Genossin Manager

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Sie ist eine der mächtigsten Frauen Chinas. Sie ist mitverantwortlich für den chinesischen Wirtschaftsboom und jeder kennt ihren Namen - aber kaum jemand weiß, wer sie ist.
 

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Man erwartet helle Vitrinen und einen Blick über das größte Hochhausmeer der Welt. Doch im 30. Stock des mächtigen Baosteel-Towers in Shanghais neu erschlossenem Börsenviertel Pudong herrscht Bunkeratmosphäre. Es gibt keine Fenster, bloß dunkle Wände, davor karierte Sessel auf rotgrauem Teppich. So sieht kein Empfangssaal aus, in dem man sich zur Welt öffnet, sondern eine Höhle, in der man sich vor der Welt verschanzt.
Dementsprechend distanziert unterhält man sich an diesem Ort mit Xie Qihua. Es geht um Stahl, um viel Stahl. Doch wer würde am Ende nicht gerne wissen, was Chinas erfolgreichste Managerin in ihrem Privatleben treibt. „Musik hören, Berge besteigen“, sagt Xie. Weiter kommt sie nicht. Schon ist neben ihr der Propagandachef des Kommunistischen Parteikomitees aufgesprungen: „Persönliche Fragen waren nicht vereinbart“, unterbricht Fang Caiyuan das Gespräch und erklärt es – ruck, zuck! – für beendet. Sekunden später haben Xie und ihr Funktionärstross den dunklen Raum verlassen.
Weitere Nachforschungen sind zwecklos. „Wir dürfen die Frage nicht beantworten“, antwortet Pressesprecher Chen Jun. In Wirklichkeit ist Chinas bekannteste Business-Lady ein unbeschriebenes Blatt. Jeder kennt ihren Namen, doch keiner weiß, wie die Frau den sagenhaften Aufstieg meistern konnte.
Geboren 1943 in Shanghai, 1978 Ingenieursdiplom an der Pekinger Tsinghua-Universität, verschiedene Positionen im Baosteel-Konzern, seit 1998 Konzernchefin. Baosteel ist immerhin der sechstgrößte Stahlhersteller der Welt, viel größer als ThyssenKrupp aus Deutschland. Doch die Frau an der Spitze von Baosteel? Keine Veröffentlichungen, keine Nebentätigkeiten, keine Auslandserfahrung. Nichts.
An Auszeichnungen mangelt es nicht: Schon seit zwei Jahren rangiert Xie auf einer Liste des US-Magazins Fortune unter den fünfzig mächtigsten Frauen der Weltwirtschaft. In China gewann sie 2003 den Nationalpreis als Wirtschaftsfrau des Jahres. Sie ist eben die Chefin von Chinas größtem Stahlkonzern, der hinter dem Konkurrenten Posco aus Korea die weltweit größte Effizienz aufweist. Punkt.
Äußerlich tut Xie alles, um das Mysterium um sie zu nähren. Bei ihren regelmäßigen Treffen mit dem ThyssenKrupp-Vorstand, mit dem ihr Unternehmen ein Joint-Venture in Shanghai verbindet, trage sie „Anzüge wie aus der Mao-Zeit“, erzählen chinesische Beteiligte. Manche wundern sich, „wo sie solche Anzüge in Shanghai noch kaufen kann“. Xie sehe darin aus wie eine „Rentnerin aus Anhui“ – zu Deutsch: wie ein alte Amme, denn die Armenprovinz Anhui steht im Ruf, ganz China mit Kindermädchen zu versorgen.
Xies äußerliches Understatement macht den deutschen Stahl-Managern das Leben nicht immer leicht. „Auf Empfängen wird sie leicht übersehen. Man muss den Thyssen-Vorständen immer sagen: ‚Lasst die Frau da nicht sitzen‘“, erzählen Eingeweihte. Ob Xie solche Momente in der sonst komplett von Männern dominierten Welt des chinesischen Stahls genießt? Wenn dem so ist, lässt sie es sich jedenfalls nicht anmerken.
Kein Lächeln ist Xie zu entlocken. Fragen beantwortet sie zurückgelehnt. „Innerhalb von fünf Jahren haben wir 84.000 Mitarbeiter freigesetzt. Statt wie zuvor 176.000, haben wir jetzt noch 92.000 Arbeitsplätze“, berichtet Xie schnörkellos über die Reform ihres bis heute zu 75 Prozent staatseigenen Konzerns.
Xie sagt das ganz ungeniert, obwohl sie eine ranghohe Kommunistin ist. Tatsächlich zählt die Stahlmagnatin zu den ersten Firmenchefs der roten Republik, welche die Partei für die Mitgliedschaft im mächtigen Pekinger Zentralkomitee auswählte. Bereits der 15. Parteitag der KP Chinas im Jahr 1997 wählte Xie zur ZK-Kandidatin, und als solche wurde sie vom folgenden Parteitag 2002 bestätigt. „Das zeigt, dass die Regierung die Chefs der großen Unternehmen hochschätzt“, deutet Xie ihre politische Anerkennung.
Doch wer hätte an ihrer Hochschätzung in Peking gezweifelt? Wenn sie nur erklären könnte, wie sie als Kommunistin auf dem Posten die Hochachtung vor sich selbst bewahrte. „Wichtig ist, dass die Produktivität gefördert wird“, sagt Xie. „Das bedeutet: Egal, ob Kommunismus oder Kapitalismus, Hauptsache, das Lebensniveau der Menschen steigt. Doch anders als im Kapitalismus, wo nur wenige Leute reich sind, wollen wir, dass alle Leute reich werden.“
Warum aber hat China dann heute das am schnellsten wachsende Einkommensgefälle der Welt? Systemtheorie ist sicher nicht Xies Stärke. Doch sobald die Rede wieder auf ihr Unternehmen kommt, spricht sie glasklar: „Ein strategischer Schwerpunkt ist die Sicherung der Rohstoffzulieferung, insbesondere die Verstärkung der Zusammenarbeit mit ausländischen Lieferanten, ein anderer die Produktion von Autoblechen“, erklärt Xie. Genauso sehen es westliche Analysten. Als schon seit Jahren größter Stahlproduzent der Welt muss China auch in Zukunft immer mehr Erz für die Stahlherstellung importieren. Baosteel fällt hier die Pionierrolle zu. Unter Xies Führung investiert das Unternehmen in brasilianische und australische Minen.
Genauso wichtig für Baosteel ist die Steigerung der Stahlqualität vor Ort, die sich an der Herstellung anspruchsvoller Autobleche misst. Schon heute arbeitet Xie mit allen großen Fahrzeug-Konzernen des Landes zusammen und beansprucht für ihr Unternehmen in China einen Marktanteil bei Autoblechen von 50 Prozent.
Hinter diesem Erfolg verbergen sich langwierige Verhandlungen mit den Führern der Autobranche, angefangen bei Volkswagen und General Motors. Viele dieser Gespräche hat Xie persönlich geleitet. „Sie ist eine unheimlich harte, aber auch faire Verhandlungsführerin“, sagen ihre Partner bei ThyssenKrupp respektvoll. Wobei die Deutschen wissen, dass sie für Xie oft nicht die erste Wahl sind. „Sie liebt Japan“, haben die Thyssen-Leute lernen müssen.
Bei etwas über 100 Kilo im Jahr lag der Pro-Kopf-Verbrauch an Stahl in China 2003. In den sieben größten Industrienationen der Welt betrug er dagegen 600 Kilo. Früher, in Zeiten des Wirtschaftswunders, erreichte er im Westen sogar eine Tonne. Was aber, wenn die Chinesen es den Westlern gleichtun? „Sicher nicht. China wird nie 1.000 Kilo pro Kopf erreichen“, wehrt Xie ab. „Sonst würde es nicht reichen, allen Stahl der Welt nach China zu liefern.“ Doch erweckt sie nicht den Eindruck, ernsthaft über die Grenzen des Wachstums nachgedacht zu haben. Warum auch?
Die einen fordern von ihr eine Beteiligung an künftigen Transrapid-Projekten in China. Für die anderen soll sie die Hallen der Weltausstellung 2010 in Shanghai errichten lassen. Wieder andere wollen mit ihr neue Stahlfabriken im Ausland bauen. Xie kann sich nicht retten vor Angeboten. Kein Korruptionsverdacht, bestätigen Experten. Baosteel sei zuverlässig und solide, ein Vorzeigeunternehmen. Doch warum dann die ganze Geheimniskrämerei? Gibt es verborgene Entscheidungsstrukturen? Ist Propagandachef Fang am Ende mächtiger als seine Chefin?
„Sie muss dem Druck der Politik standhalten, wir dem Druck der Rationalisierung“, sagt Yan Lu, ein 37-jähriger Hochofen-Arbeiter des Baosteel-Stammwerks in Baoshan außerhalb von Shanghai. Seit 17 Jahren ist Yan im Betrieb. Xie seit 27 Jahren. Sie regelt den Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft. Das aber ist in zahlreichen Staatsbetrieben ein unsauberes Geschäft. Eine unabhängige Justiz, die über den Reformprozess wacht, gibt es nicht. Überall im Land gibt es heute Arbeiterproteste, die sich gegen korrupte Management-Praktiken richten.
Was Top-Managerin Xie von der Manager-Moral im Land hält, sagt sie nicht. Lieber lässt sie ihre Nüchternheit und ihren offensichtlichen Verzicht auf Luxus für sich sprechen.
Georg Blume, EMMA 4/2005
Der Autor ist seit 1997 Korrespondent von Zeit und taz in Peking. – Der Text erschien zuerst in der Zeit.

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Dossier: China

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