Skandalöse Ermittlungen in Winnenden

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Von der Tat am 11. März 2009 bis zur offiziellen Pressemitteilung haben die Staatsanwaltschaft Stuttgart und die Polizei Waiblingen sich zehn Wochen Zeit gelassen. Zeit genug, sollte man meinen, einigen Fragen auf den Grund zu gehen. Dennoch kommt der dreiseitige Bericht seltsam dünn und faktenarm daher – gleichzeitig jedoch voller Gewissheiten. Zentralen Fragen wird aber ausgewichen oder sie werden gar nicht erst gestellt. Zum Beispiel:

  • Schoss Tim Kretschmer gezielt auf die Köpfe der Schülerinnen und des Schülers?
  • Warum ließ er Dennis leben, den Schüler in der letzten Reihe, der neben seinen ersten beiden Opfern saß?
  • Welche Schlüsse sind daraus zu ziehen, dass der Amokläufer im Internetforum Kwick.de unter dem Namen JawsPredator1. 2008 von dem amerikanischen Serien-Frauenmörder Ted Bundy schwärmte?
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In dem Pressebericht der Ermittler erfahren wir zehn Wochen nach der Tat über diese brisanten Punkte nichts. Da heißt es nur lapidar:

"Im Obergeschoss öffnete er die Zimmertüre des Klassenzimmers 305 und schoss sofort mit einer Pistole Baretta, Kal 9 mm, auf mehrere mit dem Rücken zu ihm sitzende Schüler. Hierbei wurden drei Schülerinnen getötet, vier Schüler, zwei Schülerinnen sowie eine Lehrerin zum Teil schwer verletzt (…). Danach ging er zum Klassenzimmer 301 und erschoss hier fünf Schülerinnen und einen Schüler." Am Ende, nach der Verfolgung von 400 Spuren und 530 Vernehmungen, ziehen die Ermittler den Schluss: "Auf den ersten Blick war die große Anzahl von weiblichen getöteten Opfern auffällig. Es wurden aber auch ein Schüler getötet und fünf weitere Schüler durch Schüsse verletzt. Ermittlungen hinsichtlich dieser Tatsachen ergaben keinerlei Hinweise auf ein ‚gezieltes’ Vorgehen gegenüber Mädchen und Frauen."

Nicht nur die Süddeutsche Zeitung übernahm unkritisch die Version der Polizei und meldete: "Von den zwölf Toten an der Albertville-Realschule waren elf weiblich, was unter anderem die Frauenrechtlerin Alice Schwarzer behaupten ließ, dass es sich bei Kretschmers Motiv um Frauenhass handeln müsse. Dafür fand die Polizei keine Anhaltspunkte, die große Zahl der weiblichen Toten seien eher Zufall." Punkt.

Es sieht aber auch keineswegs so aus, als hätte die Polizei nach Anhaltspunkten gesucht. Im Gegenteil.

Frage 1: Die Kopfschüsse. Bereits seit den ersten Tagen nach der Tat waren die vielfachen Aussagen von Tatzeuginnen und Tatzeugen bekannt, die immer wieder betonten, die getöteten Schülerinnen und der Schüler seien via Kopfschuss liquidiert worden. Und bekannt wurde auch, dass die Baretta extrem schwer zu handhaben ist und Tim Kretschmer ein exzellenter Schütze gewesen sein muss. Er muss, solange er nicht auf der Flucht war, genau gewusst haben, was er tat.

Frage 2: Der 15-jährige Dennis. Er ist in dem ersten Klassenraum 305, in den Tim Kretschmer stürmt, und hält das Ganze erst mal für "einen Test". Dennis dreht sich um und blickt Tim ins Gesicht. Er kennt ihn von früher, vom gemeinsamen Spielen, als die Eltern noch Nachbarn waren. Sekundenbruchteile später erschießt der Amokläufer die neben Dennis stehenden Mädchen Chantal und Jana durch Kopfschuss. Dennis lässt er leben.

So schilderte der Stern-Reporter Gerald Drissner in der Ausgabe vom 19. März das, was der Junge ihm erzählt hatte. Doch auf Nachfrage von EMMA antwortete die Pressesprecherin der Polizei, Renate Rösch: "Diese Aussage ist komplett falsch. Dieses Gerücht wurde bereits zu Beginn der Ermittlung verbreitet."

Darüber wiederum ist nun der Stern-Reporter "sehr verwundert", wirklich "sehr verwundert". Er habe zweieinhalb Stunden mit Dennis gesprochen. Und der habe sich "als äußerst zuverlässiger Zeuge erwiesen", der "den Tathergang genau beschrieben und falsche Angaben der Presse korrigiert habe". (Zum Beispiel, dass der Täter einen "Tarnanzug" trug.) Drissner hat Dennis als "besonnen und genau erlebt". Alles, was der 15-Jährige gesagt habe, "erwies sich im Nachhinein als richtig." Trotzdem ist alles "komplett falsch" und nur "ein Gerücht"? Zumindest behaupten die Ermittler das.

Frage 3: JawsPredator1 auf Kwick.de. Wenige Tage nach dem Amoklauf informierte der Provider die Polizei darüber, dass Tim Kretschmer unter diesem Namen im Kwick.de-Forum häufiger Gast gewesen sei, und dass es sich zweifelsfrei um ihn gehandelt habe. Denn alle Nutzer müssen bei Kwick.de ihren richtigen Namen hinterlegen. Auch habe Tim ganz offen ein Foto von sich, seine Hobbys etc. ins Netz gestellt.

2008 hat JawsPredatorl unter anderem zu dem Thema "Noch eine Woche zu leben – was ist wichtig?" im Forum kommuniziert. "Ich würde da garantiert an scheisse bauen denken", schrieb er. Und: "Also ich meine nur man wird noch berühmt und bleibt anderen Menschen im Gedächtnis. Sieht man an Mördern, zB bei Ted Bundy."

Ted Bundy ist einer der berühmtesten Frauenmörder in den USA. Er hatte den Spitznamen "Charismatic Killer", weil er so charmant war. Zwischen 1974 und 1978 hat er mindestens 28 Mädchen und junge Frauen getötet, vermutlich aber über 60. Seine Geschichte wurde zweimal von Hollywood verfilmt: 1986 und 2002. Ein echter Held also, und offensichtlich auch Tim Kretschmer nicht unbekannt.

Doch nicht etwa die Polizei, sondern der Stern enthüllt diese Information am 6. Mai. Erst daraufhin erklärte die Polizei Waiblingen: "Es ist richtig, dass ein Teilnehmer, der sich JawsPredator1 nannte (…), in der Internet-Community Kwick.de diskutiert hat. Tim K. war bei Kwick.de zeitweise unter diesem Namen registriert." Doch: "Ob Tim K. der Autor dieser Beiträge ist, steht nicht fest." Denn die Textfragmente seien "aus einem nicht bekannten Zusammenhang herausgerissen". Damit scheint die Sache für die Ermittler erledigt zu sein.

Darüber wiederum ist Kai Hummel, der Sprecher des Internet-Forums Kwick.de, "sehr erstaunt". Die Einträge von Tim K. aus dem Jahr 2008 konnten zwar nur bruchstückhaft über Google rekonstruiert werden (das Suchergebnisse länger speichert), doch dass die Passage über den Frauenmörder Bundy von Tim Kretschmer ist, das ist für Hummel "sehr, sehr, sehr wahrscheinlich".

Was also ist eigentlich los? Zehn Wochen nach einer so spektakulären Tat, die sich vor den Augen so vieler Menschen abspielte, kann – oder will – die Polizei immer noch keine Antwort geben auf die schlichte Frage, ob die Schülerinnen nun durch Kopfschuss getötet wurden oder nicht. Sie bezeichnet die fundierte Befragung eines Tatzeugen wie Dennis durch einen Stern-Reporter schlicht als erfunden. Und sie hält es offensichtlich noch nicht einmal für nötig, einer Spur wie der in Kwick.de angemessen nachzugehen.

Es sei noch nicht abzusehen, "wann mit einem abschließenden Ermittlungsbericht zu rechnen ist", vermeldeten die Ermittler, und sowohl "das ballistische Gutachten des BKA" wie auch ein "Gutachten eines Jugendpsychiaters" stehe noch aus.

Nur eines wissen die Ermittler von Waiblingen und Stuttgart schon jetzt genau: "Es gibt keinerlei Hinweise auf ein gezieltes Vorgehen gegenüber Mädchen und Frauen."
Und eines weiß EMMA inzwischen ganz genau: Hier stimmt etwas nicht.

"Uns lässt das Thema noch lange nicht los" Ein Brief von Gudrun Obleser aus Winnenden (4/09)

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