Ich habe für die Stasi gearbeitet

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Meinen ersten Bericht schrieb ich mit fünfzehn, am Ende der 9. Klasse. Die Nachtpförtnerin unseres Internats sagte mir, dass ihr Mann in den Westen gefahren sei und dort wie ein König lebe, dass sie auch gern gefahren wäre, doch noch keine Rentnerin sei und sich am liebsten die Hand abhacken würde, um als Invalidin rüberzukönnen.
Ich erzählte meiner Freundin davon und wurde plötzlich zur Heimleiterin bestellt, die mir sagte, ich solle das Gespräch aufschreiben. Meine Freundin hatte ihr davon berichtet, weil die Nachtpförtnerin sich über sie beschwert hatte. Ich schrieb den Bericht gemeinsam mit meinem Freund, der vor dem Internat auf mich wartete, denn ich war etwas hilflos und fand die Sache blöd. Andererseits war ich gewohnt, das zu machen, worum die Heimleiterin mich bat.
Und dieser Bericht schien ihr sehr wichtig zu sein. Auf den Rat meines Freundes schrieb ich das mit der Hand nicht hinein. Außerdem versuchte ich die Ansichten der Nachtpförtnerin irgendwie zu erklären, denn ich hatte nichts gegen sie und ich wusste, dass es ihr wirklich nicht gut ging. Erleichtert gab ich der Heimleiterin den Bericht. Sie las ihn und sagte, dass etwas fehlen würde.
Als ich verneinte, antwortete sie, ich solle aufpassen, mit wem ich Umgang habe. Einige Zeit später fragte ich sie, was sie mit dem Bericht gemacht hätte. Sie versicherte mir, dass er noch bei ihr im Schreibtisch liege und sie ihn nur, wenn etwas dazukäme, weiterreichen werde. Die Frage stellte ich ein bisschen atemlos und hilflos und kam mir eher frech als mutig vor. Mit der Nachtpförtnerin habe ich nicht über den Bericht gesprochen.
In der 10. Klasse, da war ich 16, wurde ich zum Heimleiter gerufen. Er stellte mir einen Mann vor, der mit mir reden wollte und verließ sein Zimmer. Der Mann war von der Staatssicherheit. Er fragte mich, ob ich für sie arbeiten wolle. Ich glaube, er sagte, dass es nicht darum gehe, jemanden auszuhorchen. An das SONDERN kann ich mich nicht mehr erinnern. Vielleicht sagte er etwas von Aktionen des Klassenfeindes. Ich musste mich nicht sofort entscheiden. Er wollte wiederkommen. Ich ging in mein Zimmer zurück, warf mich aufs Bett und freute mich. Seitdem mit meinem Freund Schluss war, fühlte ich mich ziemlich schlecht. Mir kam alles langweilig vor, öde, und ich sah manchmal in nichts mehr einen Sinn.
Ich sah in dieser Zeit regelmäßig die Aktuelle Kamera, wie es von uns erwartet wurde. Ich dachte an Che Guevara, dessen Biographie wir damals gerade lasen und dessen Porträt wir zu einer Schablone vergrößert hatten, nach der wir Che-Plakate malten, von denen eins im Zimmer hing. Außerdem hatte ich fünf Jahre eine Schule mit dem Namen von Richard Sorge besucht und etwas über ihn gelesen. Die Frage des Manns von der Staatssicherheit versprach mir aber nicht nur Spannung, nun endlich mal etwas zu erleben.
Ich war außerdem stolz, dass ich angesprochen wurde. Diese Wichtigkeit stärkte mein aus unterschiedlichen Gründen ziemlich angeknacktes Selbstbewusstsein. Als der Mann wiederkam, sagte ich also zu. Ich kann mich an seinen Namen und an sein Gesicht nicht mehr erinnern, aber er muss mir ja einen Namen gesagt haben. Ich konnte mir einen für mich ausdenken. Ich nannte mich Antje, denn mein Vater hatte sich gewünscht, dass ich so hieße, sich aber damit meiner Mutter gegenüber nicht durchsetzen können. Mit diesem Namen glaubte ich, ein neues, anderes Leben zu beginnen.
Später überlegte ich, warum sie mich angesprochen hatten. Vielleicht hatte jemand aus meiner Umgebung, der für die Staatssicherheit arbeitete, über mich berichtet? Außerdem hatten sie ja vielleicht schon einen Bericht von mir. Hinzu kam, dass mein Vater Offizier war und ein Onkel von mir bei der Staatssicherheit gearbeitet hatte.
Bei uns zu Hause wurde die offizielle Politik nicht in Frage gestellt. Als ich in psychiatrischer Behandlung war, erzählte ich meiner Mutter, dass ich für die Staatssicherheit gearbeitet hatte. Mein Vater, dem sie es weitersagte, glaubte es nicht. Ich fragte meine Mutter vor einiger Zeit ziemlich vorwurfsvoll und verzweifelt, warum sie mit uns nie über die Staatssicherheit gesprochen hatte, denn eine Freundin hatte mir erzählt, dass sie sofort, nachdem sie angesprochen wurde, zu ihrer Mutter gegangen sei, die sie mit den Worten "Du wirst unglücklich für dein ganzes Leben" vor einer Arbeit für die Staatssicherheit gewarnt habe.
Meine Mutter antwortete, dass sie an so etwas nicht gedacht habe. Sie hatte uns Kinder z.B. davor gewarnt, mit Fremden mitzugehen, etwas anzunehmen, mich später davor, allein zu trampen. Hätte sie uns vor dem Mann von der Staatssicherheit warnen sollen? Außerdem war ich damals nicht mal auf die Idee gekommen, zu meinen Eltern zu gehen, weil ich mich sowieso von ihnen bevormundet gefühlt und sogar geglaubt hatte, mit dem Geheimnis etwas Besonderes, Eigenes zu haben.
Ich traf mich mit dem Mann von der Staatssicherheit ziemlich regelmäßig, wohl einmal im Monat. Wir verabredeten uns für irgendwo und führen mit dem Auto aus der Stadt. Das war nicht so aufregend und wichtig, wie ich es mir vorgestellt hatte, aber doch etwas Besonderes, wenn einmal im Monat niemand wusste, wo ich hinging, ich auf diese Weise rauskam aus allem Bekannten.
Einmal sagte der Mann zu mir, sie würden sich für einen interessieren, der gerade aus dem Gefängnis entlassen worden sei, und dass es nicht schlecht wäre, wenn ich den kennen lernen würde.
Tatsächlich begegnete ich K. bald darauf, ohne dass ich sofort wusste, er war gemeint. Wir gefielen uns, und als ich merkte, dass er der für die Staatssicherheit so interessante Mann war, bekam unsere Beziehung für mich einen besonderen Reiz zwischen Verboten und Erlaubt. Ich erfuhr, dass er wegen Rowdytums und Republikflucht fünfmal im Gefängnis gewesen war, an die UNO und Amnesty International wegen Verletzung der Menschenrechte geschrieben hatte, dass erden Wiedereingliederungsparagraphen jedes Mal , wenn er aus dem Gefängnis zurückkehrte, wieder für fünf Jahre bekam, und dass er die letzten Male wegen Verletzung diese Paragraphen ins Gefängnis gekommen war, der ihm den Aufenthaltsort, die Arbeitsstelle, die Wohnung und den Umgang mit den Freunden vorschrieb.
Außerdem musste K. sich wöchentlich bei der Polizei melden und wurde auf der Arbeit und von seinen Nachbarn kontrolliert. Die meisten dieser Tatsachen erführ ich von ihm. Obwohl wir uns befreundet hatten, traf ich mich weiter mit dem Mann von der Staatssicherheit, dem ich wahrscheinlich einiges bewusst verschwiegen hatte. Aber ich wusste nicht, was ihnen vielleicht ohnehin bekannt war, und was für sie wichtig war, mir aber vielleicht belanglos vorkam.
Schockiert hat mich, dass K. Hitleranhänger war, weil ich bis dahin noch nie einen kennengelernt hatte. Doch ein halbes Jahr später wollte ich selbst mit meiner Freundin ein Hakenkreuz an die Schule malen, die uns fürchtbar anstank. Wir wurden jedoch durch Freunde davon abgelenkt. K. war schon wieder im Gefängnis. Ich war aus dem Internat geflogen, wurde in der Schule wie der letzte Dreck behandelt und fühlte mich wirklich so. Es war herausgekommen, dass ich ein paar Nächte nicht im Internat, sondern bei einem Assi oder Kriminellen geschlafen hatte. Der Mann von der Staatssicherheit gab mir wieder ein bisschen Selbstbewusstein, als ich sagte, sie hätten mich nicht feuern dürfen.
In dieser Zeit sprach ich mit meinem ersten Freund darüber, dass ich für die Staatssicherheit arbeitete. Das war kurz nachdem ich gebeten worden war, über ihn einen Bericht zu schreiben. Ich tat das gern, weil ich ihn noch sehr mochte und weil ich ihm etwas Gutes tun wollte, denn er lebte ziemlich an den Rand gedrückt. Als ich ihm von meiner Tätigkeit erzählte, sagte er, bei ihm seien sie gerade gewesen. Er habe zugesagt, weil er mal sehen wolle, was das für Typen sind. Obwohl wir an dem Abend ziemlich viel lachten, konnten wir uns gar nicht richtig freuen. Ich hatte gedacht, dass er anders reagieren würde.
In der U. Klasse bewarb ich mich für ein Auslandsstudium, weil ich von zu Hause weg, aber auch nicht mehr ins Internat wollte, und weil ich Angst vor K.s Rückkehr aus dem Gefängnis hatte, denn ich wollte nicht wieder da hineingezogen werden. Dort wo ich, in Vorbereitung auf das Studium im sozialistischen Ausland, mein Abitur ablegte, hatte ich ebenfalls Kontakt zur Staatssicherheit. Ich sollte über meine Kommilitonen berichten.
Zu Beginn meines Studiums erzählte ich P., einem Kommilitonen aus der DDR, von meiner Tätigkeit für die Staatssicherheit. Er sagte mir, dass er auch für sie arbeite. Als es in Polen, unserem Studienland, zum Aufstand kam, sammelten wir Flugblätter und stahlen gemeinsam Aushänge, was uns Spaß machte, da es nicht ungefährlich war, und wir uns überlegen mussten, wie wir es am besten anstellten. Ich weiß nicht, wie viel Dokumente wir dem Mann von der Staatssicherheit - er war ein Mitarbeiter unserer Botschaft - gaben. Einige Broschüren besitze ich heute noch. Vielleicht behielt auch P. viel für sich, denn er hatte sich, als künftiger Historiker, ein Archiv angelegt.
Ich bekam von dem Mann der Staatssicherheit zwei- oder dreimal Geld, über das ich mich sehr freute, denn unser Stipendium war niedrig, und in den Geschäften lagen Waren, die es in der DDR nicht gab, die aber auch sehr viel Geld kosteten. Ich kaufte mir in diesem Winter eine Bluse und ein Kleid. Ohne das Geld von der Staatssicherheit hätte ich das wohl nicht tun können.
Es war einigen von uns schon früh klar, dass wir wegen des Aufstands unser Studium im Ausland nicht würden beenden können. Ich wollte in der DDR nicht weiterstudieren, sondern neu anfangen. Ich hatte zum Beispiel von Katyn und vom sowjetisch-deutschen Geheimvertrag erfahren und hielt dies für wahr, weil die DDR-Presse auch nicht die Wahrheit über die Ereignisse in Polen berichtete. Ich sah u.a. Fotos von 1968 und 1953, die mich sehr betroffen machten. Natürlich hätte ich es alles nicht so ernst zu nehmen und mich nicht so, auch lustvoll, hineinzusteigern brauchen, denn selbst der Mann von der Staatssicherheit stimmte mir zu, als ich ihm sagte, dass die Polen doch im Recht seien.
P. sah ebenfalls alles das, was ich sah, und war nicht anderer Meinung. Trotzdem konnte er nicht verstehen, warum ich mich plötzlich exmatrikulieren ließ. Einmal sagte er, wenn er mich nicht so lange kennen würde, hätte er mir schon längst eine geknallt. Ein anderes Mal sagte ich ihm, mich hätte beim Trampen ein Mann vergewaltigt, der zu einer Parteikonferenz gefahren wäre. Das stimmt nicht. Aber ich wollte einfach meine Ruhe haben und nicht immerzu meine Entscheidung begründen müssen.
In der Botschaft erinnerte mich jemand streng daran, dass ich als Studentin im Ausland doch einen Auftrag habe. Ich sagte, dass ich nicht nur eine Studentin mit einem Auftrag sei, sondern ein Mensch, und dass ich leben wolle. Mir fiel in dem Moment ein, wie ich bei einer Fete am Fenster gestanden hatte und fliegen wollte. Ich hatte einiges getrunken und auf mich aufmerksam machen wollen. Der, auf den es mir dabei angekommen war, hatte das Fenster mit den Worten "Es zieht" geschlossen.
Auf der Straße sah ich unwillkürlich Krieg. Die Truppen des Warschauer Pakts standen an der Grenze. Mein Bruder war damals gerade bei der Armee. Ich lernte in Polen Menschen kennen, die ich sehr gern habe. Ihre Aufstandsstimmung steckte mich an. Die Leute aus der Botschaft schickten mich zum Psychologen. Ich ging tatsächlich zum Arzt, der mir half, die Exmatrikulation zu bekommen.
Nach meiner Rückkehr in die DDR sprach ich sehr lange mit niemandem über meine Erlebnisse. Als ich erneut ein Studium begann, hatte ich zum einen große Angst davor, dass wieder jemand von der Staatssicherheit kommt und meine Mitarbeit will, und zum ändern hatte ich das Gefühl, ausgegrenzt zu werden. Ich begann, überall Zeichen zu sehen und zu suchen, um einen Sinn oder einen Weg zu finden, denn ich wusste nicht weiter.
Meine Eltern brachten mich in die Psychiatrie, als ich so gehetzt zu Hause ankam. Meine Mutter weinte und sagte immer wieder, ich solle still sein. Mein Vater war wütend. Ich gab der Ärztin ein Foto, das ich aus einer Zeitung herausgerissen hatte, weil ich mich auf ihm wiederzuerkennen glaubte. Es war ein bekanntes Foto aus Auschwitz. Im Hintergrund stehen in einer Reihe Häftlinge. Vor ihnen läuft eine Frau vorbei. Sie hat einen Mantel an, lange Haare und sieht ins Objektiv. Ich konnte nicht herausfinden, ob sie eine Aufseherin oder eine Gefangene war, und hatte Angst, zu einer von beiden gemacht zu werden.
Ich merkte, dass ich nicht mehr allein mit meinen Erlebnissen klarkam, und versuchte seitdem. Vertrauen zu fassen und Bekannten davon zu erzählen. Einfach deshalb, um Hilfe zu finden und Ängste und Einbildung abzubauen oder zu relativieren. Ich bemühe mich zu verstehen, warum ich für eine Mitarbeit in Frage gekommen und zu einer solchen so lange bereit gewesen bin.
M.J., EMMA 11/1990

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