Zur Leugnung der Machtverhältnisse
Ich muss zum ersten Mal um 1973 vom sexuellen Missbrauch gehört haben, vom Inzest, wie es damals hieß. Das war die Zeit der sogenannten Consciousness Raising Groups, in denen Feministinnen in kleinen geschlossenen Gruppen über ihre ganz persönlichen Erfahrungen sprachen. Damals tauchte in Paris die Kunde von den drei Spanierinnen auf, den „drei Marias“, die, unter Pseudonym, über ihren eigenen Missbrauch geschrieben hatten.
In Deutschland drang das dunkle Geheimnis dann aus dem ersten Frauenhaus in Berlin: Väter missbrauchen die eigenen Töchter. Von Institutionen – wie Schulen und Heimen – war da noch nicht die Rede. Im April 1978 erschien in EMMA die erste Veröffentlichung im deutschen Sprachraum über „Das Verbrechen, über das niemand spricht“. Resonanz gleich Null. Das Tabu war noch übermächtig.
Immerhin bildeten sich einige Jahre später die ersten Hilfsorganisationen wie „Wildwasser“. Vorsichtig, ganz vorsichtig, begannen die Opfer zu reden. Denn Opfer waren in der Zeit kein Thema. Die Täter waren in der Offensive.
So plante 1980 die SPD/FDP-Regierung im Nachklapp zur großen Sexualstrafrechtsreform gar die ersatzlose Streichung des § 176, der Sexualität mit Kindern unter Strafe stellt. Aus heutiger Sicht scheint es kaum fassbar, dass EMMA damals die einzige Stimme war, die sich dagegen stellte. Amendt, der Autor von „Sexfront“, war dabei. Mit Wucht. Es gelang uns gemeinsam, die Streichung zu verhindern – sonst wäre Sexualität mit Kindern in Deutschland heutzutage noch nicht einmal mehr strafbar.
Weite Teile des fortschrittlichen Milieus und auch Mitglieder der geachteten „Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung“, wie der bekennende Pädophile Prof. Helmut Kentler, spielten damals eine fatale Rolle bei dem Versuch der Legalisierung der Sexualität von Erwachsenen mit Kindern. Eine (selbst)kritische Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels auch in der deutschen Sexualforschung ist bis heute überfällig.
Stattdessen veröffentlichte der 2023 verstorbene Sexualforscher Volkmar Sigusch 2010 „zehn Thesen“ zum sexuellen Missbrauch. Darin schwärmt er vom „Paradies der Kindheit“, der „Erotik des Leibes und des Herzens“ und der „kindlichen Erotik“. Pädophile, die sich „Bilder im Internet anschauen, aber nicht ein vorpubertäres Kind sexuell begehren“, fand der Sexualforscher eigentlich harmlos. Und: „Sehr wenige (Pädophile) wenden Gewalt im üblichen Sinne an.“
Der Sexualforscher schien nicht begriffen zu haben, dass gerade diese Mischung zwischen hie scheinbarer Fürsorglichkeit und da sexueller Übergriffigkeit fatal und oft das größte Problem für die abhängigen Kinder ist. Weil sie aus emotionaler Bedürftigkeit „mitmachen“– und dann womöglich auch noch selber ein schlechtes Gewissen haben. Auch schien es noch nicht zu dem Frankfurter Sexualforscher vorgedrungen zu sein, dass die „Bilder im Internet“ keine Fantasieprodukte, sondern Bilder von Taten sind. Bilder, deren öffentliche Existenz die Opfer Tag für Tag erneut erniedrigen und verletzen.
Und was eigentlich meint der anerkannte Sexualforscher mit der „kindlichen Erotik“? Erotik impliziert schließlich geschlechtliches Begehren – doch genau das hat ein Kind in diesem Sinne nicht. Es hat eine Sinnlichkeit, ein Bedürfnis nach Zärtlichkeit und Zuneigung – und eine erwachende Sexualität. Aber das ist etwas ganz anderes als die reife Sexualität des Erwachsenen.
Nein, Sigusch führte, dreißig Jahre später, noch immer den Diskurs der 1970er und 1980er Jahre, der hohen Zeit der falschen „Kinderfreunde“. Damals war Pädophilie auch für die taz ein „Verbrechen ohne Opfer“. Nach dem Schock der Enthüllungen aus der Odenwaldschule hat die taz erst 2010 erstmals mit einer selbstkritischen Aufarbeitung ihrer Rolle bei der Verharmlosung, ja Propagierung des sexuellen Missbrauchs begonnen. Das Blatt, das Anfang der 1980er Jahre ein zentrales Forum der Pädophilie-Propaganda war, schreibt rückblickend: „Aus heutiger Sicht ist das erschreckend.“ Wie wahr.
Es war übrigens schon damals erschreckend. Und es gab immer schon Gegenstimmen.
Doch die taz war keineswegs nur ein Spiegel der herrschenden Verhältnisse, die taz war führend und meinungsbildend bei diesem Thema. Kern des Problems war dabei immer die Leugnung der Machtverhältnisse: zwischen Erwachsenen und Kindern oder auch zwischen Männern und Frauen. Eine scheinbare Gegenseitigkeit und Einverständlichkeit wurde suggeriert: bei der Sexualität von Erwachsenen mit Kindern oder bei der Prostitution.
Lange hat diese Verschleierung der Machtverhältnisse und Verhöhnung der Opfer nur eine – dafür verspottete – Minderheit empört. Nur allmählich wandelte sich der Zeitgeist. Die Libertären, die sich im Namen des Fortschritts die neuen, alten Freiheiten weiterhin auf Kosten von Schwächeren und Abhängigen genommen haben, geben nicht länger den Ton an in der Republik.
Nachdem Feministinnen die ganze Misere in den 1970ern aufzudecken begannen, schlug ihnen in den 1980er und 1990er Jahren der Slogan vom „Missbrauch des Missbrauchs“ entgegen. Auch hier war wieder die taz führend. Lanciert wurde die Unterstellung von dem 68er-Sozialpädagogen (und Gründer des deutschen „Kinderschutz-Zentrums“) Prof. Reinhart Wolff sowie der Ex-Lehrerin und Autorin Katharina Rutschky.
Der Slogan besagte in Kurzfassung: Dieses ganze Missbrauchs-Gerede ist eine Mär von Feministinnen, die sich damit Jobs bei Beratungsstellen verschaffen, und Müttern, die sich an Vätern rächen wollen. Ach so. Na dann.
Sicher, beides kann vorkommen. Alles ist möglich. Dass eine womöglich selbst traumatisierte Feministin in einer Beratungsstelle etwas in ein Kind hinein interpretiert; dass eine rachsüchtige Mutter dem Vater etwas anhängen will – das alles ist nie auszuschließen, und der Wahrheit muss von Fall zu Fall auf der Spur geblieben werden.
Aber wir wissen aus den Statistiken, dass in keinem kriminellen Bereich die Falschbeschuldigungen so rar sind wie bei den Sexualdelikten (wenige Prozent). Warum? Ganz einfach: Weil bis heute immer auch die Opfer dran sind. Hat sie nicht doch provoziert? Hatte sie nicht ein fragwürdiges Vorleben? Fantasiert das Kind das nicht alles?
Und: Interessierte Kreise haben es tatsächlich geschafft, dass das Zeugnis eines Vorschulkindes bei einem deutschen Gericht juristisch kaum zählt, da es grundsätzlich nicht als „gerichtsfest“ gilt. Es ist ja nur ein Kind und weiß daher nicht, was es redet.
Die Kinder bleiben Freiwild. Mitten in Deutschland. Bis ins 21. Jahrhundert hinein. Seit ein paar Jahren allerdings hat sich immerhin die Haltung durchgesetzt, dass Pädosexualität nun doch ein Verbrechen ist und Pädophile krank sind. Inzwischen ist klar, dass diese frühe, tiefe Prägung des Begehrens von Kindern nicht geheilt werden kann. Das Maximale, was Therapeuten bei eigenem Problembewusstsein der Pädophilen erreichen können, ist eine Bereitschaft zur Selbstkontrolle: Dass sie es nicht tun!
Doch reden wir, wenn wir von Pädophilen reden, nur von einer winzigen Minderheit der Männer, die sich konkret an Kindern vergehen. Von etwa fünf Prozent, laut aktueller Schätzungen in der Sexualmedizin. Vermutlich, die restlichen 95 Prozent sind Gelegenheits-Pädophile. Männer, denen der Sex mit erwachsenen Frauen (bzw. Männern) zu anstrengend ist. Männer, die durch die medial grassierende Kinderpornografie auf die Idee gebracht werden. Männer, die es einfach tun, weil sie es tun können. Weil sie die Macht dazu haben.
Der beste Schutz für ein Kind ist und bleibt: eine starke Mutter, ein fürsorglicher Vater und ein aufgeklärtes, verantwortungsbewusstes Umfeld. Daran arbeiten wir weiter.
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