"Alle wussten es"
Seinen ersten Freier hatte Maxi mit 15. Besorgt hatte ihn seine eigene Mutter. Die hatte ihren Sohn mit 14 aus Rumänien nach Dortmund geholt, wo sie mit ihren anderen Kindern lebte. Bald beichtete Maxi, dass er auf Jungs steht. Reaktion der Mutter: „Sie hat mich kaputtgeschlagen.“ Was sie nicht hinderte, Kapital aus ihrem femininen Sohn zu schlagen. Der Freier holte Maxi mit dem Mercedes ab. Als er mit ihm fertig war, „lief ihm das Blut seine Beine und die Tränen seine Wangen hinunter“.
So schreibt es Journalistin Sophie Sommer in ihrer Reportage, die den Titel eines Satzes von Maxi trägt: „Ich spüre noch immer seine Hände auf mir“. Für diese Reportage wurde die Politikredakteurin der WAZ, der größten Tageszeitung im Ruhrgebiet, mit rekordverdächtig vielen Preisen ausgezeichnet: dem Theodor-Wolff-Preis der deutschen Zeitungsverleger, dem Wächterpreis der Tagespresse, dem Heinrich-Heine-Preis des Vereins Düsseldorfer Journalisten – und zuletzt dem Recherchepreis des Kölner Stadtanzeiger und der Lingen-Stiftung für JournalistInnen unter 35, den ihr KStA-Chefreporter Joachim Frank überreichte.
Eine mutige und beharrliche Journalistin hat in einer vielfach prämierten Reportage ein dunkles, aber offenes Geheimnis in Dortmund aufgedeckt: die grassierende Kinderprostitution. Sophie Sommer hat das Schicksal von Maxi und vielen anderen recherchiert. Oft werden sie von den eigenen Eltern zum Anschaffen geschickt.
Acht Monate lang hat Sophie Sommer, 29, recherchiert. Sie hat mit SozialarbeiterInnen gesprochen, mit Polizisten und Staatsanwältinnen – und mit Opfern wie Maxi. Denn der Roma-Junge ist nur einer von vielen. Und Dortmund nur eine von vielen Städten, in denen sich Kinder und Jugendliche, Jungen wie Mädchen, an Männer verkaufen. „Dortmund allerdings ist besonders beliebt bei Freiern“, weiß die Journalistin. „Um zu verstehen, warum so viele von ihnen auf der Suche nach Sex mit Kindern und Jugendlichen ausgerechnet hierhin kommen“, schreibt sie, „muss man den Sonderweg der Stadt in der Prostitution betrachten: In Dortmund wollten sie nämlich vor einigen Jahren beweisen, dass das ‚älteste Gewerbe der Welt‘ mittlerweile auch ein ganz normales sei.“ Die Stadt richtete einen Straßenstrich ein, gut beleuchtet, plus 20 „Verrichtungsboxen“, nebenan der Sozialdienst katholischer Frauen in Containerbüros. Der städtisch organisierte Strich sollte die Prostitution sicherer machen.
Doch das ging gewaltig schief. „Lange galt das Dortmunder Modell als Erfolg in ganz Europa. Nach dem EU-Beitritt im Jahr 2007 kamen aber Hunderte Frauen aus Bulgarien und Rumänien, die meist von ihren Familien zur Prostitution gezwungen wurden. Die Nordstadt wurde nicht nur zum ‚Puff Europas‘, sondern auch ein Anziehungspunkt für kriminelle Banden. 2011 erklärte die Stadt das Dortmunder Modell für gescheitert.“
Nun aber war es zu spät für Maxi und viele andere Jungen und Mädchen, die von ihren Familien als Beschaffer des Familieneinkommens eingesetzt werden. Sommer schreibt: „Für seine Familie, sagt Maxi, wurde er zu einem ganz großen Business. ‚Alle wussten es: Oma, Onkel, einfach alle. Sie fanden es toll, dass ich ihnen so viel Geld einbringe.‘“
Sophie Sommer erklärt einfühlsam, aber ohne zu entschuldigen, warum nicht nur, aber besonders in der Roma-Community die Kinderprostitution so verbreitet ist. Die unvorstellbare Armut in den Heimatländern, die Diskriminierung und die Tatsache, dass sich Prostitution oft von Generation zu Generation „vererbt“. Auch Maxis Mutter hatte sich früher prostituiert.
Was die Reporterin besonders erschüttert: „Wenn überhaupt, wurde ab und zu mal ein Zuhälter verurteilt. Aber bisher kein einziger Freier!“ erzählt sie im Gespräch mit EMMA. „Das Kernproblem ist: Die Täter werden nicht angezeigt.“ Die Kinder wagen es nicht und ihre Familien wollen nicht, dass ihre Geldquelle versiegt.
Hatte ihre so vielbeachtete Reportage Konsequenzen? „Die Stadt hat eine Kommission zur Aufarbeitung gegründet. Aber offiziell hat sich bisher noch niemand geäußert“, erzählt sie. Eins aber ist doch passiert und das findet Sophie Sommer ermutigend: „Maxi hat Anzeige gegen die eigene Mutter erstattet.“
Ausgabe bestellen

