Im Kino: In die Sonne schauen
Der Film „In die Sonne schauen“ greift eine Perspektive auf, die so im Deutschen Film selten ist: Du erzählst komplett aus der Sicht der Frauen. Gab es feministische Vorbilder, die dich dazu inspiriert haben?
Es hat meine Co-Autorin Louise Peter und mich selbst überrascht, denn unser Ansatz war nicht, einen explizit feministischen Film zu machen. Wir hatten uns mit der transgenerationalen Weitergabe von Traumata beschäftigt und auch ganz viele Geschichten für Männer im Kopf, da wir natürlich auch zu deren Traumata geforscht haben. Eigentlich haben wir versucht, einen menschlichen Blick zu finden und in der Recherche sind uns die Geheimnisse um diese Frauenschicksale aufgefallen. Wir hatten das Gefühl, dass die so am Rande der Geschichte stehen und in den Fokus gerückt werden müssten. Und dann sind wir selbst natürlich Frauen und haben unseren Blick auf die Welt, und daraus hat sich ganz organisch ergeben, dass diese vier Frauen nun im Zentrum stehen.
In Cannes hatte ich mit vielen Kritikerinnen geredet, die sehr begeistert vom Film waren, weil sie eben als Frauen in kleinsten Szenen eine Resonanz mit ihrem eigenen Leben gespürt haben, in kleinen Blicken und Gesten. Die Geschichte etwa, wenn der Onkel dem Mädchen ans Knie fasst – da passiert eigentlich nichts, und doch passiert wahnsinnig viel, auch mit den Zuschauerinnen, weil jede eine ähnliche Situation kennt.
Der Film lauscht dorthin, wo im Inneren der Figuren ganz leise etwas zu Bruch geht. Dabei haben wir uns für die scheinbar kleinen Geheimnisse interessiert, die so schambehaftet sind, dass sie niemals geteilt werden und mit ins Grab genommen werden. Was uns sehr interessiert hat, waren die Blicke, denen Frauen über ein Jahrhundert bis heute unterworfen sind. Wir wollten, dass diese Frauen jetzt selbst zurückblicken können, was wir mit dem Durchbrechen der vierten Wand versucht haben, die Frauen schauen also direkt ins Publikum, was sie sehen, wird nicht gezeigt.
Mit einem Blick begann die Arbeit an diesem Film auch, nämlich dem Blick von einem Foto …
Genau, ich habe mit Louise Peter einen Sommer lang in der Altmark auf einem Hof verbracht, der mindestens 30 Jahre leer stand. Das ganze Mobiliar stand noch so da, wie es von dem Bauern, der dort zuletzt gelebt hat, bei seinem Tod hinterlassen worden war. Dort gab es eine Fotografie von ungefähr 1920, die ungewöhnlich für die Zeit war, weil sie wie ein Schnappschuss wirkt. Drei Frauen stehen mit ihren Kittelschürzen auf dem Hof und blicken direkt in die Kamera. Der Hof sieht auf dem Bild noch genauso aus wie heute. Wir haben uns sofort gefragt, wer waren diese Frauen? Was haben sie gedacht? Was hat sie beschäftigt? Was haben sie erlebt? Und was haben sie mit uns zu tun? Was schreibt sich durch die Zeiten hindurch in unsere Körper? Was bestimmt uns vielleicht, das lange vor unserer eigenen Geburt geschehen ist und auf das wir keinen Zugriff mehr haben? Und auch die Melancholie über die eigene Vergänglichkeit hat uns da erwischt, weil wir wussten, wir stehen jetzt an derselben Stelle wie diese Frauen. Auch wir werden irgendwann nicht mehr sein. Die Gleichzeitigkeit von Zeit, dass jemand an der einen Stelle etwas ganz Profanes tut, während jemand anderes genau dort vielleicht eine existentielle Erfahrung macht, gegeneinander zu montieren. Wir haben uns dem Thema transgenerationale Weitergabe von Traumata dann phänomenologisch genähert.
Das klingt beides nach einem sehr großen Themenkomplex?
Ja, wir hatten auch anfangs überlegt, ob es nicht doch eher eine Kunstinstallation werden müsste. Weil es um ganz kleine schambehaftete Momente geht, für die es keine Worte gibt. Wo etwas aus dem Nennbaren dieser Welt kippt. Also kleine, leise Beben in den Figuren, wo etwas zu Bruch geht. Beim Wort Trauma denken wir immer an große Ereignisse. Das kann aber auch etwas Kleines, Flüchtiges wie ein Blick sein, der sich so unter die Haut gräbt, dass er einen nicht mehr loslässt. Dabei haben wir im Grunde mit Hilfe der Figuren fast halluzinativ heraufbeschworen, was dort gewesen sein könnte.
Ganz subtil unterstützen das im Film wiederkehrende Motive, die die verschiedenen Leben wie ein roter Faden miteinander verbinden. Bilder von Fliegen, die durchs Haus schwirren und sich auf Tellerränder setzen. Auch Aale spielen eine Rolle.
Für uns waren das wie Splitter oder Glitches – als ob alle Ahnen durch ihr inneres Material scrollen, nach vorn und hinten in der Zeit spulen, um das eine Puzzleteil zu finden. Und dabei werden sie vielleicht gar nicht fündig, aber graben viele kleine Dinge wieder aus, die sie verdrängt haben.
Das ganze Interview der neuen September-/Oktober-Ausgabe!
"In die Sonne schauen geht übrigens ins Rennen um einen der begehrten Academy Awards und hat Chancen auf eine Nominierung in der Kategorie "Bester Internationaler Film". Die 98. Oscar-Verleihung findet am 15. März 2026 in Los Angeles statt.