Mädchen: Immer mehr magersüchtig
Ihre erste Diät hat Lara mit zwölf gemacht. Das war 2023. Auf Skinnytok, dem TikTok-Hashtag für extrem dünne Frauen und Mädchen, hat sie gesehen, wie das geht: Drei Eier am Morgen, ein Protein-Riegel am Mittag, am frühen Abend drei Low-Carb Mini-Frikadellen. Koffeinhaltige Getränke ohne Kalorien zwischendurch, um wach zu bleiben. Wenn der Hunger kommt: Spazierengehen, oder besser gleich joggen. Und auch das sogenannte Skinny-Girl-Mindset hat sie verinnerlicht: Sei kein Mülleimer! Du darfst zu Essen keine Beziehung haben! Du darfst keine Angst vor Hunger haben! Niemand mag dicke Körper! Dick macht Sex keinen Spaß! Sei die beste Version von dir!
Dünn zu sein gilt sogar als feministisch: Mein Körper, meine Entscheidung!
Das Skinny-Girl-Mindset verkauft Schlankheit nicht als Ergebnis von Sport oder Ernährung, sondern als Lebenseinstellung, als Empowerment, sogar als Feminismus. „Du bist Chefin über deinen Körper!“ Besser noch: „Mein Körper, meine Entscheidung!“ Mantraartig werden diese Lebensweisheiten auf Skinnytok von unzähligen rappeldürren Influencerinnen heruntergebetet, begleitet von Produktwerbung für Proteinriegel, Shakes, Energy-Drinks und Sportbekleidung- und Gerätschaften. Der Hashtag Skinnytok ist zwar zurzeit mit einem Warnhinweis zu Essstörungen versehen, wer jedoch ein drittes n oder zweites k einfügt, landet sofort bei den Botschaften der Mager-Influencerinnen.
Lara hat diesen Frauen geglaubt. Sie wollte dazu gehören. Nach drei Monaten hat sie angefangen, sich den Finger in den Hals zu stecken, weil sie mehr gegessen hat, als es im Skinnytok-Universum erlaubt ist. Nach einem Jahr war sie so untergewichtig, dass ihre Mutter mit ihr ins Krankenhaus gefahren ist und sie zu einer Therapie gezwungen hat. Die macht sie gerade.
Lara ist eins von 6.000 Mädchen im Alter von zehn bis 17 Jahren, die 2023 in Deutschland stationär wegen Magersucht oder Bulimie behandelt wurden. Das Statistische Bundesamt hat die Zahlen gerade herausgegeben. Sie haben sich binnen 20 Jahren verdoppelt. 2003 waren es noch 3.000 Patientinnen, 2023 dann 6.000. Laut Hochrechnung der Kaufmännischen Krankenkasse hatten 2023 fast 460.000 Menschen eine diagnostizierte Essstörung, drei von vier sind Mädchen oder Frauen. Die Dunkelziffer dürfte noch höher sein. Nicht alle Betroffenen gehen zum Arzt, Therapieplätze gibt es sowieso viel zu wenig. Fragt man Lehrerinnen weiterführender Schulen, schätzen sie, dass in jeder Klasse jedes dritte Mädchen eine Essstörung hat.
Die Brandbeschleuniger, besonders seit der Corona-Zeit: TikTok und Instagram. Dass Social Media Kinder krank macht, ist mittlerweile in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Pornosucht, Gewaltbereitschaft, Vereinsamung, Depressionen und eben Magersucht durch Schönheitswahn – all das ist bekannt. Entweder sind die Körperbilder, die die Influencerinnen verkaufen, auf Porno gestylt, mit großem Hintern und großen Brüsten oder auf ultradünn. Eine ganze Generation essgestörter Mädchen und zunehmend auch Jungen wächst durch sie heran.
Andere Länder haben bereits die Reißleine gezogen. In Australien wird Ende des Jahres ein Gesetz in Kraft treten, das Jugendlichen unter 16 den Zutritt etwa zu TikTok verwehrt. Auch die große Mehrheit der Deutschen spricht sich in einer repräsentativen Yougov-Umfrage dafür aus, die Handynutzung an Schulen einzuschränken. 50 Prozent sprechen sich gar für ein generelles Verbot auch in der privaten Nutzung bis zum Alter von 16 Jahren aus. Bildungsministerin Prien (CDU) zieht ebenfalls in diese Richtung, scheitert jedoch am Föderalismus in der Bildungspolitik, die nun mal Ländersache ist. Immerhin wollen einige Bundesländer ein Handyverbot an Schulen umsetzen, einzelne Schulen haben es bereits getan.
Es wäre das Mindeste, um den grassierenden Schlankheitswahn zumindest unter Kindern und Jugendlichen einzudämmen. Der Trend der Bodypositivity, der sowieso immer nur ein Marketing-Tool war, ist längst verschwunden. Die Laufstegmode favorisiert wieder Size Zero, Abnehmspritzen sind Normalität geworden. Selbst schlanke Frauen spritzen sie sich, um drei, vier Kilo für die Strandfigur wegzudrücken. Der Hunger-Trend im Netz ist selbstverständlich nichts Neues. Schon 2009 warnte der deutsche Philologenverband, eine Vereinigung von LehrerInnen, vor rund 1.000 deutschen Internetseiten und -foren, auf denen sich Mädchen gegenseitig zum Abnehmen anstachelten. Pro-Ana-Seiten hießen die damals, (kurz für "Pro Anorexie", also "Pro Magersucht"). (Hier zum EMMA-Bericht dazu!)
Schon immer sollten sich Frauen im Patriarchat dünne machen
Die Radikalisierung durch Social Media heute ist neu, das Schlachtfeld Körper besteht, seit es das Patriarchat gibt. Schon immer sollten Frauen sich in Zeiten eines erstarkenden Patriarchats dünne machen. Seit 1977 schreibt EMMA gegen den Schlankheitswahn und seine desaströsen Folgen an. 2007 lancierte EMMA die Kampagne „Leben hat Gewicht - gemeinsam gegen den Schlankheitswahn“, um endlich die Politik für das Thema zu sensibilisieren – was mit der damaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt sowie Annette Schavan (Bildung) und Ursula von der Leyen (Frauen) auch gelang (EMMA-Artikel dazu hier).
Welches Ausmaß das wahnhafte Kreisen um das Körpergewicht bei Mädchen und Frauen inzwischen hat, analysierte die britische Psychoanalytikerin Susie Orbach bereits 1979 mit ihrem „Anti-Diät-Buch“, das die Frauenbewegung weltweit prägte. „Der wichtigste Export des Westens an den Rest der Welt ist Körperfeindlichkeit und Selbsthass“, klagte die Essstörungsexpertin damals. Eine politische Agenda dagegen sei unumgänglich. Das ist 46 Jahre später nicht anders - nur noch sehr viel dringlicher.
Zum EMMA-Dossier über "Die geheime Macht der Influencerinnen" hier!
Hilfe für Betroffene:
www.bzga-essstoerungen.de
www.bundesfachverbandessstoerungen.de