Greta-Land

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Pippi Langstrumpf macht sich die Welt, wie sie ihr gefällt. Das würde Greta auch gern. Keine Organisation, keine Partei – nein, eine junge Schwedin hat die weltweite Bewegung ­„Fridays-for-Future“ angestoßen. Mit aufmüpfigen Kindern haben wir hierzulande so unsere Pro­bleme. Auch „Pippi Langstrumpf“ hatte in Deutschland einen schweren Start. Ihr ziviler Ungehorsam passte bei Erscheinen 1949 so gar nicht ins Konzept. In der Bundesrepublik lehnten fünf Verlage das Buch zunächst ab, in der DDR wurde es unter dem Ladentisch verkauft. 

In Schweden hingegen gibt es bereits seit den 1930er-Jahren die fest in der Bevölkerung verankerte Tradition, Kinder als „selbstständige und starke Individuen“ zu erziehen. Lindgren schrieb „Pippi Langstrumpf“ vor dem Hintergrund der Sozialreformerin Alva Myrdal (1902– 1986). 

Die Soziologin und Politikerin sowie spätere Friedensnobelpreisträgerin Myrdal war eine der ersten Frauen Schwedens, die trotz Ehe und Kindern ein eigenes, selbstständiges Leben führte und dies für alle Frauen einforderte. Myrdal kämpfte für „Geborgenheit und Freiheit“ als Werte in der Kindererziehung. Nur daraus könne sich die „Souveränität des Individuums“ entwickeln – und damit auch die Grundlage für die Gleichberechtigung der Geschlechter.

Lindgren charakterisierte ihre Pippi als „einen kleinen Übermenschen in Gestalt eines Kindes“. 

Nein, es ist also kein Zufall, dass nur Schweden solche Supermädels wie Pippi und Greta hervorbringt. Und es ist auch kein Zufall, dass Männer und Frauen in Schweden so gleichberechtigt sind wie nirgendwo sonst auf dieser Welt. Das große Land mit der recht überschaubaren Einwohnerzahl von zehn Millionen hat in seinem basisdemokratischen Selbstverständnis auch die Gleichberechtigung der Geschlechter implantiert: Seit den 1970er-Jahren ist in der schwedischen Verfassung festgeschrieben, dass Macht und Ressourcen gerecht zwischen den Geschlechtern verteilt werden. Es müssen die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass Frauen und Männer die gleiche Macht und gleiche Chancen haben. Diese Voraussetzungen fußen auf zwei politischen Säulen: Auf einer geschlechtergerechten Familien­politik und auf der rigorosen Politik gegen Sexualgewalt.

Familienpolitik ist in Schweden Wirtschaftspolitik und gilt laut Unicef Kinderhilfswerk europaweit als die beste der Welt. 86 Prozent aller Mütter sind berufstätig, die Geburtenrate ist fast dreimal so hoch wie in Deutschland. Schweden kennt keine „Rabenmütter“. Die sehr komfortablen Elternzeit- und Elterngeldregelungen gibt es bereits seit 1974 und sind auch für Väter attraktiv. Mit 42 Prozent ist der Anteil der Väter, die Elternzeit nehmen, überdurchschnittlich. Bis zum achten Lebensjahr des Kindes besteht für Mütter und Väter ein Anspruch auf das Arbeiten in Teilzeit. Die Grundlage für die Idee der geteilten Elternschaft lieferte bereits 1961 die Journalistin Eva Moberg (1932 – 2011). In ihrem Buch „Frauen und Menschen“ räumt sie mit der Vorstellung von der größeren Verantwortung der Frau für die Kinder auf. Sie nennt Mutterliebe das „am meisten ausgebeutete Gefühl“. Moberg sorgte mit ihrem Buch dafür, dass viele Frauen den Mutterschafts- und Weiblichkeitsmythos als „Gefängnis der Frau“ begriffen. Ihre liberale Forderung nach der größtmöglichen Freiheit und Entwicklung jedes einzelnen Menschen hat sich tief in die schwedische Seele eingeschrieben. Kindererziehung wird seitdem als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden. Die schwedischen Kitas haben von 7 bis 19 Uhr geöffnet, einige Kommunen passen die Öffnungszeiten der Kindergärten sogar den Arbeitszeiten der Eltern an. Auf fünf Kinder kommt einE ErzieherIn. Höchstens 17 Kinder sind in einer Gruppe. Auch hochpreisige ­Restaurants haben selbstverständlich Kinderhochstühle und Wickelmöglichkeiten. Immer gibt es einen Tritthocker, um Kinder am Verkaufstresen auf Augenhöhe zu bringen.

Der Staat schert sich nicht darum, ob Eltern verheiratet sind oder nicht. Es gibt keine steuer­lichen Anreize für Verheiratete. Sie werden nicht gemeinsam veranlagt, jede/r zahlt Steuern nur für sich. Das hat den Vorteil, dass kein gutverdienender Mann auf die Idee kommen kann, wie in Deutschland die günstige Steuerklasse 3 zu nehmen, und die Ehefrau in die ungünstige Steuerklasse 5 zu schieben. 

Neben der ausgeklügelten Familienpolitik ist es vor allem die Politik gegen Sexualgewalt, die Gleichberech­tigung möglich macht. 

Noch Anfang der 1950er-Jahre war Schweden recht offen in Sachen Prostitution und Pornografie. In den 1960er- und 1970er-Jahren wurde der „Schwedenporno“ mit sehr blonden Männern und Frauen, die es in unberührter Natur miteinander trieben, zum eigenständigen – vor allem im Ausland sehr beliebten – Genre. Die Prostitution florierte. Gleichzeitig gab es die tabubrechenden Filme von Ingmar Bergmann und Mai Zetterling, die mit ihren Filmen gegen den Krieg wie Geschlechterkrieg („The Girls“, 1968) und für kreative und sexuelle Freiheit von Frauen plädierte.

In den 1990er-Jahren erlebte Schweden sein böses Erwachen. Der Menschenhandel hinter der Prostitution wurde immer deutlicher. Ein Land, das Gleichberechtigung für Mann und Frau will und Prostitution billigte – das ging nicht mehr zusammen. Die Regierung brachte eine große Gesetzesreform auf den Weg. Die damalige sozialdemokratische Abgeordnete Carina Ohlsson war eine der treibenden Kräfte für das Prostitutionsverbot: „Es geht um den Respekt für den Menschen. Man respektiert einen anderen Menschen und dessen Körper nicht, wenn man ihn kauft. Ein Mensch kann nicht zum Verkauf stehen“, sagte sie damals in alle Mikrofone, die sich ihr entgegenstreckten. Das sah auch die Mehrheit der SchwedInnen so. Prostitution wurde schließlich als Männergewalt gegen Frauen und Kinder ­definiert und ist seit 1998 verboten. Freiern ­drohen bis zu drei Jahren Haft (siehe Seite 94). Der Straftatbestand heißt: „Die grobe Verletzung der Inte­grität einer Frau.“ Schweden integrierte die Gesetzgebung zur Prostitution in ein Gesetzespaket gegen Gewalt gegen Frauen. Misshandlungen, Vergewaltigung und auch sexuelle Belästigung wurden Inhalt dieses Paketes, das unter der Bezeichnung „Frauenfrieden“ be­kannt wurde. 

Als Deutschland 2002 das Prostitu­tionsgesetz verabschiedete, fand die schwedische Gleichstellungsministerin Margareta Winberg großen Zuspruch im Parlament, als sie sagte: „Eine Gesellschaft, die Prostitution als Beruf oder Wirtschaftszweig anerkennt, ist eine zynische Gesellschaft, die den Kampf für die schutzlosesten und verwundbarsten Frauen und Kinder aufgegeben hat.“ 

2018 ging Schweden noch einen Schritt weiter und präsentierte das Gesetz „Samtyckeslagstiftning“, was so viel heißt wie „Einverständniserklärung“. Jede sexuelle Handlung, die nicht in gegenseitigem Einverständnis geschieht, ist seither strafbar. Die deutsche Presse fabulierte über „Koital­formulare“, prophezeite eine bevor­stehende Klagewelle und erklärte Schweden zum „unromantischsten Land der Welt, in dem man bei jedem Stellungswechsel sicherstellen müsse, dass der andere noch will“. In Schweden amüsierte man sich über die erregten Deutschen. Dort wurde das neue Gesetz nicht nur begrüßt, es wurde sogar für längst überfällig gehalten.

Und noch etwas, das in Schweden ganz normal ist, wird in Deutschland hysterisch beäugt. Die Erziehung zur „Normkritik“. Normkritik bedeutet nichts anderes als das vermeintlich Normale in Frage zu stellen. So wandert schon mal eine Stockholmer Schulklasse durch die Stadt und fragt sich, warum bei männlichen Skulpturen die Geschlechtsorgane zu sehen sind, bei weiblichen aber nicht, oder nur die Brüste. „Normbewusstsein“ und „Normkritik“ gehören zu den „Grundwerten“ der schwedischen Schul­behörde. Auch Kommunen, Hochschulen oder Museen machen immer wieder Projekte zur „Normkritik“. So zum Beispiel im National­museum in Stockholm: Dort steht der Hinweis, dass bestimmte Bilder „von patriarchalischen Geschlechterrollen des Nationalismus“ geprägt sind. 

Die amtierende rot-grüne Minderheitenre­gierung mit Ministerpräsident Stefan Löfven bezeichnet sich selbst als „erste feministische Regierung der Welt“. Es ist nicht nur ein symbolischer Feminismus. Die ehemalige Außenminis­terin Margot Wallström war, bevor sie 2014 das Amt übernahm, UNO-Sonderbeauftragte für das Thema sexualisierte Gewalt in Konflikten. „Die weltweite systematische Unterordnung von Frauen unter Männer ist im Grunde eine Menschenrechtsfrage“, sagt sie immer wieder in Interviews. Ziel sei es, die „Rechte, Repräsentation und Ressourcen von allen Frauen und Mädchen zu stärken“. Konkret bedeutet das beispielsweise, dass Schweden Botschafterpositionen zunehmend mit Frauen besetzt. Schon bis 2016 waren 40 Prozent der Botschafter weiblich. Zudem bilden die Botschaften vor Ort gezielt Friedensvermittlerinnen und Mediatorinnen aus.

Doch auch Schweden muss seit einigen Jahren stärker denn je für seine Frauen kämpfen. 2015 war ein Schicksalsjahr. Pro Kopf kamen dorthin mehr Flüchtlinge als in jedes andere Land Europas. Rund 163.000 Asylanträge wurden gestellt. Auf die Einwohnerzahl von zehn Millionen herunter­gebrochen, hat Schweden damit relativ mehr als zweieinhalbmal so viele Flüchtlinge aufgenommen wie die Bundesrepublik. Zu viel für das Land, das sich über Jahrzehnte als Einwanderungsland verstanden hatte. Die Medien sprechen von einer „Welle der Gewalt gegen Frauen“. Und in allen Regionen mit hohem Migrationsanteil stieg die Kriminalität auf ein vorher nie dagewesenes Level. 

Wie im Rest Europas wuchs der Nährboden für Rechtspopulisten. Zeitweise lagen die rechten, aus Nazi-Gruppen entstandenen Schwedendemokraten gleichauf mit den Sozialdemokraten von Ministerpräsident Löfven, der eine Minderheitsregierung mit den Grünen führt. Ende 2015 begann die rot-grüne Regierung, genau jene Maßnahmen umzusetzen, die sie zuvor als undenkbar und rassistisch kritisiert hatte: Grenzkontrollen und Zurückweisungen auf der Öresundbrücke zwischen Dänemark und Schweden sowie eine Begrenzung der Familienzusammenführung. Es war Skandinaviens Abschied von der Willkommenskultur.

Und auch MeToo hat in Schweden eingeschlagen wie eine Bombe. Und das im Paradies für Frauenrechte? „Gerade weil unser Bewusstsein dafür so hoch ist!“, antworteten die SchwedInnen. Hinzu kommt: Das Land hat traditionell starke Gewerkschaften und Frauenrechts-Aktivistinnen; sie sind es gewohnt, aufzubegehren.

Von der Politikerin bis zur Soldatin berichteten 2018 Tausende Frauen von Machtmissbrauch und sexuellen Übergriffen. Fast jede Branche veröffentlichte ihren eigenen MeToo-Appell. 4.600 Frauen aus dem Baugewerbe, 1.700 Frauen aus der Armee, 10.000 Ärztinnen hatten unterschrieben. Der erste Aufruf stammte aus der Film- und Theaterbranche. 456 Schauspielerinnen unterzeichneten 2017 den ersten offenen Brief im Svenska Dagbladet, einer der beiden großen Tageszeitungen in Schweden. Höhepunkt war ein Abend in einem Stockholmer Theater, in dem auch die Königin und Prinzessin Victoria im Publikum saßen und die Schauspielerinnen schockierende Leidensgeschichten vorlasen. 

Nicht minder schockierend waren Ereignisse rund um die Nobelpreise, die von der Schwedischen Akademie vergeben werden. Der franzö­sische Fotograf und Regisseur Jean-Claude Arnault, Ehemann der Lyrikerin Katarina Frostenson, die Mitglied der Akademie ist, betrieb seit fast 30 Jahren einen privaten Verein in einem Kellerlokal, in dem er zahllose junge Frauen sexuell missbrauchte und vergewaltigte. Er versprach ihnen Zugang zu künstlerischen Kreisen oder drohte, weitere Erfolge zu verhindern. Der private Klub wurde mit Mitteln der Akademie gefördert. Im Zuge von MeToo zeigten 18 Frauen Arnault schließlich an. Er ist mittlerweile rechtskräftig wegen Vergewaltigung verurteilt. Der Literaturnobelpreis wurde 2018 nicht vergeben. Dafür 2019 gleich zweimal: an einen Mann (Peter Handke) und eine Frau (Olga Tokarczuk). 

So ziemlich alle der schwedischen MeToo-Frauen verstehen sich in der Tradition der „Gruppe 8“, die Schweden maßgeblich zu einem feministischen Land gemacht hat. Der Diskriminierungs-Ombudsmann – den es nur in Schweden gibt – verlangt aktuell von 40 Unternehmen, vom Nationaltheater bis zum Obersten Gerichtshof, detaillierte Berichte, was sie gegen sexuelle Diskriminierung im eigenen Haus tun. Der Kampf um Gleichberechtigung ist also auch in Schweden noch längst nicht gewonnen. 

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