Alice Schwarzer schreibt

Luftbrücke für Frauen & Mädchen!

Frauen in Kabul trotzen den Taliban und demonstrieren für ihre Rechte.
Artikel teilen

Sind das nicht mehr die Taliban, die zwischen 1996 und 2001 das Land in Angst und Schrecken versetzt haben? Die die Männer an Laternenpfählen aufgeknüpft und die Frauen unter den Burkas zur Volksbelustigung im Stadion ausgepeitscht und gesteinigt haben? Sie tun zumindest so, als seien sie milder geworden. Klar. Sie brauchen jetzt Unterstützung vom Ausland. China und Russland, die das Überschwappen der Islamisten in ihre Länder verhindern wollen, stehen zu Kompromissen parat. Amerika hatte schon vor Monaten mit den Taliban über die Zukunft Afghanistans verhandelt – unter Ausschluss der Kabuler Regierung. Und Deutschland wird die zu späte Rettung seiner afghanischen Helfer wohl ebenfalls teuer bezahlen.

Anzeige

Also verkünden die Taliban: Keine Sorge. Auch Mädchen dürfen in Zukunft zur Schule gehen und Frauen berufstätig sein – soweit sie die Scharia respektieren. Was das bedeutet, wissen selbst wir inzwischen.

In den Madrasen Pakistans sind diese jungen Männer zu „Gotteskriegern“ verhetzt worden. Sie schultern jetzt nicht nur in Kabuls Straßen ihre Kalaschnikow und gehen auf Menschen- und Frauenjagd. Für sie steht das Gottesgesetz über allem. Er zwingt Männer wie Frauen auf die Knie. Frauen jedoch noch tiefer. Die sind schon rein rechtlich Unmündige, werden unter der Burka unsichtbar und dürfen nicht ohne männliche Begleitung auf die Straße. Ein männlicher Arzt darf sie selbst bei Lebensgefahr nicht berühren.

Die Frauen, die jetzt in den Städten in ihren Wohnungen kauern und kaum noch einen Blick nach draußen wagen, auf die patrouillierenden Taliban, wissen das nur zu gut. Sie gehören zu der Sorte Mensch, die jetzt in Afghanistan in der allergrößten Gefahr ist: die emanzipierten Frauen. Sie sind diejenigen, die dem Westen vertraut und gewagt haben, Lehrerinnen, Journalistinnen, Sängerinnen, Politikerinnen, Fußballspielerinnen oder gar Frauenrechtlerinnen zu werden. Sie sind viele, wenn auch nur eine Minderheit.

Deutschland muss mit Taliban über
Luftbrücke für Frauen verhandeln!

80 Prozent der Bevölkerung lebt auf dem Land. Dort hatten die Frauen in der zutiefst patriarchalen und stammesrechtlich organisierten afghanischen Gesellschaft auch vorher kaum Gelegenheit, sich auch nur aus der Burka, diesem Stoffgefängnis, zu befreien. Schon das konnte das Leben kosten. Frauen haben Kinder zu bekommen, nicht selten über einem Dutzend, und den Männern zu dienen. Ihr Leben ist weniger wert als das eines Tieres.

Auf dem Land wird man sich also nicht wirklich über den Blitzsieg der Islamisten gewundert haben (Die von einem realitätsfernen ZDF gerade schon beflissen gegendert wurden: in Islamist*innen). Denn die vom Westen ausgebildeten 300.000 afghanischen Soldaten waren entweder immer schon heimliche Sympathisanten der Taliban, vertrauten dem örtlichen Warlord mehr als dem fernen Präsidenten, waren froh, nicht zu verhungern – oder hatten einfach nur Angst.

Das eigentlich Erstaunliche ist die Überraschung des Westens. Die ist in der anhaltenden Arroganz des Westens begründet. Offenbar hat sich kaum einer je die Mühe gemacht, die Kultur und die Traditionen des Landes zu verstehen, in das man eingedrungen ist. Einfach so unsere Vorstellungen von Demokratie überstülpen – das musste ja schiefgehen.

Das Drama Afghanistan wiederholt sich fast zwanzig Jahre nach dem Drama Irak. Gerade auch für die Frauen. Im Irak des autokratischen Herrschers Saddam Hussein gab es zwar eine politische und ethnische Repression, aber immerhin waren die Hälfte der Studenten Frauen, gingen Mädchen wie Jungen zur Schule und standen den Frauen alle Berufe offen, bis hin zur Ingenieurin. Was mit der Machtübernahme der Islamisten nach dem Einmarsch der Amerikaner – unter dem durchsichtigen Vorwand, Saddam Hussein horte Massenvernichtungswaffen - schlagartig vorbei war.

Auch in Afghanistan konnten die Mädchen vor der Terrorherrschaft der Taliban in den 80er und 90er Jahren in die Schule gehen, trugen die Frauen Miniröcke und waren berufstätig. Zumindest in den Großstädten. Und für Libyen galt während der Herrschaft des nach der westlichen Einmischung (zum Glück ohne Deutschland!) getöteten Muammar al-Gaddafi dasselbe.

Der „Weltpolizist“ ist ein
Wegbereiter der Islamisten

Die Interventionspolitik des Westens ist dramatisch gescheitert. Der „Weltpolizist“ ist zum Weltchaosmacher und Wegbereiter der Islamisten geworden. Die Intervenisten hinterlassen Niemandsland, das die Islamisten (ohne *) besetzen. Die wahren Gründe für die Interventionen waren ja auch geopolitische Interessen (die Nähe zu Russland und China) oder wirtschaftliche. Das Zynische ist, dass sie im Namen der Menschen- und Frauenrechte geführt wurden. „Wir werden euch nicht im Stich lassen!“ (O-Ton Hillary Clinton).

Nun ist Afghanistan wieder in der Faust der Taliban. Nach dem überstürzten Abzug der westlichen Truppen sind die Afghanen, die auf Freiheit oder auch nur das Recht zum aufrechten Gang gehofft hatten, wieder allein. Und verzweifelt. Das gilt ebenso für die fortschrittlichen, nicht Scharia-gläubigen Männer. Aber sie gehören immerhin zum herrschenden Geschlecht. Sie könnten versuchen, zu überleben und vielleicht sogar gegenzuhalten – in der Hoffnung, eines Tages die Taliban zu überwinden.

Inzwischen leben in Deutschland rund eine Viertelmillion geflüchtete AfghanInnen, rund zwei Drittel sind Männer, 80 Prozent von ihnen junge Männer. Deren Integration ist besonders beschwerlich, da sie häufig Analphabeten sind und aus einem Land kommen, das keine Gleichberechtigung der Geschlechter kennt und wo Gewalt gegen Frauen und Kinder Gewohnheitsrecht ist.

Hinzu kommt: In einen Flüchtlingsstrom aus Afghanistan werden sich im jetzigen Stadium vermutlich mehr Radikale, also potenzielle Attentäter mischen, denn je zuvor. Wer will das bei der Dramatik der Ereignisse erfassen? Ein Grund mehr, Frauen und Kindern den Vorrang zu geben. Schon im Namen einer ausgleichenden Gerechtigkeit.

Die Frauen und Mädchen, die in den Großstädten im Vertrauen auf westliche Werte und Schutz relativ freier gelebt haben, sind in akuter Lebensgefahr. Deshalb sollte Deutschland jetzt eine klare Entscheidung treffen: nämlich nur Frauen und Kinder bzw. ihre Kernfamilien aufnehmen! Mehr noch: Wir sollten aktiv versuchen, den Frauen einen Weg zu uns zu bahnen. Eine Luftbrücke für diese Frauen sollte Teil unserer diplomatischen Verhandlungen mit den Taliban sein.

ALICE SCHWARZER

Aktualisierte Fassung eines Textes, der am 21.8.2021 in Die Welt erschienen ist.
 
 

Artikel teilen
 
Zur Startseite