„Ich wäre ein Mann geworden!“
Ich bin eine Frau. Ich habe vier Kinder geboren. Ich war insgesamt 118 Wochen schwanger. Ich habe 34 Monate meines Lebens Babys gestillt. Ich schreibe seit über 30 Jahren Bücher. Ich bin Schriftstellerin. Als ich zwölf war, nannten mich die Jungen in meiner Klasse kryptisch „BMW“. Dazu lachten sie und warfen sich vielsagende Blicke zu. Ich hatte nicht den blassesten Schimmer, was BMW bedeutete. Heute weiß ich natürlich längst, wofür BMW in meinem Fall stand: Für „Brett Mit Warze“. Das war ich: busenlos. Flach wie ein Brett. Dünn. Sehr dünn. Die Mädchen aus meiner Klasse, der 7c, hatten alle schon mehr: Pickel, besagte Brüste im Wachstum, manche sogar schon ihre Tage. Ich fühlte mich merkwürdig. Irgendwie gedemütigt von diesem BeEmWe. Andererseits war ich auch froh, noch so zu sein, wie ich war. Erst als ich 15 wurde, war es soweit: Ich bekam meine erste Periode. Es war im August im alljährlichen Sommerurlaub in Schweden, und ich bekam sie begleitet von sich rasch ausbreitender, schlimmer Akne und einer rasant wachsenden Oberweite. Ich war überaus erschrocken.
Heute weiß ich, ich hatte es gut: die Periode immer nur alle 34 Tage und so schwach, dass ich später – als ich vollends erwachsen war – jahrzehntelang mit immer nur wenigen Tampons der kleinsten Größe über die Runden kam. Drei Tage dauerte der Spuk jeweils nur, dann hatte ich wieder meine Ruhe. Damals jedoch war der Gedanke, mir ein Tampon irgendwo dort unten einzuführen, unmöglich. Dieser Gedanke schüttelte mich. Ich fand es eklig. Und schrecklich. Und demütigend. Dazu kam dieses grässliche Gefühl, das herauströpfelnde Blut zu spüren! Ahhhhhhhhhh! Ich ekelte mich. Ich war unsicher. Unglücklich. Gedemütigt. Das Die-Binde-aus-der-Unterhose-ziehen-und-hastig-zusammenknüllen-und-in-Klopapier-gewickelt-in-den-Mülleimer-stopfen war sehr, sehr schlimm für mich. Schlimmer noch, wenn ich unterwegs war. Wenn kein Mülleimer neben der Toilette war. Oder wenn jemand vor der Tür dieses leise Ratsch würde hören können, das es machte, wenn man die Binde von der Unterhose ablöste. Ich hatte so viel Angst in dieser Zeit. Ich fühlte mich so schmutzig und diesem Leben als Mädchen/Frau ausgeliefert. Dabei hatte ich es, rückblickend betrachtet, gut: meine Periode war – wie gesagt – leicht. Ich hatte keine Bauchkrämpfe wie so manch anderes Mädchen in meinem Umkreis. Dennoch litt ich. Dazu bekam ich von jetzt auf gleich einen großen Busen. BMW war gestern!
Es war nicht die Zeit von BHs. Meine Mutter, die mich 1969 mit 18 Jahren bekommen hatte, trug auch keinen. Keine Frau, die ich kannte, trug 1984 einen BH. Meine Mutter hatte einen anderen Busen als ich. Einen viel kleineren. Ich hatte – heute weiß ich es – innerhalb eines Jahres die „Körbchengröße“ 75C. (Es sollte bis 1996 – also 12 Jahre! – dauern, bis ich diese Bezeichnung kannte und erleichtert meinen ersten BH erstand!)
Mein großer Busen war 1984 jedenfalls mein Feind. Mein Busen machte aus meinem sehr dünnen Körper (50 Kilogramm), dazu sehr langen, sehr dünnen Beinen, schmalen Handgelenken, schmalen Hüften (androgyn), eine Kuddelmuddelfigur: dürr an den Außenstellen, rund in der Mitte. Wie eine menschgewordene Boje. Ich fühlte mich völlig falsch. Hässlich. Gedemütigt. Schmierig. Wabbelig. Nicht mehr ich selbst.
Heute schaue ich mir Bilder aus der Zeit an und sehe ein dünnes, harmloses Mädchen mit ängstlichen Augen. Damals wollte ich lieber tot als dieses Mädchen sein. Ich verabscheute mich. Ich schwor mir, mir mit 18 Jahren – wenn ich volljährig wäre – die Gebärmutter herausoperieren zu lassen.
Kurz vor meinem 17. Geburtstag ging ich erstmals soweit, mich einer Freundin anzuvertrauen. In einer Übernachtungsnacht berichtete ich ihr von meinen Sorgen, meinem Ekel, meinem Gefühl der Demütigung und des Ausgeliefertseins meinem menstruierenden Körper gegenüber. Der skeptische Kommentar meiner Freundin: „Ich glaube nicht, dass ein Arzt sowas machen würde bei einer gesunden Achtzehnjährigen …“ ließ mich erneut zweifeln und verzweifeln. Wie sollte ich das lebenslang aushalten? Dieses Frausein? Dieses schreckliche, blutige, peinliche, busige Frausein? Ich wollte keine Frau sein. Auf keinen Fall.
Was wäre gewesen, wenn ich damals die Möglichkeit gehabt hätte, das Mädchensein loszuwerden? Die Antwort ist völlig einfach: ICH WÄRE EIN MANN GEWORDEN! So schnell wie möglich! Wenn ich heute eine der vielen Dokumentationen über sogenannte „Transjugendliche“ sehe, wird mir aus diesem Grund mulmig. Da sind diese jungen Mädchen, die – wie ich damals – zutiefst verunsichert sind vom ganz normalen Mädchen-Sein, von ihrem sich verändernden Körper, von den typischen Auf’s- und Ab’s, die man in diesem Alter durchlebt, damals wie heute. Dazu kommt aber heute zentnerschwer Social Media mit all seinen Abgründen: Wie habe ich auszusehen? Was darf ich wiegen? Wie viele Freunde, Likes, Follower habe ich? Sehe ich sexy aus? Bin ich cool?
Auf tausend Seiten erfahre ich, wie Abnehmen geht, wie Schminken geht, wie Tinder geht, was guter Sex ist, was Männer von Mädchen/Frauen so alles erwarten: einen tollen Körper, Coolness im Bett, einen reinen Teint, einen flachen Bauch, eine enge Vulva (zu verbessern mit Beckenbodengymnastik – auch die kann man natürlich via Handy und einem ans mobile Netz angeschlossenen Beckenbodentrainer – erhältlich bei Amazon – erlernen). Ich kann – wenn ich deprimiert bin (und das ist man als Jugendliche verdammt oft) – anklicken, wie es ist, sich zu ritzen, zu hungern, innere Ruhe durch Yoga zu finden. Ich finde auch Selbstmordforen für den gemeinsamen Online-Selbstmord.
Es geht auch heiter: Ich kann lesbisch werden, oder asexuell – oder nonbinär. Ich kann Sex mit vielen gleichzeitig haben oder ein Leben mit mehreren Partnern und Partnerinnen (Stichwort Polyamorie) planen. Es gibt endlos viele Gender-Pronomen und endlos viele Sexpraktiken. Es gibt erwachsene Frauen, die sich für Sex von erwachsenen Männern wickeln und füttern lassen und in (große) Strampelanzüge stecken (adultes Babysyndrom nennt sich dieser Wahnsinn) und YouTube bietet die passenden „Dokus“ dazu.
Junge Mädchen erfahren via Internet die gruseligsten Sexdetails: man definiert sich als Tier, es gibt multiple Orgasmen, Männer „stehen zu 97 % auf Oralsex …“ Puh. Vielleicht gab es diesen ganzen Wahnsinn ja schon immer – oder wenigstens schon sehr lange, aber heute finden junge Leute von 14, 15 Jahren diesen ganzen Irrsinn eben in ihrem Handy, mit dem sie schließlich auch Fotos machen, Musik hören, Vokabeln lernen, mit Freunden chatten, die Großeltern anrufen, oder auf dem Navi den Weg von Köln nach Bonn nachschauen. Der Klick zum Irrsinn ist so nah, so vertraut – und so einfach. Und da wird aus einer normalen Jugendlichen recht leicht ein Mädchen, das plötzlich meint, in Wahrheit ein (Trans)Mann zu sein.
Allem voran: keine Fünfzehnjährige ist ein Mann, so wie sie auch noch keine Frau ist. Sie ist ein unsicherer Teenager. Ein Mädchen, das voller Erstaunen und Erschrecken und Unsicherheit seinen sich entwickelnden Körper betrachtet – und das zusätzlich im Internet erfährt, was von Mädchen und Frauen sextechnisch so alles erwartet wird. Ich wäre damals auch lieber ein „Junge geworden“, in heutiger Sprache: ich hätte erleichtert gesagt, dass ich in Wahrheit ein Transmann bin. Ich hätte – wie diese Jugendlichen heute – ebenfalls überzeugend hinzufügen können: „Ich war schon immer so. Ich habe nie Kleider getragen. Ich habe nie mit Puppen gespielt.“ Denn das ist die Wahrheit. Und noch mehr Wahrheit: Ich habe als Kind tatsächlich sogar Fußball gespielt! Ich tobte draußen mit den Jungs herum! Ich trug nur Hosen! Ich hatte keine beste Freundin, sondern Oliver, meinen besten Freund! Viele Jahre lang. Auf vielen Kindergeburtstagen war ich das einzige Mädchen. Ich wäre damals liebend gerne ohne Busen und Periode und dem Gedanken, mal Kinder gebären zu müssen, durchs Leben gegangen. Ich hätte coole Hormone und „Busen weg“ und „Gebärmutter raus“ bejubelt.
Heute dagegen bin ich unsagbar froh, dass ich diese Möglichkeit damals noch nicht hatte. – Denn: ich bin eine glückliche Frau. Und froh um die vier Kinder, die ich geboren habe. Sogar die Geburten waren ein tolles Erlebnis.
Lasst die Mädchen in Ruhe erwachsen werden. Gerne in Jeans. Gerne auf dem Fußballplatz. Gerne mit raspelkurzen Haaren. Entscheiden sollen sie, wenn sie erwachsen sind. Wirklich erwachsen sind.
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