„Auch Frauen kämpfen im Krieg“

Artikel teilen

Kannst du uns etwas zu dir erzählen?
Mein Name ist Ludmila Bogdan, ich bin 45 Jahre alt, arbeite als Buchhalterin und lebe in Kiew. Ich bin Feministin. Ich gehe auf die Straße, um mich für die Rechte der Frauen und gegen Gewalt gegen Frauen einzusetzen. Ich unterschreibe und verteile Petitionen und verwalte mehrere feministische Facebook-Communities.

Du bist gerade von Polen nach Kiew zurückgekehrt. Wie ist jetzt die Lage in Kiew?
Anfang März bin ich von Kiew nach Polen geflohen, weil russische Truppen vor Kiew standen und ich davon erfuhr, was russische Soldaten mit Frauen in besetzten Dörfern und Städten anstellten: brutale Gruppenvergewaltigungen, oft gefolgt von Mord, zum Beispiel durch Erhängen. Ich bin mit einem kleinen Rucksack geflohen, da die Evakuierungszüge in den Westen überfüllt waren. Nur Geld, Dokumente, eine Zahnbürste, Wasser und etwas Essen. Ich bin neun Stunden lang im Stehen nach Lwiw gefahren. Neben mir saß eine Familie mit drei Kindern. Ein Kind war sehr klein, und seine Mutter wechselte die Windeln und fütterte es mit Muttermilch, indem sie einen Koffer auf den Boden stellte und das Baby auf den Koffer legte. Aber im Vergleich zu denen, die Charkiw verließen, reisten wir sehr bequem. Im Mai bin ich zurückgekehrt. Ich hatte Glück, dass meine Wohnung noch da war und ich einen Job habe. Die Stadt funktioniert, es gibt Wasser, Gas und Strom. Aber der Raketenbeschuss geht weiter, und wir haben manchmal fünf- bis siebenmal am Tag Luftschutzalarm. Glücklicherweise werden die Raketen in vielen Fällen von der ukrainischen Luftabwehr abgeschossen, aber manchmal treffen sie auch Wohnhäuser, wie Anfang Mai in Kiew, wo es Tote und Verletzte gab. Von abends bis morgens besteht eine Ausgangssperre. Schulen, Universitäten und Kindergärten sind geschlossen; Schüler und Studenten lernen bestenfalls digital. Das ist jedoch nichts im Vergleich zu dem, was in den besetzten ukrainischen Gebieten und in Gebieten, in denen aktiv gekämpft wird, passiert. Die ganze Welt war erschüttert, als sie die Gräueltaten der russischen Besatzer in Butscha sah, aber in Wirklichkeit gibt es Hunderte solcher Städte und Dörfer und Millionen von Menschen, die gerade eine humanitäre Katastrophe erleben, die deportiert, gefoltert, verletzt und getötet werden, die ihre Häuser und Verwandten verlieren.

Was hast du in den Wochen im polnischen Exil erlebt?
Polen hat rund drei Millionen Ukrainer aufgenommen, die vor dem Krieg geflohen sind. Die meisten von ihnen sind Frauen, oft mit Kindern oder älteren pflegebedürftigen Angehörigen. Die Hilfe, die Polen uns gewährt hat, ist beispiellos. Die Polen haben uns Wohnraum, Kleidung, Lebensmittel, medizinische Versorgung und kostenlose Verkehrsmittel sowie Polnischkurse und Arbeitsmöglichkeiten, Schulen und Kindergärten für Kinder geboten.

Das ist großartig. Aber was ist mit den durch Vergewaltigung schwangeren Frauen, die die Schwangerschaft abbrechen wollen?
Die polnischen Abtreibungsgesetze sind sehr hart für Frauen, auch für die Ukrainerinnen, die infolge einer Vergewaltigung durch die russischen Besatzer schwanger waren oder aus anderen Gründen eine Abtreibung wollen. Sie konnten in Polen nicht abtreiben. Sie mussten weiterreisen, zum Beispiel nach Tschechien oder Deutschland. Doch nach meinen Informationen war es auch in Deutschland nicht so einfach. Insbesondere hing viel von den Menschen ab, die ukrainische Frauen auf der Flucht beherbergen. Ich weiß aber, dass es manchen Ukrainerinnen gelang, Abtreibungspillen von Freiwilligen in Polen zu bekommen. Die waren bereit, das Risiko der Strafverfolgung einzugehen, um Frauen in Not zu helfen.

Wagen die Frauen, die vergewaltigt wurden, in der Ukraine, darüber zu sprechen? Gibt es Hilfe für sie?
Es gibt in den besetzten Gebieten nicht nur keine psychologische, sondern nicht einmal medizinische Hilfe. Vergewaltigte Mädchen sterben an Schnittwunden und Blutungen. Aber selbst wenn es Vergewaltigten gelingt, nicht nur zu überleben, sondern in die nicht besetzte Ukraine zu gelangen, befürchte ich, dass sie wohl kaum entsprechende psychologische Hilfe bekommen werden. Erstens versuchen viele Frauen aufgrund der StigStigmatisierung, die Vergewaltigung zu verbergen und suchen keine Hilfe. Zweitens sind die Psychologen und Psychotherapeuten in der Ukraine für solche Fälle nicht ausreichend qualifiziert. Ich habe zum Beispiel in einem Interview mit einer Psychologin gelesen, dass sie ihre Aufgabe darin sieht, vergewaltigten Mädchen dabei zu helfen, wieder Vertrauen zu Männern zu fassen, damit sie heiraten und Kinder bekommen können. Eine andere erzählte, dass sie mit einem Mädchen arbeitete, das infolge einer Vergewaltigung schwanger geworden war und von ihren religiösen Eltern unter Druck gesetzt wurde, das Kind zu bekommen, so dass die Psychologin nicht mit dem Mädchen an ihrem Trauma arbeitete, sondern mit dessen Haltung gegenüber dem ungeborenen Kind. Das heißt, diese psychologische Hilfe basiert auf der patriarchalischen Einstellung, dass die Frau keine Person ist, sondern ein für den Mann nützliches Objekt, das durch schlechte Behandlung kaputt ist und dessen Funktionalität wiederhergestellt werden muss.

Wie war denn eigentlich die Situation der ukrainischen Frauen vor Kriegsbeginn?
Die Lage der Frauen hatte sich in den letzten Jahren deutlich verbessert. Die Gesetze zur Bekämpfung von Häuslicher Gewalt und Vergewaltigung wurden verbessert. Die Beschränkungen für den Zugang von Frauen zu früher verbotenen Berufen, einschließlich des Militärs, wurden aufgehoben. Es wurden Frauenquoten für das Parlament und die Gemeinderäte eingeführt. Aufgrund des Widerstands der Kirche hat sich das Parlament aber nicht getraut, die Istanbul-Konvention zu ratifizieren. Es gibt nur sehr wenige Zufluchtsorte für Frauen, die Opfer Häuslicher Gewalt sind, und die Polizei sabotiert häufig den Schutz der Frauen. Ukrainische Frauen verdienen immer noch durchschnittlich 20 bis 25 Prozent weniger als Männer, erledigen den Großteil der Hausarbeit, kümmern sich um Kinder und ältere Angehörige und leiden unter Diskriminierung und patriarchalischen Schönheitsbildern. Das Recht auf Abtreibung ist gesetzlich eingeschränkt und Prostitution ist legal, nicht zuletzt aufgrund der Beispiele Polen und Deutschland. Die wachsende Popularität feministischer Ideen unter ukrainischen Frauen ist jedoch ermutigend. Feministinnen verbreiten diese Ideen in sozialen Netzwerken und Blogs weiter, bringen Themen zur Sprache, die früher verschwiegen wurden – wie familiäre und sexuelle Gewalt – schreiben Artikel und Bücher, lancieren und unterzeichnen Petitionen und gehen auf die Straße.

Du gehörst in der Ukraine zu einer Frauen-Initiative, die aktiv für die Rechte der Frauen in der Prostitution und für deren Chancen zum Ausstieg kämpfen – und für die Bestrafung von Freiern und gegen das System Prostitution. Wie läuft das bei euch?
Prostitution ist Gewalt gegen Frauen. Leider ist in der Ukraine dank der Aktivitäten der Pro-Prostitutions-Lobby die Vorstellung weit verbreitet, dass Prostitution nur ein Job wie Taxifahren sei und daher legalisiert und die Einnahmen besteuert werden sollten. Diese Idee wird häufig von eigentlich fortschrittlich gesinnten Menschen unterstützt, und sie führen häufig das Beispiel Deutschlands und der Niederlande als Argument dafür an. Ein anderer Teil der ukrainischen Bürger, der eher traditionelle Ansichten vertritt, hält Prostitution für ein Übel, ist aber der Meinung, dass Frauen in der Prostitution bestraft werden sollten, ebenso die Zuhälter, nicht aber die Männer, die Frauen für den sexuellen Konsum kaufen. Die Diskussion in den Medien lief auf die falsche Frage hinaus: Soll man Frauen die Prostitution verbieten oder erlauben? Im Jahr 2017 wurde in Kiew der erste Marsch von Sexarbeiterinnen organisiert, der die Legalisierung der Prostitution forderte. Ich habe am selben Tag mit gleichgesinnten Frauen am selben Ort eine Gegen-Aktion organisiert, bei der wir mit Slogans klarmachten, dass Prostitution eine bezahlte Vergewaltigung ist, die schutzbedürftige Frauen aufgrund ihrer schwierigen Lebensumstände in Kauf nehmen. Die Medien haben darüber berichtet. Daraufhin beschloss ich, die Facebook-Gruppe „FemUA Nordic Model“ zu gründen, um Informationen darüber zu verbreiten, dass Prostitution Gewalt ist und dass es neben „Verbieten oder Erlauben“ einen dritten Weg gibt: das schwedische oder Nordische Modell. Nach 2017 sind wir noch zweimal – 2018 und 2019 – an den Tagen der „Sex Worker Marches“ auf die Straße gegangen und haben Straßenaktionen organisiert, darunter eine vor der deutschen Botschaft in Kiew. Außerdem nehmen wir jedes Jahr am Frauenmarsch teil. Mit Erfolg: In den letzten Jahren ist die Idee des Nordischen Modells in der ukrainischen Öffentlichkeit präsent. Die ukrainischen Medien berichten darüber und die ukrainischen Politiker und die Pro-Prostitutions-Lobby können nicht länger so tun, als gäbe es diesen Weg nicht.

Olena Shevchenko von der Initiative „Marsh Zhinok“ (Frauenmarsch) hat im Interview mit dem deutschen Frauenmagazin Missy die „patriarchale Kriegskultur“ und die „Heroisierung des Siegers“ kritisiert. Wie siehst du das?
Was die Darstellung von Ukrainern als männliche Helden und weibliche Flüchtlinge in den Medien angeht, so ist das auch ein Problem der Medien. In Wirklichkeit sind etwa 30 Prozent der ukrainischen Armee weiblich, zwölf Prozent in der kämpfenden Truppe. Aber das sind Daten von Ende 2021, es dürften jetzt mehr sein, denn jetzt kommen die Freiwilligen dazu. Eine Bekannte von mir, eine Theaterschauspielerin, hat sich zum Beispiel freiwillig gemeldet, ging in die ukrainische Armee, um die Ukraine zu verteidigen. Es gibt auch viele Frauen unter den Militärsanitätern. Und diese Frauen sind sichtbar. In den ukrainischen Medien und in den sozialen Medien wird über sie berichtet, und Präsident Selenskyj und andere sprechen in ihren Reden von „Heldinnen und Helden“, „freiwilligen Frauen und Männern“ und würdigen auf diese Weise den Beitrag der Frauen. Doch aufgrund des Verbots für ukrainische Männer, das Land zu verlassen, sind es vor allem die Frauen, die in andere Länder geflohen sind. Aber Krieg ist ein universelles Phänomen, kein männliches, und Frauen sind Menschen und keine gütigen Engel. Und viele ukrainische Frauen wollen nicht beiseite stehen, wenn es nicht nur um unsere Freiheit geht, sondern um die Existenz unseres Landes.

Wie kann aus deiner Sicht dem Krieg ein Ende gemacht werden?
Russland ist der Ukraine in Bezug auf Armee und Ausrüstung weit überlegen. Das Bruttoinlandsprodukt Russlands ist zehnmal so hoch wie das der Ukraine. Die Tatsache, dass die Ukraine nun seit fast drei Monaten den Krieg aushält, ist dem Einsatz unserer Verteidiger und Verteidigerinnen zu verdanken, allerdings leider auch mit einer großen Zahl von Opfern verbunden. Wenn also die Welt der Ukraine nicht hilft, diesen Krieg zu gewinnen, stehen wir vor einer Niederlage, einer Besetzung, einer humanitären Katastrophe – und einem gewaltigen Rückschlag in der Frage der Frauenrechte. Ich erinnere daran, dass Russland zum Beispiel Häusliche Gewalt entkriminalisiert hat. Viele Frauen, die vor dem Krieg in andere Länder geflohen sind, werden niemals in ihr Heimatland zurückkehren können. Doch glücklicherweise unterstützt die Welt die Ukraine in ihrem gerechten Widerstand gegen die russische bewaffnete Aggression, und ich glaube und hoffe, dass die Ukraine siegen wird. Es wäre allerdings auch eine andere Option denkbar, nämlich dass Russland einen Waffenstillstand, die Festlegung einer neuen Demarkationslinie und die Übernahme besetzter Gebiete unter seiner Kontrolle erreicht. Aber nach Butscha und Mariupol glaube ich nicht, dass die Ukrainer zu einem Frieden zu diesem Preis bereit sind.

Die UnterzeichnerInnen des Offenen Briefes an den deutschen Kanzler, zu denen auch EMMA-Herausgeberin Alice Schwarzer gehört, fordern die Politik auf, stärker auf Verhandlungen zu setzen. Sie fürchten eine Eskalation des Krieges mit noch mehr Opfern bishin zu einem möglichen Atomschlag und einem dritten Weltkrieg.
Ich verstehe die Menschen, die Angst davor haben, dass ein Krieg sie persönlich und direkt betreffen könnte. Aber als Feministin weiß ich, dass die Bekämpfung von häuslicher und sexueller Gewalt nur dann wirksam ist, wenn der Angreifer weiß, dass er unweigerlich für seine Aggression bestraft werden wird, und nicht, wenn sich Opfer und Angreifer an einen Tisch setzen und alle Untaten vergessen werden sollen. Und jetzt soll sich die Ukraine nach Butscha und Mariupol, nach Charkiw und Tschernihiw mit den Vergewaltigern und Mördern ihrer Mitbürger an den Verhandlungstisch setzen und das Problem irgendwie lösen, mit möglichst geringen Konsequenzen für Europa? Ich verstehe diesen Standpunkt, aber ich kann ihn nicht unterstützen.

Im Fall Häuslicher Gewalt stehen sich Opfer und Täter als Individuen gegenüber und können für sich sprechen und handeln. Bei Kriegen zwischen Völkern scheint uns das Problem, dass einer für Millionen entscheidet – auf der Opfer- wie auf der Täterseite. Aber wie auch immer das weitergehen wird: Was erwartest du nach Kriegsende in Bezug auf das Verhältnis zwischen Frauen und Männern in der Ukraine?
Ich hoffe, dass sich die Rechte und Freiheiten der Frauen in der Ukraine und in der ganzen Welt, auch in Russland, weiter entwickeln. Ich erwarte Null Toleranz bei Gewalt gegen Frauen, die Aufteilung des Mutterschaftsurlaubs und der Kinderbetreuungspflichten zwischen Mutter und Vater, Chancengleichheit und Freiheit für Frauen von Unterdrückung. Vielleicht sind diese Erwartungen zu kühn. Doch vor rund hundert Jahren hatten Frauen in der ganzen Welt nicht einmal das Recht, an Wahlen teilzunehmen. Und dieses und andere Rechte sind nicht einfach vom Himmel gefallen, sondern wurden durch Kampf errungen. Und die Ukraine hat bereits bewiesen, dass nichts unmöglich ist.

IM NETZ: facebook.com/groups/femuanordicmodel/

Ausgabe bestellen
Anzeige
'

Anzeige

 
Zur Startseite