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Dilek İmamoğlu: Die Emanzipierte

Dilek İmamoğlu engagiert sich für die Rechte von Frauen und Minderheiten. - Foto: Tolga Ildun/Zuma Press/IMAGO
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An jenem Mittwochmorgen Mitte März unterdrückt Dilek İmamoğlu ihre Gefühle und richtet ihr Smartphone auf ihren Ehemann. Der bindet sich in einem Ankleideraum eine Krawatte um und sagt, dass hunderte Polizisten vor seinem Haus stünden. Dass er nicht aufgeben werde. Wenige Minuten später wird er abgeführt. Das Video, gepostet um 7 : 12 Uhr, wird millionenfach angeschaut.

Seit Ekrem İmamoğlu, Istanbuls Oberbürgermeister und wichtigster Rivale von Präsident Recep Tayyip Erdoğan, in Untersuchungshaft sitzt, fordert seine Frau Dilek lautstark seine Freilassung – und entfaltet dabei eine solche Wirkung auf die Öffentlichkeit, dass darüber spekuliert wird, ob sie selbst in die Politik einsteigt.

Dass sie am Tag der Verhaftung zur Chronistin wurde, war kein Zufall. Es sei ihre Pflicht gewesen, die Öffentlichkeit zu informieren, sagte die 50-Jährige später der Zeitung Nefes. „Gerechtigkeit lässt sich nicht verbieten“, schrieb sie auf der Plattform X. „Einige werden zu Fall kommen.“ Eine Kampfansage an Erdoğan.

Schon früh legte sich Dilek İmamoğlu mit mächtigen Männern an. Geboren wurde sie in Trabzon an der türkischen Schwarzmeerküste, als jüngstes von zehn Kindern, sieben Mädchen, drei Jungen. Der Vater hatte das letzte Wort, die Frauen blieben zuhause. Sie, die jüngste Tochter, wollte es anders machen. Als Grundschülerin jobbte sie in den Sommerferien im Textilgeschäft ihres Bruders. Sich selbst beschreibt sie als Tochter mit einem „rebellischen Geist“: „Ich sagte immer: ‚Mama, du bist auch hier, du bemühst dich auch, du solltest ein Mitspracherecht haben.‘“ Ihre Schwestern warfen ihr vor, dass es ihretwegen oft Streit in der Familie gab.

Als sie in die Sekundarschule kam, zog die Familie nach Istanbul. Mit 19 lernte sie ihren späteren Mann kennen, den drei Jahre älteren Ekrem İmamoğlu. 1995 heirateten sie, zwei Jahre später kam der erste Sohn Selim zur Welt. Dilek İmamoğlu hatte gerade die Aufnahmeprüfung an der Universität geschafft – und legte ihr Studium der Öffentlichen Finanzen vorübergehend auf Eis. Während ihres Masters bekam sie den zweiten Sohn Semih. Ihre Abschlussarbeit schrieb sie über die „gläserne Decke“, also über jene unsichtbaren Barrieren, die Frauen am beruflichen Aufstieg hindern. Nach der Geburt ihrer Tochter Beren promovierte sie, während ihr Mann in der Oppositionspartei CHP Karriere machte.

Dilek İmamoğlu ist keine Frau, die sich mit einer dekorativen Rolle an der Seite ihres Mannes begnügt. In einem Fernsehinterview mit Halk TV sagte sie: „Zwischen Ekrems geschäftigem Leben, dem Berufsleben und der Politik erklommen wir gemeinsam die Karriereleiter.“ In einem Land, in dem die Erwerbsquote von Frauen gerade einmal bei 36 Prozent liegt, ist das Private politisch.

Ihre Abschlussarbeit schrieb sie über die gläserne Decke für Frauen

Dilek İmamoğlu engagiert sich für Frauen- und Minderheitenrechte. 2014 setzte sie sich für einen Tag in den Rollstuhl und fuhr durch Istanbul, um auf die Schwierigkeiten aufmerksam zu machen, mit denen Menschen mit Behinderung im Alltag konfrontiert sind. Spätestens seit der Verhaftung ihres Mannes ist sie zur politischen Stimme geworden. Damit erzeugte sie positive Presse, nicht nur in der Türkei, auch international. Politische Ambitionen weist sie bislang zurück. Der Politiker des Hauses heiße Ekrem, bekräftigte sie mehrfach. Und doch ist Dilek İmamoğlu ein durch und durch politischer Mensch – und auch ohne Mandat längst Teil der Politik.

Inzwischen ist es schwieriger geworden, den öffentlichen Druck aufrechtzuerhalten. Zwar gingen im Mai in Istanbul noch einmal Tausende gegen İmamoğlus Haft auf die Straße, insgesamt aber sank die Zahl der Demonstranten. Erdoğan gibt sich staatsmännisch und richtet den Fokus auf seine Rolle als internationaler Vermittler – wie bei den Gesprächen zwischen Russland und der Ukraine in Istanbul.

Dilek İmamoğlu weiß, dass die Aufmerksamkeit nachlässt, aber sie demonstriert weiterhin Entschlossenheit. Zum Muttertag veröffentlichte sie einen persönlichen Appell: „Bis alle jungen Leute freigelassen und unsere Liebsten zu uns zurück­gekehrt sind, können wir nicht einfach zur Tagesordnung übergehen“, schrieb sie. „Wir Mütter können das nicht.“  

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