Berliner Gipfel gegen Diätwahn

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Von ihrem Body-Mass-Index hat Nadine Angerer nicht die leiseste Ahnung. Dieses „Körpergröße durch Gewicht zum Quadrat“ oder so ähnlich interessiert sie nicht die Bohne. „Nö“, antwortet die robuste Nationaltorhüterin und Weltmeisterin mit ihrem verdammt charmanten Grinsen auf die Frage der Moderatorin, ob sie die Zauberformel kenne, und erklärt mit der ihr eigenen Bodenständigkeit, wie sie sich die ihr zugesprochenen „Jahrhundertreflexe“ erhält: „Man sollte sich und der Mannschaft gegenüber fair sein und ordentlich essen.“ So einfach könnte das sein. Ist es aber nicht.

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Es war schon ein bunter Haufen, der sich an diesem Winternachmittag in dem großen, lichten Foyer des Bundesgesundheitsministeriums versammelt hatte: Drei Ministerinnen und die EMMA-Herausgeberin, die Torfrau und die TV-Köchin (diesmal verhindert, aber an sich dabei), das Topmodel und die Essstörungsexpertin, die Modemacherin und die Werberin, die TV-Moderatorin und noch eine Ministerin aus Wien. Sie alle waren angereist aus Köln und London, aus Frankfurt und Amsterdam. Alle einte das Ziel, dem Kampf gegen den so selbstzerstörerischen und nicht selten sogar tödlichen Schlankheitswahn endlich auch öffentlich Gewicht zu geben. Und in der Tat: Dutzende von JournalistInnen und Fernsehkameras waren ebenfalls herbeigeeilt. Sie schrieben und sendeten die Botschaft dieses historischen Bündnisses, die Gesundheitsministerin Ulla Schmidt in ihrer Eröffnungsrede auf den Punkt brachte: „Medien, Mode- und Werbebranche müssen sich ihrer Verantwortung stärker bewusst werden. Es ist Zeit für eine breite gesellschaftliche Debatte!

Die begannen die Teilnehmerinnen des Essstörungs-Gipfels schon auf der Bühne. Modemacherin Jette Joop prangerte die „Frauenfeindlichkeit der Modeindustrie“ an; TV-Moderatorin Gundis Zámbó forderte „authentische Frauen auf den Fernsehbildschirmen“; das holländische Topmodel Marvy Rieder sprach von der Verantwortung ihrer Kolleginnen als Rolemodels für junge Mädchen. Und Werberin Karen Heumann zeigte sich bedrückt darüber, dass „Frauen sich jetzt, wo ihnen die Welt offen steht, ein neues Gefängnis bauen“.

„Der wichtigste Export des Westens an den Rest der Welt ist Körperfeindlichkeit und Selbsthass“, klagte die britische Essstörungsexpertin und unermüdliche Aktivistin Susie Orbach besorgt. Aber die ehemalige Therapeutin von Prinzessin Diana, die bereits 1999 Mitorganisatorin eines Body-Image-Summit in England war, strahlte auch, als sie verkündete: „Sie haben hier in Deutschland die einmalige Chance, etwas zu erreichen, denn Sie haben bei dieser Initiative alle drei zuständigen Ministerinnen im Boot. Das ist weltweit einzigartig!“

Geboren worden war die Idee zur Kampagne im Dezember 2006 in der EMMA-Redaktion. Gesundheitsministerin Ulla Schmidt, die zu einem Interview nach Köln gekommen war, schlug vor: „Warum machen wir nicht eine gemeinsame Kampagne?“ Sie rannte bei Alice Schwarzer offene Türen ein. Schließlich schreibt EMMA schon seit 1977 gegen den Schlankheitswahn und seine desaströsen Folgen an – und hatte die Politik in Deutschland bisher dazu geschwiegen. Im Gegensatz zu Ländern wie Großbritannien, Spanien oder Österreich, wo sich Gesundheits- und Frauenministerinnen an die Spitze des Kampfes gegen den Schlankheitswahn gestellt hatten.

Die Expertinnen im Gesundheitsministerium und bei EMMA machten sich an die Arbeit: Treffen, Informationsaustausch, Brainstormings. Welche Institutionen von Essstörungszentren bis Sportverband müssen mit ins Boot? Welche öffentlichen Personen stehen glaubwürdig für den Kampf gegen den Körperterror? Und natürlich durften auch Frauen- und Bildungsministerin nicht fehlen. Ursula von der Leyen und Annette Schavan erklärten ohne Zögern: Wir machen mit! Es konnte losgehen. Motto der Kampagne: „Leben hat Gewicht – gemeinsam gegen den Schlankheitswahn“. Im Visier: Das mediale Trommelfeuer, das unablässig krankhafte (Vor)Bilder für Mädchen und Frauen produziert.

Ein erstes Resultat des Schulterschlusses zwischen Politikerinnen und Feministinnen war an diesem Wintertag in der Berliner Friedrichstraße 108 zu erleben. Nicht nur Prominente, auch VertreterInnen der zahlreichen Institutionen, die in Deutschland seit Jahrzehnten mit dem Thema Essstörungen zu tun haben, waren angereist. Vom Bundesfachverband Essstörungen über die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung bis zum Arbeitskreis Frauengesundheit, vom Deutschen Olympischen Sportbund über den Berufsverband deutscher Psychologinnen und Psychologen bis zur Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Und natürlich diejenigen, die in den Zentren für Essstörungen von Bremen über Frankfurt bis München an der Front ganz direkt mit den Opfern des Schlankheitswahns zu tun haben und seine zerstörerischen Folgen tagtäglich zu spüren bekommen.

Welches Ausmaß das wahnhafte Kreisen um das Körpergewicht bei Mädchen und Frauen inzwischen hat, wusste die internationale Expertin Nr. 1, Susie Orbach, ihrem Auditorium zu berichten. In England sei es mittlerweile bei schwangeren jungen Frauen in Mode, sich ihr Baby bereits im achten Monat per Kaiserschnitt holen zu lassen. Grund: „Sie ertragen es nicht, im letzten Monat so ‚dick‘ zu sein.“ Auch wollten die angehenden Mütter, die ihre Waschbrettbäuche unermüdlich in Fitnessstudios stählen, das „Ausleiern“ der Bauchhaut verhindern. „Wir haben es heute mit einer Müttergeneration zu tun, die schon voll unter dem Schlankheitswahn-Bombardement der Medien aufgewachsen ist“, konstatierte Orbach. „Und die geben ihren Töchtern quasi von Geburt an die zerstörerische Botschaft weiter.“ Schauspielschulen schlügen Alarm, weil der weibliche Nachwuchs kein Interesse mehr daran habe, Charakterrollen zu spielen. Die jungen Frauen hätten Angst, dann nicht „schön und schlank genug“ rüberzukommen. Derweil habe die Diätprodukte-Industrie ihren Gewinn innerhalb von zwei Jahren um das achtfache gesteigert.

Als EMMA 1979 (!) den ersten Text von Susie Orbach druckte, ahnte noch niemand, welches Ausmaß der Schlankheitswahn in den folgenden Jahrzehnten annehmen würde. Dass im neuen Jahrtausend verhungerte Models tot vom Laufsteg fallen würden, während das neue Lieblingsspiel zehnjähriger Mädchen „Germany’s Next Topmodel“ heißt. Dass 16-Jährige auf eine Schönheits-OP sparen würden, um ihr Hüftfett absaugen zu lassen – und ihre Eltern das erlauben. Dass der Leiter des Europäischen Instituts für Ernährungswissenschaften, Udo Pollmer, berichten müsste: „Unsere jüngsten Essgestörten sind inzwischen vier Jahre alt.“

Dabei hatte frau die Tatsache, dass es sich bei alledem um ein Frauenproblem erster Güte handelt, das die Kräfte und Energien des weiblichen Geschlechts absorbiert, sehr rasch und sehr präzise analysiert. „Während Männer nach Profil streben, streben Frauen nach Linie“, schrieb Alice Schwarzer schon 1984 im EMMA-Sonderband „Durch dick und dünn“. „Während Männer Raum einnehmen, machen Frauen sich dünne. Wie günstig.“ Und Susie Orbach erklärte bereits damals: „Dieses hyperdünne Schönheitsideal fällt so präzise mit dem Erstarken der feministischen Bewegung zusammen, dass Misstrauen geboten ist. Es fällt schwer, in dieser ‚Ästhetik der Dürre‘ nicht einen bewussten oder vielleicht auch unbewussten Versuch zu sehen, auf die Forderung von Frauen nach mehr Raum in der Welt zu kontern.“

Knapp 30 Jahre später haben Frauen und Mädchen sehr viel Raum in der Welt eingenommen. Schulen, Unis, Chefsessel. Kasernen, Boxringe, Fußballplätze. Sogar das Kanzleramt. Gleichzeitig sind in dieser Zeit, so scheint es, die Mädchen in epidemischem Ausmaß aus dem Gleichgewicht geraten.

Jedes zweite Mädchen zwischen 14 und 17 Jahren fühlt sich „zu dick“, fand die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) in ihrer aktuellen Studie „Jugendsexualität“ heraus. Dem Gefühl folgen Taten: Jedes zweite Mädchen zwischen 11 und 13 Jahren hat Diäterfahrung, so das Kasseler Zentrum für Essstörungen (Kabera), und auch jede vierte Sieben- bis Zehnjährige übt sich bereits im Studium von Kalorientabellen und versagt sich die gerade im Wachstumsalter lebensnotwendige Nahrung. Dass die Diäten oft der direkte Weg in die Essstörung sind, überrascht nicht und bestätigen alle Prävalenzstudien. Jedes dritte Mädchen zwischen 14 und 17 Jahren zeigt ein gestörtes Essverhalten, ermittelte das Robert-Koch-Institut bei seiner Studie zur Kinder- und Jugendgesundheit (KIGGS). Über 17.000 Jugendliche hatten die ForscherInnen befragt. Das Ergebnis: Jedes dritte Mädchen dieser Altersgruppe beantwortete mindestens zwei von fünf Fragen zu ihrem Essverhalten („Findest du dich zu dick, während andere dich zu dünn finden?“ oder „Übergibst du dich, wenn du dich unangenehm voll fühlst?“) mit Ja. Im Laufe der Pubertät nimmt bei den Mädchen der Anteil der „Auffälligen“ um 50 Prozent zu – bei den Jungen dagegen um ein Drittel ab. Im Klartext: Jungen fühlen sich mit zunehmendem Alter wohler in ihrem Körper – und Mädchen immer unwohler.

„Ich halte es für keinen Zufall, dass die Mädchen und Frauen ausgerechnet in einer Zeit, in der ihnen die Welt nahezu uneingeschränkt offen steht, zurückfallen in solche inneren Zwänge, die ihre Lebenslust und ihre Gesundheit zerstören“, sagte Alice Schwarzer auf dem Berliner Gipfel und erklärte die weibliche Sucht nach Hunger zur „größten Massenpsychose der westlichen Welt“. Es sei höchste Zeit, dass nun auch in Deutschland die Politik aktiv werde.

Die drei Ministerinnen ließen keinen Zweifel daran, dass sie entschlossen sind, die Frauensucht Nr. 1 nun parteiübergreifend zum Politikum zu erklären. „Magermodels gehören weder auf den Laufsteg noch in die Werbung“, forderte Gesundheitsministerin Schmidt und verkündete ihre Absicht, die VertreterInnen der Branchen demnächst an ihren Ministerinnentisch zu holen: „Ich möchte in Deutschland zu einem Kodex kommen.“

„Magersucht ist überwiegend weiblich und sehr jung“, konstatierte Frauenministerin von der Leyen. „Und wir müssen uns fragen: Was sind die Ursachen für so viele Mädchen, ihren Körper abzulehnen und sich selbst verschwinden zu lassen?“ Der Wunsch der Frauenministerin: Man müsse den jungen Mädchen „Medienkompetenz“ und „innere Stärke“ vermitteln und mit der Prävention idealerweise schon im Kindergarten beginnen. Aber das reiche nicht. „Wir müssen Einfluss nehmen auf die, die Leitbilder schaffen!“ pflichtete von der Leyen ihrer Kollegin Schmidt bei. Als ersten konkreten Schritt forderte von der Leyen, die Pro-Ana-Foren im Internet schließen zu lassen. Dafür gebe es durchaus schon jetzt eine gesetzliche Grundlage: „Die Anleitung zum Selbstmord kann indiziert werden."

Auch Bildungsministerin Schavan (CDU) sagte der weiblichen Selbstauflösung durch Size Zero den Kampf an. „Wir sprechen über Vorbilder, die eine immer größere Zahl von Kindern und Jugendlichen in die Selbstzerstörung treibt“, erklärte sie und forderte: „Wenn falsche Vorbilder wirken, dann kann es auch gelingen, andere, authentische Bilder zu etablieren. Wir müssen die Barbie-Matrix durchbrechen!“

Dass sie mit Barbie und ihrer anorektischen Botschaft so gar nichts am Hut hat, daran ließ Andrea Kdolsky in Berlin keinen Zweifel. Die österreichische Gesundheits- und Familienministerin, die kurz nach ihrem Amtsantritt im Januar 2007 ein Kochbuch mit dem Titel „Schweinsbraten & Co.“ herausgegeben hat und sichtbar mit Vergnügen isst, hat als eine ihrer ersten Amtshandlungen im Mai 2007 die landesweite Kampagne SOEss gestartet, für die sie Mode und Medien mit ins Boot holte. Titel: „Wenn die Seele hungert – Wer zu viel abnimmt, verliert mehr als ein paar Kilo“. Und weil „man das Rad ja nicht immer neu erfinden muss“, berichtete die gestandene Ministerin ihren deutschen Kolleginnen von den Erfolgen ihrer Kampagne.

Was kann nun in Deutschland passieren? Nach der Pressekonferenz ging es aus dem Foyer gleich in den Tagungsraum an die Arbeit, denn schließlich soll dieser Tag der Auftakt sein für eine umfassende und „nachhaltige“ (wie es immer so schön heißt) Kampagne gegen den Schlankheitswahn.

Unter der Ägide von Gesundheitsministerin Ulla Schmidt und EMMA-Herausgeberin Alice Schwarzer zogen die TeilnehmerInnen Zwischenbilanz. Denn auch in Deutschland ist schon einiges passiert, um der epidemischen Hungersucht, an der jede zehnte bis fünfte Erkrankte stirbt, Einhalt zu gebieten. Wenn auch noch nicht genug.

Den Anfang machte, wie so oft, die feministische Basis, die Mitte der 80er Jahre die ersten Zentren für Essstörungen gründete. Im Vorlauf waren eine Reihe anstoßgebender Publikationen erschienen: 1979 kam Susie Orbachs „Anti-Diät-Buch“ in Deutschland heraus, 1980 folgte „Der goldene Käfig“ der amerikanischen Psychoanalytikerin Hilde Bruch und schließlich 1984 der EMMA-Sonderband „Durch dick und dünn“. Zwei Jahre später öffnete das Frankfurter Zentrum für Essstörungen seine Pforten. Es folgten weitere in Kassel, Bielefeld und Hamburg. Heute sind ein Dutzend solcher Zentren im Bundesfachverband Essstörungen zusammengeschlossen, hinzu kommen Kliniken und therapeutische Praxen, die sich auf Essstörungen spezialisiert haben.

Je nach Wohnort ist das aber zu wenig. Während zum Beispiel in und um München oder Hessen ein beachtliches Netz aus Einrichtungen für hilfesuchende Mädchen und Frauen existiert, ist Deutschlands Osten Brachland. Überhaupt: „Es gibt in einigen Regionen und jenseits der Großstädte viel zu wenig Einrichtungen“, klagt Pionierin Sigrid Borse vom Frankfurter Zentrum für Essstörungen und kritisiert, dass „die Förderung der Beratung von Essgestörten nicht zu den Pflichtaufgaben der öffentlichen Hand zählt“. Anders gesagt: „Das Problem ist adipös – die Finanzierung anorektisch.“

Einige Hilfsprojekte haben sich für ihre Beratungen inzwischen auch den virtuellen Raum zunutze gemacht. Denn das Internet bietet nicht nur den Pro-Ana-Foren einen optimalen Raum, sondern mit seiner Anonymität auch denen, die Hilfe suchen. So betreibt das Frankfurter Zentrum für Essstörungen seit einigen Jahren die Online-Beratung www.essfrust.de, unter www. hungrig-online.de bietet der gleichnamige Erlanger Verein Hilfe und Austausch im Netz. Und auch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) erhält auf ihrer inzwischen eigens eingerichteten Seite www.bzga.essstoerungen.de täglich 100 Anfragen per E-Mail. Wer nicht gerade Informationen für eine Studienarbeit oder einen Vortrag, sondern Hilfe sucht, wird an das Beratungstelefon der BzgA und von dort an eine Fachstelle vermittelt. Wenn denn eine in der Nähe ist. „Mir ist klar, dass es da noch große Lücken gibt“, räumt Reinhard Mann von der Bundeszentrale ein.

Für LehrerInnen, die der „Massenpsychose“ unter ihren Schülerinnen oft hilflos gegenüber stehen, hat die BzgA, die dem Gesundheitsministerium direkt unterstellt ist, Unterrichtsmaterialien zum Thema entwickelt. Denn man hat begriffen, dass sie dem Bildersturm der Magermodels zum frühestmöglichen Zeitpunkt etwas entgegensetzen muss. So schwärmen viele von ihnen mittlerweile an die Schulen aus wie das Frankfurter Zentrum für Essstörungen mit seinem Projekt "Bodytalk" oder das Münchner Therapie-Centrum für Essstörungen mit seiner Ausstellung „Iss was!“ Das Bremer Landesinstitut für Schule, Gesundheit und Suchtprävention wird gar von alarmierten Eltern zu Elternabenden in die Grundschulen gerufen. „Was muss da im Vorfeld alles passiert sein, bevor die Eltern sechs- bis zehnjähriger Kinder sich einen Informationsabend zum Thema Essstörungen wünschen?“ fragt sich Margrit Hasselmann.

Und immer häufiger melden sich nun diejenigen zu Wort, die selbst betroffen waren und ihre destruktiven Erfahrungen mit Essstörungen und Schönheitsdruck in konstruktive Aktionen umsetzen. Wie das holländische Model Marvy Rieder, die mit ihrer frisch gegründeten MarVie-Foundation ihren oft blutjungen Kolleginnen mit Rat und Tat zur Seite stehen will. „Models brauchen Unterstützung von einer unabhängigen Organisation“, erklärt das Model nach eigener leidvoller Erfahrung. Oder wie Werberin Daniela Kühne, die sich im Jahr 2001, als sie mit einem Gewicht von 35 Kilo kurz vor dem Hungertod stand, mit ihrer Fotokampagne „Schöne schlanke Welt“ heilte (EMMA 1/08) und den Berliner Gipfel begeistert begrüßte: „Ich hätte vor sechs Jahren niemals gedacht, dass es einmal ein solches Event geben würde!“ Oder wie TV-Moderatorin und Mutter einer Tochter Gundis Zámbó, die mit ihrem Buch „Mein heimlicher Hunger“ ihre jahrzehntelange Essstörung öffentlich machte und die „sensationelle Initiative“ lobte.

Es ist fünf vor zwölf. Deshalb müssen nun endlich diejenigen in die Pflicht genommen werden, die in schöner Hochglanz-Eintracht ein gefährliches Schönheitsideal propagieren – von H&M bis HK (Heidi Klum), von Werbung über Mode bis Medien. Erste Reaktionen auf den Berliner Gipfel gibt es schon. Die IGEDO, Deutschlands größter Veranstalter für Modemessen, ist mit von der Partie. „Wir sehen es als unseren Auftrag, unsere Messen nicht auf Kosten der Gesundheit der Models zu machen“, lautet die Botschaft von IGEDO-Sprecher Thomas Kötter aus Düsseldorf. Der Deutsche Werberat hingegen stellt sich dumm. „Jetzt soll der Werbung alles in die Schuhe geschoben werden“, wehrt Werberat-Sprecher Volker Nickel ab.

„Würde es sich statt um Hungern um eine andere Sucht handeln, beispielsweise Zigaretten oder Drogen, die von den Medien mit Hochglanzpostern von glücklich qualmenden oder fixenden Mädchen propagiert würde, wir wären entsetzt“, konstatiert Susie Orbach. „Wir würden die schädlichen Folgen einer solchen Suggestion bekämpfen und die Verantwortlichen für die Folgen dieser Bilder haftbar machen.“

Die Therapeutin weiß nur zu gut, dass sich die Mädchen selbst verzweifelt andere Bilder wünschen. In ihrer neuesten Studie „Beyond Stereotypes“ (Jenseits der Stereotype), für die Orbach über 3.000 Mädchen aus zwölf verschiedenen Ländern befragte, fanden es zwei Drittel der Mädchen „schwierig, sich schön zu fühlen, wenn man mit den heutigen Schönheitsidealen konfrontiert ist“. Jedes zweite Mädchen wünscht sich, „in Zeitschriften mehr Mädchen zu sehen, die ihm im Aussehen ähnlicher sind“. Und drei von vier Befragten gaben zu: „Wenn ich mit meinem Körper unzufrieden bin, vermeide ich bestimmte Aktivitäten.“ Dazu gehören nicht nur der Gang ins Schwimmbad, zum Sport oder in die Sauna, sondern auch das Verkünden der eigenen Meinung, ja sogar der Schulbesuch. Jedes achte von Orbach befragte Mädchen leidet unter einer manifesten Essstörung, jedes Vierte hat schon einmal über eine Schönheitsoperation nachgedacht.

Deshalb hat Orbach gemeinsam mit der Kosmetikfirma Dove die „Initiative für wahre Schönheit“ entwickelt. Ein Produkt dieser Initiative ist ein eindringlicher Internet-Spot: Ein kleines, robustes, sommersprossiges Mädchen, dessen Gesichtsausdruck deutlich erkennen lässt, dass es vorhat, die Welt zu erobern, überquert die Straße. Dort hämmern im Zehntelsekundentakt die gestrafften, gestylten und geglätteten Frauen-Klone auf sie ein. Am Ende des Films: „Let’s talk to our daughters before the Beauty Industry does“ – Lasst uns mit unseren Töchtern sprechen, bevor es die Schönheitsindustrie tut. Genau das ist jetzt auch in Berlin der Plan.

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Dossier: Gegen Diätwahn (2/08)

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