Zwangsheirat: Die Mädchen schützen!
Shazia war 18 Jahre alt und hatte gerade die Schule beendet, als sie ihrem Vater das erste Mal von ihrem Freund erzählte. „Wir wollen heiraten“, gestand sie ihm. Anfangs schien die Beziehung den Vater nicht zu stören. Aber dann schlug er vor, nach Pakistan zu reisen, um „die Verwandten zu besuchen“. So wie jedes Jahr im Sommer. „Ich habe mir anfangs gar nichts dabei gedacht“, erzählt Shazia rückblickend im Gespräch mit EMMA.
Die meisten Mädchen ahnen vorher nicht, was ihnen droht.
Am Ende des Urlaubs nahm der Vater ihr plötzlich den Reisepass und das Handy ab und brachte Shazia zu seiner Mutter. „Er sagte mir, dass er mich nun zurücklassen würde, damit er mir einen Jungen zum Heiraten aussuchen kann.“
Bei der Großmutter fühlte sich Shazia wie eine Gefangene. Sie durfte das Haus nicht verlassen, wurde ständig kontrolliert und hatte keine Möglichkeit, Kontakt mit der Außenwelt aufzunehmen. Erst nach Monaten der Ohnmacht und Verzweiflung gelang es der jungen Frau zu fliehen. Sie reiste auf eigene Faust zur Deutschen Botschaft in Islamabad. Aber anstatt schnelle Hilfe zu finden, begann nun ein bürokratischer Hürdenlauf. Denn ihre deutsche Geburtsurkunde, ihren pakistanischen Ausweis, ihre deutsche Meldebescheinigung und viele weitere Dokumente hatte sie natürlich nicht eingepackt, als sie Monate zuvor nach Pakistan aufgebrochen war. Es sollte ja nur ein kurzer Besuch bei den Verwandten sein. Diese Geschichte allerdings wollte ihr in der Deutschen Botschaft offenbar niemand glauben.
Shazia suchte Hilfe im Internet. Und wurde fündig. Sie schrieb dem Hilfsverein „Papatya“ in Berlin. Papatya (türkisch: „Kamille“) engagiert sich seit 30 Jahren für Mädchen und junge Frauen mit Migrationshintergrund, die aufgrund kultureller und familiärer Konflikte von zu Hause geflohen sind und von ihren Familien bedroht werden.
Der Verein kontaktierte sofort die Deutsche Botschaft, damit die verschleppte junge Frau die Wiedereinreise-Erlaubnis nach Deutschland erhielt. Doch das Visum ließ auf sich warten. Die geplante Zwangsheirat rückte immer näher. Schließlich schaltete der Verein eine Rechtsanwältin ein. Bis Shazia wieder nach Deutschland zurückkehren konnte, vergingen zwei Jahre.
Shazia ist kein Einzelfall. Der Schulabschluss oder die Sommerferien, die in diesen Tagen in den ersten Bundesländern beginnen, sind nicht für alle Schülerinnen Grund zur Freude. Denn auch in diesem Jahr werden allein in Berlin wieder mehrere hundert Mädchen und junge Frauen, die in Deutschland leben, gemeldet und schulpflichtig sind, aus den Sommerferien nicht zurückkehren. Ihnen droht ein ähnliches Schicksal wie Shazia.
Zwar gibt es keine konkreten Zahlen darüber, wie viele Minderjährige jährlich in den Herkunftsländern ihrer Familien gegen ihren Willen verheiratet werden, doch 2018 hat der Berliner „Arbeitskreis gegen Zwangsverheiratung“ 1.164 Einrichtungen befragt - von Frauen- und MIgrationsprojekten über Polizei, Jugendämter und Schulen bis hinzu Flüchtlingsunterkünften, von denen 420 antworteten. Allein für das Jahr 2017 wurden 570 Fälle von versuchter oder erfolgter Zwangsverheiratung bekannt. Viele Betroffene waren minderjährig und wurden in den Sommerferien verheiratet. Die meisten Opfer waren arabischer oder türkischer Abstammung und zu 93 Prozent weiblich. Aber auch in Familien aus dem Kosovo, dem Libanon, dem Irak, aus Afghanistan oder Tschetschenien kommt es vor, dass die Mädchen in die Heimatländer verschleppt werden, um sie dort zu verheiraten.
Das Bezirksamt von Berlin-Neukölln hat sich in einem Schulbrief an LehrerInnen, SchulsozialarbeiterInnen und auch an BetreuerInnen von Jugendeinrichtungen gewendet, um für das Thema zu sensibilisieren und bedrohten Mädchen Vorsorgemaßnahmen und Möglichkeiten zur Rückkehr aufzuzeigen. Zunächst werden LehrerInnen und BetreuerInnen aufgefordert, das Thema im Unterricht oder im direkten Gespräch zu behandeln. Sie sollen bei Verdacht zudem zusammen mit der Schülerin vorab schon das Jugendamt oder eine Beratungsstelle informieren.
„Rund 50 Prozent der Mädchen und Frauen, die sich an uns wenden, haben eine Vorahnung, dass Verwandte planen, sie zu verheiraten“, berichtet Eva Kaiser von Papatya. „Wir bekommen immer wieder Mails aus dem Ausland, in denen Betroffene uns schreiben, dass sie festgehalten werden. Und wenn die Mädchen einmal in Syrien, Libanon oder Pakistan angekommen sind, dann wird es für uns schwierig bis unmöglich, etwas zu tun. Vor allem, wenn sie keinen deutschen Pass haben.“
Damit es gar nicht erst so weit kommt bzw. die Hilfsorganisation im Falle einer Verschleppung und drohender Zwangsheirat größere Chancen auf Rückholung des Opfers hat, empfiehlt Papatya Prävention. „Es ist wichtig, dass Lehrerinnen und Lehrer konkrete Maßnahmen aufzeigen“, sagt Kaiser. „Zum Beispiel ein Gespräch mit einer Vertrauenslehrerin, das jedes Mädchen mit einem mulmigen Gefühl vor den Ferien führen kann“.
Es könne zudem helfen, die Vermutung aufzuschreiben und das Schriftstück bei LehrerInnen oder weiteren Vertrauenspersonen zu hinterlegen, am besten zusammen mit einer eidesstattlichen Erklärung, dass die junge Frau nicht heiraten und nach Deutschland zurückkehren möchte. Auch eine vorab ausgestellte Vollmacht für einen Rechtsanwalt, der sie im Verschleppungsfall vertreten kann, macht es Vereinen wie Papatya und auch den Behörden einfacher zu helfen. Allerdings ist auch darauf nicht 100-prozentig Verlass: Denn eine Minderjährige kann genau genommen rechtlich gesehen noch keineN AnwältIn bevollmächtigen.
Gute Idee: Einen Metalllöffel in die Unterhose stecken.
Immer gilt: Die Betroffenen sollten ein Extra-Handy und auch die Adresse der deutschen Botschaft gut im Gepäck verstecken, damit sie in einer Notsituation sofort Kontakt mit ihrer Vertrauensperson in Deutschland aufnehmen können. Daher sollte der eigene Pass sowie die Flugtickets kopiert und sicher im Gepäck versteckt werden, ebenso wie ein Handy mit einer Prepaid-Karte, die auch im Ausland funktioniert. Auch an einen Bargeldvorrat sollte gedacht werden.
Falls das Mädchen keine Möglichkeit sieht, derart vorzubeugen, so stehen Kinderschutzexperten unter der bundesweiten „Nummer gegen Kummer“ 116111 zur Verfügung.
Eine gute Idee kommt übrigens aus Göteborg: Die Betroffene steckt sich kurz vor der Personenkontrolle auf dem Flughafen einen Metalllöffel in die Unterhose. Wenn dieser im Metalldetektor entdeckt wird, muss die Person in einem gesonderten Raum alleine untersucht werden. Eine Chance für die Mädchen, sich den Sicherheitsbeamten gegenüber als schutz- und hilfsbedürftig zu outen. Ohne dass die Eltern es mitbekommen.
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