Gegengift im Unterricht

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Sie sehen eigentlich ziemlich durchschnittlich aus, das Girl und der Boy, die da auf der Leinwand auftauchen. Sie: lange glatte straßenköterblonde Haare, rundliches Gesicht. Er: kurze dunkle Haare, ein bisschen breite Nase. Die 15 Zuschauerinnen im Teenageralter im Raum würden sagen: „voll normal“.

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Aber jetzt. Film ab. „Manchmal könnte man glauben, die Welt besteht nur aus zwei Gruppen von Menschen: den normalen Leuten wie du und ich – und den glamourösen Superstars und Topmodels“, sagt eine Frauenstimme aus dem Off. „Wir wollen euch zeigen, was wirklich hinter der glitzernden Fassade der Modewelt steckt und wie viel von dem, was wir sehen, in Wahrheit nur eine Täuschung ist – eine Illusion.“

Eine Armada von Visagisten und Stylisten stürzt sich nun auf die beiden und pinselt, tupft, fönt. Klamotten an, Kunstlicht drauf. Das Mädchen wird mit Jeanshemd und Cowboyhut zur coolen Miss Texas; der Junge mit Perücke und in Schwarz-weiß zum melancholischen Indianer. Aber das reicht noch nicht. Das Projekt Perfektionierung wird am Computer vollendet. Kleinstpickel und Minifältchen – weg damit. „Grundsätzlich gibt es nichts, was durch digitale Bildbearbeitung nicht geändert werden kann“, erklärt die Off-Stimme. „Und wenn wir nichts sagen, dann meinen wir auch nichts.“ Plötzlich wachsen dem Mädchen Brüste mit Doppel-D-Ausmaßen. Und während er auf Parkuhrgröße zusammenschrumpft, bekommt sie Beine in Gazellenlänge. Und schließlich eine Pinocchio-Nase. Ist schließlich alles Lüge.

Am Ende der wundersamen Verwandlungen steht ein Ratschlag von den zwei Models: „Bevor ihr euch stresst, weil ihr so aussehen wollt wie jemand, den es in Wirklichkeit gar nicht gibt, denkt bitte an folgendes: Es ist nicht nur das Bild, das manipuliert wird. Sondern auch ihr.“

Nina, 16, ist von den Socken. „Das war mir nicht klar, wie krass das in den Medien läuft!“ Christina, 17, wusste schon, „dass so was technisch geht“. Sie hat selbst ein Fotobearbeitungsprogramm auf dem Computer. Und auch Ivonne, 14, hat sich schon mal selbst durch das Verzerrungsprogramm ihres PCs geschickt und sich kaputtgelacht über die Schießbudenfigur, die angeblich sie sein sollte. Aber wie systematisch die Hochglanzschönheiten in der digitalen Wurstmaschine glatt- und dünngebügelt werden, das schockt sie nun doch. Nina fordert: „Eigentlich müsste das an jedem Foto dranstehen: ‚Dieses Model wurde stark digital bearbeitet.’ Dann würde es auch weniger Mädchen geben, die von so was ‘nen Schaden kriegen!“

Weil Mädchen – und in zunehmendem Maße auch Jungen – Schaden nehmen an der schönen neuen Medienwelt, sehen die 15 Schülerinnen der Laborschule Bielefeld heute diesen Film. Er ist Teil eines zweistündigen Workshops, den das Frankfurter Zentrum für Essstörungen entwickelt hat. „Zu uns kommen die Mädchen ja erst, wenn sie schon eine Essstörung haben. Und wir haben uns jahrelang gefragt, was wir im Vorfeld tun können“, erklärt Leiterin Sigrid Borse. Das Ergebnis: „Wir wollten zeigen, in welchem Ausmaß die Stars und Models, die die Mädchen anhimmeln, chemisch, chirurgisch und digital bearbeitet sind. Wir möchten den Medien die Maske runterreißen.“

Finanziert hat den Aufklärungsfilm die „Initiative für wahre Schönheit“ des Kosmetikherstellers Dove. Das Unternehmen hatte im Sommer 2004 auf seine Plakatkampagne mit den normalgewichtigen und gutgelaunten Hobbymodels waschkörbeweise Briefe von begeisterten Frauen bekommen. Dove beschloss daraufhin, Glaubwürdigkeit zu demonstrieren: Es finanzierte die weltweite Studie „Beyond Stereotypes“ (Jenseits der Stereotypen), in der Essstörungsexpertin Susie Orbach den Einfluss von Medien und Müttern auf das Selbstwertgefühl von Mädchen untersuchte. Ein Resultat: Jedes zweite Mädchen wünscht sich, „in Zeitschriften mehr Mädchen zu sehen, die ihm im Aussehen ähnlicher sind“. Im Rahmen der Dove-Initiative entstand Unterrichtsmaterial zum Thema Körper und Schönheitsideale – und der Schulworkshop „Bodytalk“. Seit Herbst 2005 tourt die Frankfurter Therapeutin Beate Schnabel nun auf Anfrage an Schulen, baut ihren Beamer auf und zeigt den Schülerinnen, was es mit den übermenschlich langen Beinen und der Pfirsichhaut der Stars so auf sich hat.

Therapeutin Schnabel zeigt noch mehr. Bilder von eingeschnürten Korsett-Taillen und gebundenen Chinesinnenfüßen. Von üppigen Türkinnen und stämmigen Handwerksfrauen aus einer „Zeit, wo Schlanksein nicht angesagt war, weil es als Zeichen von Armut galt“. Und natürlich die üblichen verdächtigen Models und Hollywoodstars.

„Ideale sind wichtig“, weiß die Therapeutin. Weswegen sie den Teufel tut, die Nicole Richies und Keira Knightleys dieser Welt in Bausch und Bogen zu verurteilen. „Im Prinzip hat diese Orientierung ja etwas Positives. Aber das kippt an der Stelle, wo es nur noch um Perfektionismus geht.“

Frauen haben für die so genannte Schönheit schon des öfteren einen hohen Preis gezahlt, lautet die Botschaft. Und: Was eine Gesellschaft als „schön“ definiert, ist relativ. Die Message kommt an.

„Ein Mädchen, das ein paar Kilo mehr wiegt, kann sich sagen: ‚Wow, früher hätten mich alle voll toll gefunden!‘“, schwärmt Ivonne. „Es ist nicht schlimm, wenn man eigene Körperformen hat. Der Mensch ist toll, weil er Ecken und Kanten hat“, hat Nina verstanden. Wenn man den Mädchen so zuhört, könnte man meinen, Beate Schnabel hätte gerade zwei Stunden lang Eulen nach Athen getragen. Hat sie aber nicht wirklich.

Gut, dieser Mädchentrupp ist nicht, wie normalerweise bei den Schulworkshops üblich, die weibliche Hälfte einer Klasse, sondern die Mädchengruppe, die Lehrerin Christine Biermann in jedem Schuljahr anbietet. Nina, Christine und Ivonne dürften daher über ein überdurchschnittliches Geschlechtsbewusstsein verfügen. Über den Dingen stehen sie trotzdem nicht.

Eine Diät haben sie zwar noch nicht gemacht. Sagen sie. Aber natürlich haben sie alle drei schon mal nachgemessen, wie nah dran oder weit weg sie sind von den 90-60-90. „Jedes Mädchen macht das, auch wenn man weiß, dass es Kacke ist“, sagt Christina. Natürlich stöhnen sie im Chor mit den anderen über ihre zu dicken Hüften und/oder Hintern. „Man macht das, weil alle es machen. Schon krass, dass diese Maße so in einem verankert sind“, findet Nina. Fakt ist: Auf den Schulfluren ist das Essen oder Nichtessen längst Dauergesprächsthema. Der Satz „Ich muss abnehmen!“ fällt heutzutage täglich.

Das hat auch Christine Biermann festgestellt. Die Didaktische Leiterin der Laborschule Bielefeld kann den Quantensprung besonders gut ermessen: Nach einer neunjährigen Schulpause, in der die Pädagogin an der Uni forschte, trat sie 2005 wieder vor die Schulklassen. Und stellt fest: „Es wird mehr über das Gewicht geredet.“ Anfang der 90er Jahre war das Thema „Essen“ in ihren Mädchengruppen keins, inzwischen hat sie es aus gegebenem Anlass zum festen Bestandteil des Jahresprogramms gemacht. Als die Lehrerin in der Presse von dem „Bodytalk“-Angebot las, meldete sie beim Frankfurter Zentrum für Essstörungen Bedarf an. Das war im Dezember 2006. Fast ein Jahr verging, bis Therapeutin Schnabel tatsächlich kam. Es gibt viele Anfragen und mehr als 32 Workshops pro Jahr kann sich das Zentrum aus Personalgründen nicht leisten. Zumal der Workshop grundsätzlich nur im Doppelpack angeboten wird: Damit der Impuls nicht verpufft, werden nicht nur die Schülerinnen wachgerüttelt, sondern auch die LehrerInnen fortgebildet. Idealerweise sollen die PädagogInnen das Thema dann in ihrem Unterricht weiterverfolgen. Nahezu alle Fächer eignen sich: ob Biologie oder Soziologie, Geschichte oder Sport. Außerdem sind es oft die LehrerInnen, denen auffällt, wenn eine Schülerin stark abnimmt oder teilnahmslos wird. Was dann tun?

Dazu haben sie heute Nachmittag nach dem Vortrag von Beate Schnabel besonders viele Fragen. Wie kommt man an eine Schülerin ran, wenn man einen Verdacht hat? Sollte man zuerst eine Freundin ansprechen? Oder die Mutter? Ist es sinnvoll, wenn ein männlicher Lehrer es versucht oder soll lieber gleich eine Kollegin …? Und gibt es überhaupt eine Chance, weil doch die so genannte Krankheitseinsicht bei Essgestörten meist fehlt?

Die Therapeutin antwortet ausführlich. Sie befürwortet weder Panikmache noch Verharmlosung. Und sie weiß, dass die PädagogInnen sich auf einem schmalen Grat bewegen. „Die Mädchen verschließen sich, wollen gleichzeitig aber nichts sehnlicher als Hilfe.“ Ihr Rat: Es dem Mädchen nicht direkt auf den Kopf zusagen. Lieber von sich sprechen, von der eigenen Beunruhigung. „Schon das Ansprechen löst was aus. Auch wenn das Mädchen mit dem Problem dann nicht zu Ihnen kommt – Sie können der Anschub sein, dass sie sich woanders Hilfe sucht.“

„Der erste Schritt könnte sein, der Klasse zu signalisieren, dass man über das Thema Bescheid weiß“, schlägt Christine Biermann vor. Die Lehrerin mit Zusatzausbildung in Prävention von sexuellem Missbrauch hält es mit diesem Thema genauso. Ihre SchülerInnen wissen, dass sie jederzeit zu ihr kommen können und ein offenes und geschultes Ohr finden.

Eine Sozialpädagogin und Mutter einer 15-jährigen Tochter hat bei Beate Schnabels Vortrag „einen Schweißausbruch nach dem anderen“ bekommen. Ihre Tochter sei so verdächtig „diszipliniert“ mit dem Essen. Sie selbst ist das auch. „Ich bin in einem Alter, wo man schon zunimmt, wenn man das Essen nur anguckt. Lebe ich ihr was Falsches vor?“

Es ist nicht einfach, das zu schaffen, was Therapeutin Schnabel mit ihrem „Bodytalk“ erreichen möchte: „Die Mädchen zu entspannen bei der Identitätssuche“. Nicht leicht, dem medialen Dauerbeschuss durch Hollywood und Hochglanzmagazine wirklich etwas entgegenzusetzen.

Bei der letzten Klassenfahrt hatte Christine Biermann besonderes Pech. Just in dieser Woche lief das Finale von Germany’s Next Topmodel. Die Schülerinnen wollten die Show aus dem Hause Klum unbedingt sehen, ihre Lehrerin war strikt dagegen. Dummerweise hatte sie den Jungen am Vorabend erlaubt, ein Fußball-Endspiel zu sehen. Während also die Jungs ihre muskulösen, verschwitzten und brüllenden Helden anfeuerten, kreischten die Mädchen am Abend darauf beim GNTM-Finale, während ihre hauchdünnen Heldinnen über den Laufsteg staksten. Auch Kollege Gunnar hatte kürzlich sein Schlüsselerlebnis mit einer sechsten Klasse. Das Lieblingsspiel der Mädchen: Germany’s Next Topmodel. Stundenlang stöckelten die Elf- und Zwölfjährigen über den Jugendherbergs-Gang. „Ich habe mir vorher über das Thema praktisch keine Gedanken gemacht“, sagt der Sportlehrer. „Aber jetzt werde ich langsam stutzig.“

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