 

Ist das alles überhaupt noch zurückzuholen? Wenn sie das nicht glauben würde, hätte Güner Balci dieses Buch wohl nicht geschrieben. „In meiner ersten Arbeitswoche hatte ich Besuch von arabischen, kurdischen und türkischen Neuköllnern, Alte und Junge, sie kamen, um mir zu sagen: Frau Balci, bitte bleiben Sie so kritisch, lassen Sie sich nicht ein- schüchtern, dieses Land ist unser Land, wir dürfen es nicht den Extremisten überlassen!“ Es sind solche Erlebnisse, die Güner Balci Hoffnung für ihr Heimatland machen.“

Güner Yasemin Balci: Heimatland (Berlin Verlag, 24 €)

 

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