Für die Lebensschule

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Stefan Appel engagiert sich seit 22 Jahren für die Ganztagsschule. Denn nur mit etwas Zeit wäre, davon ist der erfahrene Schulleiter und Vater von drei Kindern überzeugt, eine wirklich kindgerechte Arbeit für LehrerInnen möglich. Dass sich plötzlich alle für die so lange vernachlässigte Ganztagsschule interessieren, freut Appel - und wird ihm eine Menge mehr Arbeit bescheren.
EMMA: Sie engagieren sich als Schulleiter nicht nur beruflich für die Ganztagsschule. Sie setzen sich als Vorsitzender des Ganztagsschulverbands auch politisch für mehr Ganztagsschulen in Deutschland ein. Warum?
Stefan Appel: Weil man in einer Halbtagsschule einfach nicht genügend Zeit für die Kinder hat; alles funktioniert im 45-Minuten-Takt, die Pausen sind limitiert. Eine moderne Pädagogik ist in der Halbtagsschule nicht möglich. Hinzu kommt, dass sich die Familienstruktur stark verändert hat. Die Zahl der berufstätigen Alleinerziehenden wächst, immer mehr hochqualifizierte Mütter wollen in den Beruf, und immer mehr Kinder wachsen als Einzelkinder auf.
EMMA: Aber es gibt doch schon Ganztagsschulen in Deutschland.
Appel: Ja, aber nur in zwei Extremen: als Eliteschulen für Gutbetuchte oder als riesige Betonklötze in sozialen Brennpunkten. Für die breite Mittelschicht gibt es so gut wie kein Ganztagsangebot. Aber Kinder auf Grundschulen, Realschulen und Gymnasien, die aus intakten Verhältnissen kommen, haben doch auch ein Recht auf eine umfassende, moderne Erziehung. Sie leben auch in Stadtteilen, wo sie nicht auf der Straße spielen können und hängen genau so zuhause vorm Bildschirm herum. Ich frage mich manchmal, was ein 14-jähriger machen soll, wenn er nicht mit der Sprühdose unterm Arm unterwegs ist.
EMMA: Und die Mädchen?
Appel: Gerade für die Mädchen, insbesondere die ausländischen Mädchen, ist die Ganztagsschule oft befreiend. Statt überbehütet zuhause zu hocken oder sogar eingesperrt zu sein - das gibt es ja auch mitten in Deutschland - sind sie nachmittags in der Schule. Dort ist Leben und ist was los. Die Ganztagsschule ist ja ein lebendiges Rundum-Erlebnis und keine verlängerte Halbtagsschule mit Suppenküche.
EMMA: Seit wann gibt es Sie eigentlich?
APPEL: Seit 1955. Die Reformschulbewegung, die es in allen europäischen Ländern gab, wurde in Deutschland durch die Nationalsozialisten gestoppt. Nach dem Krieg ging es dann erstmal darum, Familien bei der Erziehung der Kinder zu helfen. Mütter haben als Trümmerfrauen geschuftet, Väter sind im Krieg geblieben, Kinder waren auf sich gestellt. Die ersten Ganztagsschulen waren damals Tagesheimschulen, wie sie es bis heute in Österreich gibt. Diese Schulen sollten die Familien nicht ersetzen, sondern ergänzen - darauf legen wir bis heute großen Wert. Wir knüpfen an die Reformpädagogik der 20er Jahre an, an das Konzept der "Lebensschule". Unser Ziel ist, das Leben in die Schule rein und die Schule aus dem Elfenbeinturm rauszuholen. Dann kam die Schulreform der 70er Jahre. Und weil deren parteipolitische Väter die Ganztagsschule ausschließlich mit einer einzigen Schulart, nämlich der Gesamtschule, gekoppelt haben, hat uns das geschadet. Damit ging die Kritik an der Gesamtschule automatisch auch gegen die Ganztagsschule. Erst mit der europäischen Öffnung der Bundesrepublik Ende der 80er Jahre kam die Erkenntnis, dass unsere Nachbarn ja alle Ganztagsschulen haben. Heute geht die Debatte über die Ganztagsschule als Reformschule, egal ob als Gymnasium, Grund- oder Sonderschule, wieder quer durch alle Parteien.
EMMA: Die Gesamtschule hat aber doch immerhin gezeigt, das die Ganztagsschule funktioniert.
Appel: Nicht unbedingt. In den Regionen, wo Gesamtschulen ausschließlich am Stadtrand in sozialen Brennpunkten gebaut wurden, sind die Ergebnisse nicht unbedingt überzeugend. Aber dort, wo sie flächendeckend eingeführt wurden und daher die Schülerdurchmischung stimmt, sind die Ergebnisse teilweise hervorragend.
EMMA: Und was tut Ihr Verband dafür?
Appel: Er setzt sich dafür ein, die Idee der Ganztagsschule in die Öffentlichkeit zu tragen und alle, die Ganztagsschulen einrichten wollen, dabei mit Rat und Tat zu unterstützen. Das ist gerade jetzt, wo man damit angefangen hat, Ganztagsschulen aus dem Boden zu stampfen wie in Rheinland-Pfalz, besonders wichtig. Denn Pädagogen neigen nicht unbedingt dazu, über den eigenen Tellerrand hinaus zu gucken. Es gibt auch schon Bundesländer, die sich bei uns Rat holen.
EMMA: Und was für einen?
Appel: Wir geben eine Zeitschrift heraus, machen Kongresse und Praxisworkshops. Dieses Jahr tagen wir vom 14. Bis 16. November im schwäbischen Weingarten. Thema: "Aufbruch in die Bildungsgesellschaft - Konjunktur für Ganztagsschulen". Die Anfragen an uns reichen vom kirchlichen Privatgymnasium bis zur Stadt Hanau, die zwei Schulen in einer umgebauten Kaserne zu einer Ganztagsschule zusammenlegen will. Dem steht aber das hessische Schulgesetz entgegen, das Ganztagsschulen verbietet. In Bayern wiederum haben sich die Kommunen im Juli auf dem Städtetag zusammengeschlossen und verlangen vom Freistaat Bayern den "schrittweisen Ausbau eines bedarfsgerechten Angebots an Ganztagsschulen" und die "Übernahme der Finanzierung". Absoluter Spitzenreiter ist das kleine Land Brandenburg, das in nur 10 Jahren die enorme Zahl von 87 Ganztagsschulen geschaffen hat.
EMMA: Macht Ihr Verband auch Vorschläge zur Finanzierung?
Appel: Ja, zum Beispiel zur Kostensenkung. Natürlich ist die Ganztagsschule personalintensiver, aber das müssen nicht immer teure Lehrerstellen sein. Sozialarbeiter kosten weniger und bringen Kompetenzen wie Spiel- und Konfliktpädagogik ein, die Lehrer nicht studiert haben. Natürlich braucht man für die Freizeitangebote auch mehr Platz. Dafür muss aber nicht gleich angebaut werden, man kann auch mit Durchbrüchen zu den Nachbarklassen größere Räume schaffen. Wir schlagen vor, Ganztagsschulfachberater auszubilden, die die Schulen vor Ort beraten, um Fehlplanungen zu vermeiden.
EMMA: Es gibt aber doch sicher LehrerInnen, die die Vorstellung, jetzt auch noch mit ihrer Klasse mittags essen zu müssen, als Zumutung empfinden.
Appel: So ist es. Jeder Berufsstand ist erst mal skeptisch, wenn die gewohnten Arbeitsbedingungen sich verändern. Auch der Einzelhandel hat erst mal abwehrend auf die Verlängerung der Ladenöffnungszeiten reagiert, obwohl die Arbeit dadurch für den einen oder anderen durch mehr Flexibilität auch leichter werden kann. Wir erleben, wie Lehrkräfte, die anfangs skeptisch waren, nach zwei, drei Jahren vom gemeinsamen Mittagessen völlig begeistert sind, weil sie dort erreichen, was wir sonst nur auf Klassenfahrten schaffen: einen entspannteren, menschlicheren Umgang mit den Kindern.
EMMA: Sollten Ihrer Meinung nach denn alle deutschen Schulen auf Ganztagsbetrieb umgestellt werden?
Appel: Nein. Wir fordern, dass für jedes Kind eine Schule jeder Schulart mit Ganztagsbetrieb in zumutbarer Nähe erreichbar ist. Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg.
EMMA September/Oktober 2001
Tipps+Adressen: "Die Ganztagsschule", Zeitschrift des Ganztagsschulverbandes, Quellhofstr. 140, 34117 Kassel, T 0561/ 85077, www.bda-online.de +++ Initiative zur Förderung ganztägiger Betreuung von Kindern c/o Ute Grey, Muskatstr. 3, 70619 Stuttgart.
Zum Weiterlesen: Stefan Appel: Handbuch Ganztagsschule (Wochenschau Verlag).

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