Ihr seid echt kinderfeindlich!

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Eine kinderlose Freundin, Katja, berichtet über ihren Tag am Schwimmbad. „Gott, war das anstrengend heute!“, sagt sie. „Es gab so ein Kind da – total nervig –  Kevin oder Justin oder Marcel vielleicht. Und es hat nur rumgeschrien, die ganze Zeit! War nur am Rumschreien! Es war so nervig, man konnte sich keine zwei Sekunden entspannen.“

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„Na ja“, sage ich. „Komm, Jacinta!“, sagt Katja. „Du musst zugeben, dass Kinder echt laut und nervig sein können! Und die modernen Eltern sind rücksichtslos!“ Ich versuche, die Mama schief anzugucken, damit sie mitkriegt, dass ich das nicht okay finde. Aber es ist ihr egal. „Ehrlich gesagt wäre ich dafür, Kinder in Schwimmbädern zu verbieten!“

Vielen Menschen, wie meiner Freundin Katja, ist es gar nicht ­bewusst, dass ihre Kinderfeindlichkeit und Moderne-Eltern-Ba­shing-Keule quasi 100%ig frauenfeindlich ist. Man lästert doch über moderne Eltern, nicht nur über die Mütter, oder? Und man lästert über sie deswegen, weil sie scheiße sind. Oder?

Kinder sind laut und Mütter daran schuld 

Den Reaktionen meines Freundeskreises zufolge sind moderne Eltern in Deutschland voll scheiße! Entweder sind die total asozial, nennen ihre Kinder Marcel oder Kevin und Fynn-Korbinian oder Tabea-Charlotte-Luise-Victoria, rauchen in der Küche, kontrollieren nicht die Hausaufgaben, lassen die Kinder immer im Schwimmbad rumschreien, schicken sie mit sechs Monaten zum Chinesisch-Lernen und Baby-Karate und lassen sie überall – im Dom, in Kunstgalerien, im Parlament –, ihre eigenen Fahrscheine am Fahrscheinautomat kaufen, so dass man immer seinen Zug verpasst. Oder sie sind Immigranten. 

Und alle diese Auf-sehr-verschiedene-Art-Scheiße-Eltern haben eins gemeinsam: Keine von denen hat ihren Kindern beigebracht Messer und Gabel zu benutzen. In genau zwanzig Jahren werden ganz viele Besteck-Fabriken in Deutschland pleitegehen. Aber die schlimmste Sünde ist, dass ihre Kinder laut sind. Die Kinder sind laut, die Eltern rücksichtslos, und die armen, armen Kinderlosen total unentspannt. Und die Mütter sind schuld! 

„Diese Prenzlauer Berg-Mütter mit ihren Riesenbuggies!“, sagt mein Kumpel Nils. „Wie sie in Cafés rumsitzen, langsam ihre Scheißchailattefrappés austrinken! Alles entkoffeiniert, weil sie ihre Scheißkinder bis zur Einschulung stillen! Mein Gott.“ Und weiter, immer weiter: „Früher war Prenzlauer Berg cool! Das war voll punk. Und jetzt ist der ganze ­Bezirk ein Riesenstillende­mütter­selbst­hilfe­­gruppecafé geworden. Ich kann‘s verstehen, dass die Café-Besitzer da Widerstand leisten und den Müttern den Eintritt in ihre Cafés verbieten.“

„Findest du das nicht ein bisschen ­Taliban-mäßig?“ frage ich unschuldig. „Ich glaube, der Taliban mag es auch nicht, wenn Frauen in Cafés gehen. Es geht aber nicht drum, dass das Frauen sind!“, sagt Nils. „Das ist Gentrifizierung! Du bist keine Berlinerin, verstehst das nicht. Sie treiben die Gentrifizierung an. Sie sind alle mit Bank-Managern und Stock-Brokern verheiratet! Dann werden sie schwanger, hören auf zu arbeiten und fangen an, Chai Lattes zu trinken! Irgendwann mal muss stopp sein!“

Glaubt er wirklich, dass diese Café­besitzer, die diese Frauen nicht im Laden haben wollen, weil sie Gentrifizierung so scheiße finden, glücklicher wären, wenn ihre Läden plötzlich voller türkischer oder Hartz-IV-Teenie-Mamas wären? Nein. Es geht bei diesem Eltern-Bashing doch nur darum: um Macht. Und wem die Stadt gehört.

Männer, zum Beispiel. Männer dürfen überall hin. Sie dürfen in Restaurants und Kneipen sitzen. Sie dürfen im Zug sein, und sie dürfen das Flugzeug benutzen. Ihnen gehört die Welt, die Stadt und die Straße. Männer dürfen mit den Beinen so weit gespreizt in der U-Bahn sitzen, dass die Menschen (bzw. Frauen) nebenan ihre Beine eng an sich ziehen müssen. Männer dürfen laut sein. Wenn eine Gruppe ­Neo-Nazis oder Fußball-Hooligans oder Bache­lor-Par­ty-Jungs die U-Bahn betreten, sagt niemand was. Sie dürfen singen und ­pöbeln, schreien. Niemand sagt was. Niemand. Warum nicht? Die Menschen haben Angst. Aber auch zu großkotzigen Business-Männern im Restaurant oder im Café sagt niemand was. Die dürfen brüllen, streiten, lachen, rufen. Vor denen haben die Menschen zwar keine Angst, dafür aber Respekt.

Männer dürfen brüllen und streiten

Bei wem aber sagen die Menschen immer was? Bei Frauen mit Kindern! (Ich bin übrigens manchmal mit Kind und einem männlichen Kumpel unterwegs. Dann sagt niemand was). 

Können Sie Ihr Kind bitte still halten? – Können Sie Ihrem Kind sagen, dass es leise sein soll? – Können Sie Ihrem Kind sagen, dass es nicht so laut sein darf? – Können Sie, ... Immer und immer wieder. Als ich als Alleinerziehende noch auf Hartz-IV war, waren diese Szenen oft die einzigen Kontakte, die ich mit erwachsenen Menschen am Tag hatte. 

Die Leute glauben, sie wollten, dass die Kinder leise sind. Aber da niemand leise ist, Kinder auch nicht, ist klar zu sehen, was sie eigentlich nicht wollen: Frauen und Kinder. Sie wollen, dass wir verschwinden. Es wäre besser, wir wären nicht im Zug, nicht in der U-Bahn, nicht im Schwimmbad, nicht am See, nicht im Supermarkt, nicht im Café. Wir hätten Hausarrest. 

Ich glaube übrigens nicht, dass Kinder besonders laut und nervig sind. Wisst ihr, was ich viel lauter und viel nerviger als Kinder finde? Autos. Autos kann ich sogar hören, wenn ich in meinem Bett liege. Aber niemand lästert über die Lautstärke von Autos. Warum nicht? 

Ich sage euch, was der Unterschied zwischen Autos und Kindern ist: Männer kaufen Autos, sie kaufen Autos mit Geld. Wir respektieren Männer und wir lieben Geld. Frauen kriegen Kinder: Sie kriegen Kinder, wenn sie Sex gehabt haben. Wir verachten Frauen. Sie haben Sex gehabt, sie haben ein Kind und sie trinken einen Latte Mac­chia­to. Nervend!

In einer nicht frauenfeindlichen Welt wären nicht Kinder und ihre Mamas die Nervensägen, sondern Männer und ihre Autos. Man würde merken, wie jedes Mal, wenn ein Auto die Straße entlang rast, die Entspannung futsch ist. Man würde drüber lästern, und man würde versuchen, Autos zu verbieten. Aber wir leben in einer frauenfeind­lichen Welt. Wir versuchen, Kinder zu verbieten.

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Die Rosa-Hellblau-Falle

The Pink Project. The Blue Project. Von der koreanischen Fotografin JeonMee Yoon.
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Dafür haben die PsychologInnen von der Universität in London unter anderem Studienergebnisse aus 85 Jahren analysiert. Anstatt sich mit Geschlechterbildern aus den 1930er Jahren zu befassen, hätten sie vielleicht einfach mal Almut Schnerring fragen sollen. Hier ihre ganz persönliche Analyse.

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"Ist das ’n Mädchen oder ’n Junge?“ „Das ist Mika.“ „Aber die hat ja Jungenschuhe an!“

An ihrem ersten Kindergartentag wurde unsere Tochter von zwei erfahrenen Vorschulmädchen begrüßt. Mit nur wenigen Sätzen führten sie uns ein in die Welt der Geschlechtertrennung. Mikas Schuhe waren weiß mit blauen Streifen.

Ähnliche Kommentare von Kindern, aber mehr noch von Erwachsenen fielen in den darauf folgenden Monaten, vor allem dann, wenn Mika Blautöne bevorzugte, wenn sie wieder mit kurz geschnittenen Haaren kam, wenn sie bei jedem Matschwetter die Berge rauf- und runterpflügte. Und mehr noch, als unser Sohn sich eines Morgens entschied, im Kleid der großen Schwester in den Kindergarten zu gehen. Das war vor zehn Jahren.

Ist das ein Mädchen oder ein Junge?

Doch was damals bloß einzelne, irritierende Erfahrungen waren, ist inzwischen zu einem Dauerthema geworden: Jungsschuhe und Mädchenfarben, Monsterfighter und Schminkpuppen, Piratenpartys und Prinzessinnengeburtstage, Jungenspielzeug, Mädcheninteressen. Wir mussten lernen, dass ein Mädchen, das keine Barbie besitzt und blaue Turnschuhe trägt, genauso wie ein kleiner Junge, der gerne zum Tanzunterricht geht, schon mal zur Außenseiterin, zum Sonderling wird, es sei denn, beide ignorieren selbstbewusst die Kommentare, Blicke und Zwischentöne. Denn die bleiben nicht aus, wenn ein Kind sich nicht an die Regeln der rosa-hellblauen Welt hält.

Zuerst war es das Hello-Lilly-Kitty-Pony-Glitzer-Angebot, das die Spielwarenabteilungen in zwei Welten trennte, dann kamen die Überraschungseier mit dem rosa Köpfchen und der Elfentrank „extra für Mädchen“ dazu. Auch wenn es um Grillwürstchen geht, wird heutzutage unterschieden: die Variante mit Zwiebeln trägt das Etikett „Männerbratwürste“, in „Frauenbratwürste“ sind dagegen Brokkoli- und Karottenstückchen, daher sind sie prompt teurer. Dafür gibt es extra „Frauensenf“ dazu, der ist wahrscheinlich süßer, weil Frauen ja nicht so auf scharf stehen, behauptet die Marktforschung. Und wehe, eine greift zu den Chips mit Chili! Die sind für den „Männerabend“ gedacht und so was machen Frauen ja nicht, sie wollen lieber milde Chips für den „Mädelsabend“, süß, oder? Soviel zum Frauen- und Männerbild derer, die sich Werbestrategien für neue Produkte ausdenken.

Und damit Mädchen und Jungen auch früh genug in ihrer jeweiligen Schublade landen, gibt es inzwischen schwarze Schnuller mit der Aufschrift „Bad Boy“ und rosafarbene für die „Drama Queen“. Ein praktisches Accessoire, mit dessen Hilfe Eltern direkt am Schnuller die Ursache fürs Weinen ablesen können: Sie ist eben zickig und macht ein Drama um nichts, er dagegen ist zornig und will seinen Willen durchsetzen.

In den 1970er Jahren waren die bunten Plastiksteine von Lego noch für alle da, heute trennt die Legowelt in ‚City‘ (viele namenlose Männchen mit abenteuerlichen Technikberufen) und ‚Friends‘ (fünf Freundinnen mit Minirock und einem ausgeprägten Interesse fürr Tiere und Accessoires).

Richtete sich die Krimireihe ‚Die drei Fragezeichen‘ früher an alle Kinder, gibt es jetzt die speziell für Mädchen eingeführte Buchreihe: ‚Die drei Ausrufezeichen‘. Drei stupsnasige und langbeinige Freundinnen im Manga-Look, die Aerobic-Stunden nehmen, sich über Pferde und Schminke unterhalten und sich für ältere Jungs interessieren, lösen rätselhafte Fälle: ‚Betrug beim Casting‘, ‚Achtung Promihochzeit‘, ‚Gefahr im Fitness-Studio‘ oder ‚Duell der Topmodels‘. Die Titel sollen signalisieren, wofür moderne Mädchen von heute sich angeblich interessieren, sagt der Kosmos-Verlag.

Die kommerziellen Hintergedanken der verantwortlichen Unternehmen und Werbemenschen sind offensichtlich: Wenn es gelingt, die Konsumenten und Konsumentinnen als zwei strikt unterschiedliche Gruppen zu etablieren, dann lässt sich der Umsatz vielleicht nicht verdoppeln, aber doch beträchtlich erhöhen. Bei Ferrero und Capri-Sonne, bei Lego und Kosmos hat das wunderbar geklappt, so dass jetzt immer mehr Firmen nachziehen.

MarktforscherInnen und WerberInnen nennen ihre Strategie ‚Gendermarketing‘ und sorgen dafür, dass kleine Brüder nicht mehr die Kleidung ihrer großen Schwestern übernehmen können; dass Mädchen scheinbar anderes Spielzeug brauchen als Jungen; andere Freizeitbeschäftigungen, sogar eine andere Ernährung. Dass wir Erwachsenen diesen Weg häufig unterstützen, unbewusst oder aus Gemütlichkeit und Erschöpfung, weil wir den Konflikt leid sind mit unseren Kindern, mit anderen Elternpaaren, den Großeltern, liegt vor allem auch an unseren finanziellen Möglichkeiten. Wir können es uns zumeist leisten, der Tochter ganz andere Schuhe, Bücher, CDs und Computerspiele zu kaufen als dem Sohn, niemand muss mehr teilen oder sein Spielzeug weiterreichen. Unternehmen setzen deshalb mit aller Macht auf die Geschlechterdifferenz, denn angesichts sinkender Geburtenraten scheint das die letzte Möglichkeit, in diesem Bereich noch Umsätze zu steigern.

Die Kommentare unter Artikeln oder Blogeinträgen, die sich kritisch mit den neuesten Auswüchsen des Gendermarketing auseinandersetzen, argumentieren mit dem „freien Willen“: „Wir leben doch in einer freien Welt“, heißt es da, oder: „Wer den Trend nicht mitmachen möchte, kann es ja sein lassen, es wird ja niemand gezwungen.“ Zur Freude der Verantwortlichen in den Unternehmen und Werbeagenturen. Kein Unternehmen, das wir dazu befragt haben, hält sich angeblich selbst für einflussreich genug, um Stereotype festzuschreiben oder Klischees gar zu erschaffen. Im Gegenteil, die Befürworter und StrategInnen des Gendermarketing betonen, sie wollten nichts weiter, als Mädchen und Jungen „bei ihren Grundbedürfnissen abholen“.

Jungen seien nun mal statusorientiert und Mädchen beziehungsorientiert, lautet die Erklärung des Konsumforschers Axel Dammler, auf dessen Untersuchungen sich beispielsweise Ferrero und Capri-Sonne berufen. Dammler: „Jungs und Männer sind deswegen quasi naturgegeben egoistischer, egozentrischer und weniger altruistisch als das weibliche Geschlecht.“ Das Bild vom harten Mann wird munter reproduziert, und das ist unheimlich praktisch, denn mit den angeblich „natürlichen Grundbedürfnissen“ lässt sich jede Art von Verhalten rechtfertigen.

Dabei haben zum Beispiel Kristi Klein und Sara Hodges von der University of Oregon gezeigt: Wenn es eine Belohnung gibt für empathisches Verhalten, wenn Geld für Einfühlungsvermögen in Aussicht gestellt wird, dann schneiden Männer in Empathietests genauso gut ab wie Frauen. Und Frauen schneiden dann besonders gut ab, wenn vor einem Test betont wurde, wie empathisch Frauen ja im Allgemeinen seien. Trotzdem wird das Klischee vom Mann, der keinen Draht zu seinen Gefühlen hat, weiter verbreitet und gleichzeitig werden kleine Jungs seltener getröstet als Mädchen, wenn sie weinen. Ein Indianer kennt nun mal keinen Schmerz. Dieser Spruch hat auch heute noch nicht ausgedient, er wird nur noch getoppt von: „Jetzt hör doch auf zu heulen, du bist doch kein Mädchen“.

Eltern sind für das Stichwort „Grundbedürfnis“ besonders empfänglich, klingt es doch so überlebenswichtig wie Schlafen und Essen. Kein Vater, keine Mutter will den Kindern ihre „Grundbedürfnisse“ verwehren. Zumal wir uns heute letztlich doch alle einig sind, dass unsere Söhne und Töchter die gleichen Möglichkeiten und Rechte bekommen sollten, unabhängig von ihrem Geschlecht. Wenn dann aber die Tochter in Rosa versinkt, der Sohn dem Nachbarskind mal wieder die Sandschaufel in den Kragen schüttet, dann liegt der Schluss nahe, dass die Biologie doch stärker sein muss, dass wir gegen die Natur eben nicht ankommen. Oder?

Nicht wenige Väter und Mütter sind überzeugt davon, ihre Kinder „neutral“ zu erziehen. Aber das stimmt in den seltensten Fällen. Mädchen und Jungen wachsen anders auf, werden anders behandelt, stoßen auf unterschiedliche Erwartungen der Erwachsenenwelt. Dass wir anders reagieren, wenn uns ein Baby als Junge oder als Mädchen vorgestellt wird, dass wir anders mit ihm oder ihr umgehen, seine oder ihre Handlungen und Reaktionen unterschiedlich bewerten, haben zahlreiche Studien eindrucksvoll belegt.

Tatsächlich beginnt es schon vor der Geburt: Wenn im Ultraschall zum ersten Mal das Geschlecht des ungeborenen Kindes sichtbar wird, verändert sich unbewusst unsere Erwartungshaltung, unsere Reaktion, unsere Stimmlage, mit der wir zum Ungeborenen sprechen. Frauen und Männer, Jungen und Mädchen werden heute wieder zunehmend auf Klischees reduziert. Wir alle werden tagtäglich mit lustigen, ironischen Sprüchen und gephotoshopten Bildern darauf hingewiesen, wie ein Mann, eine Frau, wie ein „richtiger“ Junge und ein „echtes“ Mädchen zu sein haben: was sie zu tragen, essen und zu lieben haben. Und damit sind nicht nur Werbebilder gemeint.

Im Fernsehprogramm ebenso wie im Kino überwiegen traditionelle Rollenbilder, Frauen sind sowohl in den Geschichten als auch hinter der Kamera in der Minderzahl. Zwei von drei aller Hauptfiguren in Film und Fernsehen sind männlich, nur ein Drittel sind weiblich. Die Medienforscherin Maya Götz stellt außerdem fest: „Die Mädchenund Frauen figuren verharren in althergebrachten Klischees vom zuarbeitenden Weibchen, dem konsumverhafteten Luxusgeschöpf oder der schönen Prinzessin, die auf ihre Errettung wartet.“

Natürlich gibt es auch Filme mit weiblichen Hauptrollen, doch die stecken meist in rosa gelabelten DVD-Hüllen und wurden extra für Mädchen produziert. Die Mädchen darin mögen zwar stark und unabhängig sein, doch auch sie sind vor allem makellos schön, langhaarig und besonders schlank. Im Gegenzug sorgt die Verbreitung verzerrter, unrealistischer Männerbilder dafür, dass Jungen ein Rollenverständnis vermittelt wird, das überwiegend von Kriterien wie Stärke, Durchhaltevermögen oder Unabhängigkeit bestimmt ist.

Nicht anders in Computerspielen: Je älter die Zielgruppe, umso deutlicher wird die Geschlechterhierarchie; Kampfszenen nehmen zu, und der Status der Frau sinkt. Über 40 Prozent der GamerInnen in Deutschland sind weiblich, doch Spiele mit weiblicher Hauptrolle sind selten, die männliche Heldenrolle ist der Maßstab der Szene.

„Ist doch schön, dass es Unterschiede gibt, das macht die Welt bunt. Hört auf mit der Gleichmacherei“, lautet ein verbreiteter Vorwurf. Er richtet sich wahllos gegen alle, die sich für eine geschlechtergerechte Erziehung einsetzen. Gleichmacherei ist aber genau das Gegenteil, nämlich: Wenn wir von DEN Jungen und DEN Mädchen als vermeintlich homogener Gruppen sprechen und ihnen naturgegebene Interessen und Neigungen zuschreiben. Individuelle Entscheidungen werden dadurch erschwert, zumal es sich keinesfalls um ein gleichwertiges Nebeneinander handelt. Es gibt keine Trennung in Zwei, ohne dass Wettbewerb und Hierarchie entstehen.

Schon Henry Tajfel belegte mit seinen Studien zur „minimalen Gruppe“ in den 1970er Jahren, dass sogar die Aufteilung einer Gruppe per Losentscheid oder Münzwurf zur Diskriminierung der jeweils anderen führt, die Gruppenmitglieder müssen sich nicht einmal kennen. Zahlreiche internationale Experimente bestätigen: Die eigenen Gruppenmitglieder werden sympathischer, ihre Arbeit besser bewertet, die anderen abgewertet.

Dass auch zwei unterschiedliche Farben schon für eine Hierarchiebildung ausreichen, belegte eine psychologische Studie der University of Texas: Vorschulkinder wurden in eine rote und eine blaue Gruppe aufgeteilt. Drei Wochen lang trugen die einen ein rotes, die anderen ein blaues Shirt. Blaue und Rote wurden gleichmäßig auf zwei Räume verteilt, sodass in beiden Räumen Kinder in roten und in blauen Shirts waren. Im einen Raum wurden die Farben nicht weiter erwähnt, in dem anderen dagegen sprachen die ErzieherInnen die beiden Gruppen immer wieder an: „Guten Morgen Blaue, guten Morgen Rote“. Die Kinder sollten sich morgens in zwei Reihen nach Rot und Blau aufstellen und so weiter, ihre Zugehörigkeit wurde immer wieder betont. Im Anschluss zeigte sich, dass alle Kinder lieber mit Kindern derselben Farbgruppe spielen wollten und auch Spielsachen lieber mochten, die die Kinder der eigenen Gruppe bevorzugten. Diese Vorlieben waren jedoch bei den Kindern besonders stark ausgeprägt, die immer wieder auf ihre Gruppenzugehörigkeit hingewiesen wurden. Kein Wunder also, dass Mädchen sich für Rosa entscheiden, wenn die Umwelt ihnen von Geburt an vermittelt: Rosa passt zu Mädchen, Blau ist die Farbe der anderen.

Mädchen und Jungen spüren von Anfang an, dass in der rosa-hellblauen Unterscheidung der Erwachsenenwelt immer auch eine Wertung steckt. Ein kleiner Junge, der sich fürs Ballett interessiert oder sich einen Schminkkopf zu Weihnachten wünscht, erfährt andere Reaktionen als ein Mädchen, das im Fußballverein Erfolg hat oder sich einen Chemiekasten wünscht. Warum also sollte sich ein Junge hinab begeben in die weibliche Sphäre von Empathie, Fürsorge und Haushaltsarbeit, warum sollte er von sich aus auf die Wertschätzung verzichten, auf all die Privilegien, die wir ihm so bereitwillig zugestehen? All die Kämpfe, die wir in der Erwachsenenwelt austragen, die Diskussionen um Alltagssexismus, um Diskriminierung und Prostitution, Pay Gap und Frauenquote, Gender Care Gap, all diese Auseinandersetzungen verlieren ihre Bedeutung, wenn es uns nicht gelingt, die Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte an unsere Kinder weiter zu geben.

Vor ein paar Wochen habe ich mit meiner Tochter auf dem Kleiderflohmarkt ein Paar Turnschuhe entdeckt, sie waren nagelneu und ein Schnäppchen. Ich war erleichtert, beim Schuhkauf mal günstiger weggekommen zu sein, und Mika freute sich schon, die Schuhe gleich am nächsten Tag in der Schule tragen zu können. Doch innerhalb eines einzigen Vormittags verloren die Schuhe an Chic, und daran war ein kleines, aber entscheidendes Detail schuld: Sie sind blau. Das wusste Mika zwar vorher schon, schließlich ist das ihre erklärte Lieblingsfarbe, und trotzdem lernte sie noch vor Beginn der ersten Stunde von ihren Freundinnen: „Das sind doch Jungsschuhe!“

Mit knapp drei Jahren ließ sich meine Tochter noch von mir überzeugen, dass ihre blauen Turnschuhe genau die richtigen für sie sind, und weder ich noch sie hielten uns länger mit der Farbfrage auf. Doch inzwischen ist Mika zwölf und macht sich zwar einerseits über die Kommentare der Freundinnen lustig, andererseits stehen die Schuhe seither im Regal. Angeblich reiben sie an der Ferse.

Almut Schnerring - Aktualisierte Fassung vom 8.12.2017

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