Apropos Hilferufe in Primark-Kleidung

"Unwürdige Arbeitsbedingungen in dem Ausbeuterladen" steht auf dem Etikett.
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Liebe Renate,

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ganz vielen Dank noch mal für das schöne Wochenende, das ich wieder mal mit euch allen im Süddeutschen verbringen durfte. Jetzt hat mich mein Hamburger Arbeits­alltag erneut voll im Griff. Gerade sitze ich an einer Geschichte über die deutschen Textilhersteller und -händler, die ihre hier angebotenen Jacken, Hosen, T-Shirts, Blusen oder sonstigen Kleidungsstücke im Billiglohnland Bangladesch fertigen lassen. Da kamst du mir wieder in den Sinn.

Weißt du noch, auf eurer samstäglichen Grillparty trug deine Tochter Laura dieses freche, bunte T-Shirt, das sie sich von ihrem Taschengeld selbst gekauft hat – für gerade mal 3,99 Euro. Du seiest stolz auf deine Zehnjährige, hast du gesagt. Sie beweise immerhin, dass sie mit den 15 Euro, die sie im Monat von euch zum Verklimpern bekommt, umsichtig und sparsam haushalte. Das ist tatsächlich nur zu begrüßen, das kann ich voll unterschreiben: Kinder sollten schon frühzeitig lernen, dass Geld nicht auf den Bäumen wächst, sondern hart erarbeitet werden muss und dass daher die Ausgaben nie höher als die Einnahmen sein sollten.

Eine Art moderne Fabrik-Sklaverei in einem Entwicklungsland

So weit, so positiv. Laura hat durchaus begriffen, dass ihre Eltern – du in deinem medizintechnischen Labor und dein Mann im Autokonzern – euer Geld und damit auch ihr Taschengeld hart erarbeiten müssen. Sie weiß aber noch nicht, wer noch härter und dazu unter unwürdigen, manchmal auch todbringenden Bedingungen arbeiten musste, damit sie ihr tolles T-Shirt zu ­diesem Spottpreis erstehen konnte.

Das ist, nicht zuletzt, auch ein großes Frauenthema. Frauen in Ländern wie Pakistan, Indien, China, vor allem aber Bangladesch setzen mitunter sogar ihr Leben aufs Spiel, damit Laura ihr T-Shirt-Schnäppchen machen kann, und Textildiscounter, Supermärkte oder Kaufhäuser mit ­renommiertem Namen Profit erwirtschaften.

Du hast sicher mitbekommen, dass erst im April hunderte von Näherinnen bei einem Gebäudeeinsturz in Bangladeschs Hauptstadt Dakha starben. Fünf Monate zuvor brannte unweit von dieser wild und ungenehmigt in die Höhe gebauten Fabrik eine andere aus, wobei mindestens 112 Näherinnen ums Leben kamen. 4500 solcher Textilfabriken gibt es in Bangladesch, es ist der mit Abstand wichtigste Wirtschaftszweig eines Landes, das sich nach China zum zweitwichtigsten Textilfabrikanten für die Welt hochgearbeitet hat.

Vier Millionen Menschen arbeiten dort in der Textilproduktion, die 80 Prozent des Exportumsatzes Bangladeschs erwirtschaften. Vor allem Frauen. Die meisten Näherinnen wohnen in Slums unweit der Fabriken, viele können kaum schreiben und lesen. Sie schuften für 4000 Taka (umgerechnet 38 Euro), nein, nicht am Tag, nicht in der Woche – im Monat! Eingepfercht in stickige, oft fenster­lose Fabrikhallen. Zehn Stunden am Tag, manchmal zwölf. Oft werden die Löhne erst Wochen später bezahlt, Mutterschaftsurlaub ist ein Begriff, den die meisten noch nicht einmal gehört haben. Bis heute werden Überstunden meist nicht bezahlt. Wer es wagt, zu einer Gewerkschaft zu gehen, wird gefeuert.

Trotzdem sind für die Frauen im Entwicklungsland Bang­ladesch Textilfabriken praktisch die einzige Möglichkeit außerhalb der Landwirtschaft, selbst Geld zu verdienen, eigenständiger zu werden. Das bedeutet für sie einerseits Befreiung. Aber ich frage mich: zu welchem Preis? Um den, dass deine Tochter Laura mit ihrem überschaubaren Taschengeld haushalten lernt? Um den, dass west­liche Textilhersteller einen möglichst hohen Profit einfahren?

Gewerkschafter in Bangladesch, die schon seit langem um bessere Arbeitsbedingungen für die Näherinnen kämpfen, sagen daher nicht von ungefähr: „Mord im Namen des Profits. Die Arbeiterinnen und Arbeiter von Bangladesch mussten mit ihrem Leben dafür bezahlen, dass Verbraucher im Ausland preiswert Kleidung kaufen können.“ Aber ebenso dafür, dass die bangladeschischen Unternehmer und Fabrikeigner – also Frauenausbeuter – mittlerweile jährlich 15 Milliarden Euro Umsatz mit dem Export vor allem in westliche Industrieländer erzielen. Und die Kunden hierzulande freuen sich, wenn sie wieder mal ein Kleider-Schnäppchen machen konnten.

Ein Geschäft offenbar, das bisher für alle gut lief und läuft. Auch wenn selbst die Weltbank der Bekleidungs­industrie Bangladeschs nach den letzten Katastrophen eine „schwere Imagekrise“ bescheinigt. Allerdings erwähnt sie nicht, dass dazu solche Großabnehmer wie Walmart, H&M, Sears, Gap, Tommy Hilfiger, C&A oder bis vor kurzem auch KiK ihren Beitrag leisten. Die schauen weg, geben sich ahnungslos oder machen halt­lose Versprechungen. Sie üben nicht genügend Druck auf die Produzenten aus, damit diese für menschenwür­dige Arbeitsbedingungen sorgen. Einen von Gewerkschaften unterstützten Antrag für mehr Sicherheit in Bangladeschs Textilindustrie lehnen die Bekleidungs­marken und Einzelhändler bisher ab.

Das alles sollten wir wissen, wenn wir ein Billig-T-Shirt kaufen und es nach fünfmal Tragen wegwerfen, weil es ­unansehnlich geworden ist. Aber: Bei alledem dürfen wir gleichzeitig nicht vergessen, dass Bangladesch als ehemals Teil von Britisch-Indien und dann Pakistan erst 1971 ­unabhängig wurde, nach einer Art staatlich verordnetem Sozialismus erst 1991 wirklich freie Wahlen einführte und sich zaghaft marktwirtschaftlichen Prinzipen öffnete. ­Seither hat sich das Wirtschaftswachstum verdreifacht, nicht zuletzt dank der Investoren aus der westlichen ­Textilwirtschaft. Ja, auch die Löhne haben sich inzwischen verdoppelt, auch wenn sie uns mit 38 Euro im Monat für unsere Verhältnisse empörend niedrig erscheinen. Aber sie haben – vor allem den Frauen in Bangladesch – Wege aus bitterstem Elend geboten.

Befreiung - aber um welchen Preis?

Das Land beschreitet gerade denselben Weg, den die frühindustrialisierten Länder des Westens schon vor 150 Jahren gegangen sind. Warum verließen die Menschen in Europa damals in Scharen die Landwirtschaft, um sich dann in den Städten in Fabriken „ausbeuten“ zu lassen? Ganz einfach: Die Fabrikarbeit war relativ lohnenswerter als die Landarbeit, die häufig nur durch gelegentliches ­karges Essen „entlohnt“ wurde. Über die anfängliche Ausbeutung der Aufstrebenden kann frau viel bei den Zeitzeugen Karl Marx und vor allem Friedrich Engels nachlesen.

Ja, richtig, Laura verdankt ihr schickes T-Shirt nicht ­zuletzt wohl einer Art moderner Fabrik-Sklaverei in einem Entwicklungsland. Aber gleichzeitig muss sie daran denken, dass bei einem Boykott von Billig-Klamotten hierzulande auch die Existenz vieler Textilarbeiterinnen auf dem Spiel stünde. Die Unglücke in den Fabriken Bangladeschs, die weltweit Aufmerksamkeit fanden, sorgen aber dafür, dass die Weltöffentlichkeit genauer hinschaut. Und dafür, dass die Gewerkschaften dort – wie vor 150 Jahren hier­zulande – für bessere Arbeitsbedingungen für diese ­Näherinnen kämpfen können.

Ich denke, spätestens bei unserem nächsten Treffen wollen wir Laura mal diese komplizierten Zusammenhänge erklären. Sie ist ja schlau und begreift vieles auf Anhieb. Ich würde ihr nahebringen wollen, dass sie als internet­affine „Digital Native“ darauf achten soll, ob die bangladeschische Welt-Nähstube Fortschritte hinsichtlich ­Menschen- und Frauenrechte gemacht hat – und wenn nicht, wie sie zur Unterstützung der Ausgebeuteten ­beitragen könnte.

KäuferInnen heute haben die Macht, aber es war noch nie so kompliziert, sie verantwortungsbewusst einzusetzen. Mir schwirrt schon selber der Kopf – aber ich grüße dich wie immer herzlich deine

Dagmar

Was können wir tun? Druck auf die Hersteller machen?
Antworten unter: www.saubere-kleidung.de

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