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Gabriele Gün Tank: will erinnern

Foto: Heike Steinweg
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Das Fließband läuft auf Hochgeschwindigkeit. Werden die Arbeiterinnen zu langsam, motzt der Chef. Die Frauen tragen Miniröcke. Mit wehenden Haaren singen sie türkische Lieder von Heimweh und Barrikaden-Kämpfen. Noch wissen sie nicht, dass sie bald selbst auf die Barrikaden gehen werden. Und dass sie es sind, die die Abschaffung der „Leichtlohngruppe II“ auf den Weg bringen. 

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Die erste Generation Gastarbeiter -
das waren vor allem Frauen!

Die Szene ist Teil eines Theaterstücks, das zurzeit mit großem Erfolg im Berliner Gorki Theater aufgeführt und im Frühling durch mehrere Städte touren wird. Es basiert auf dem Roman „Die Optimistinnen“ von Gabriele Gün Tank und erzählt von der ersten Generation Gastarbeiter. Denn das waren vor allem Frauen! 1973 arbeiteten mehr als 700.000 ausländische Frauen in der BRD. Deutsche Firmen warben gezielt um sie, weil sie sie noch schlechter bezahlen konnten, und glaubten, dass sie einfach zu handhaben seien.

Letzteres ging nach hinten los. „Wenn über unsere Mütter, Tanten und Großmütter geschrieben wird, nennt man sie unterdrückt, schwach oder abhängig. Dabei trugen sie Miniröcke, gingen feiern, streikten und protestierten“, sagt Gün Tank 50 Jahre später. Und das in einer Zeit, als Männer ihren Ehefrauen in der BRD das Berufstätigsein noch verbieten konnten. „Diese Frauen waren hochpolitisch und sie konnten kämpfen!“, sagt die Tochter. 

Das gilt besonders für den Streik 1973 beim Automobilzulieferer Pierburg in Neuss. Dieser „Wilde Streik“ – wie es zu der Zeit viele in Europa gab – wurde eben nicht von Gewerkschaften organisiert, sondern von den migrantischen Arbeiterinnen. Er schrieb Geschichte. Fünf Tage lang agitierten die Frauen fast 3.000 Beschäftigte, ihre Arbeit niederzulegen. Die Solidarität unter den Frauen war grenzenlos. Ohne die Arbeiterinnen aus der Türkei, aus Griechenland, Spanien, Italien wäre die auch von Feministinnen bekämpfte „Leichtlohngruppe II“, die Frauen für die gleiche Arbeit deutlich schlechter bezahlte, vielleicht erst Jahre später abgeschafft worden. „Eine Mark mehr!“ – Von dieser Forderung setzten die Frauen immerhin 65 Pfennig pro Stunde durch.

Bei den wilden Streiks ging es nicht nur um Geld, sondern um Würde

Aber es ging nicht nur um Geld, sondern auch um das Recht auf Sprachkurse und vor allem: um Würde. „Die Türken proben den Aufstand“ hieß es abfällig in den Medien. Dazu noch falsch: Die Türkinnen probten den Aufstand. Auch Gün Tanks Mutter, Azize Tank, war mit dabei 1972, in einer Porzellanfabrik in der Oberpfalz. Später wird sie Sozialarbeiterin, dann Migrationsbeauftragte in Charlottenburg-Wilmersdorf. Und 2013 Bundestagsabgeordnete der Linken. Wenn die Mutter sich mit Frauengruppen trifft, ist die Tochter von klein auf an ihrer Seite. „Ich bin unter Frauen groß geworden. Viele starke migrantische Frauen waren dabei.“ 

Gabriele Gün wird 1975 in Berlin geboren. Der Vater ist ein Deutscher. Als das zweite Kind geboren wird, ein Mädchen mit Behinderung, verlässt er die Familie. „Wir drei sind uns genug“, sagt Gün, als eine Frau vom Jugendamt vorbeikommt und sie dem deutschen Vater zuschieben will. 

Gün Tank mit ihrer Mutter Azize. - Foto: Aliona Kardash
Gün Tank mit ihrer Mutter Azize. - Foto: Aliona Kardash

Die Familie hält stets den Kontakt zur Großfamilie in Istanbul. Die Stadt wird Güns Sehnsuchtsort, sie studiert dort Journalismus. In Berlin wird sie Ende der 1990er Jahre Mitbegründerin der Band „Die bösen Mädchen“. Aus der Band wird ein Verein für Mädchen jeder Couleur: Mit Behinderung und ohne, mit Migrationshintergrund oder ohne, oder ganz einfach mit Pubertät. 

Mit 32 tritt Gabriele Gün Tank in die Fußstapfen ihrer Mutter und wird die jüngste Integrationsbeauftragte in Tempelhof-Schöneberg. Heute arbeitet sie als „Beauftragte für Menschen mit Behinderung“. 

Als sie mit Zwillingen schwanger ist und viel liegen muss, schreibt sie „Die Optimistinnen“. „Ich wollte die Geschichte dieser Frauen und der Frauen in meinem Leben erzählen.“ Und Gün Tank wollte damit auch an eine große Vorkämpferin anknüpfen, Emine Özdamar, die 1965 als Gastarbeiterin in eine Fabrik für Radiolampen nach Deutschland kam und heute Georg-Büchner-Preisträgerin ist. 

Gün Tank liest am 23. April in Löhne aus "Die Optimistinnen" (weitere Termine auf www.fischerverlage.de).

"Die Optimistinnen" im Maxim-Gorki-Theater Berlin am 26. April und 24., 25. und 31. Mai 2024

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