Mathe-Nobelpreis für eine Frau

Erste Frau: Maryam Mirzakhani wurde mit der Fields-Medaille ausgezeichnet. - © IMU
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Schon als junges Mädchen hatte die 37-Jährige zwei Goldmedaillen in Mathematik-Wettbewerben errungen. Damals lebte sie noch in Teheran. 1999 machte die Hochbegabte ihren Bachelor in den USA, ging zum Promovieren an die Harvard University und forscht heute an der Stanford's School of Humanities and Sciences. Dort ist man verständlicherweise stolz. "Maryams Arbeit ist ein hervorragendes Beispiel für eine ganz ungewöhnliche Neugierde in der Forschung", erklärte ihr Kollege Ralph Cohen.

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Für Nicht-Wissenschaftlerinnen ist das Spezialgebiet der Mathematikerin schwer nachzuvollziehen. Nur so viel sei gesagt: Es geht um die "nichteuklidische Geometrie". Und das Besondere an Mirzakhanis Arbeit ist, dass sie es gewagt hat, sehr unterschiedliche Bereiche zusammenzuführen.

Den Preis, der als "Nobelpreis für Mathematik" gilt, haben neben ihr noch drei weitere Mathematiker erhalten. Er ist mit 15.000 Dollar relativ niedrig dotiert, sein Renommee aber ist gewaltig. "Sie ist in Iran sehr bekannt", erklärte Ingrid Daubechies, die Präsidentin der International Mathematical Union, die den Preis vergibt. Schon heute gilt die Mathematikerin in ihrem Herkunftsland, in dem Mädchen und Frauen seit 45 Jahren zwangsverschleiert und quasi rechtlos sind, als großes Vorbild.

Maryam Mirzakhani ist verheiratet und hat eine dreijährige Tochter.

 

 

 

 

 

 

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Sonja Kowalewskaja: Das geniale

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Sie hätte sich vermutlich darüber gefreut, daß heute 40 Prozent aller Mathe-Studis Frauen sind (alte Bundesländer). Und sie wäre betrübt, wenn sie wüßte, daß nur 21 Professorinnen (1,8 Prozent) auf Mathematik-Lehrstühlen sitzen. Über das Ergebnis des Naturwissenschaftlerinnen- Workshops in Brüssel hätte sie sich sicherlich so gewundert wie "Die Zeit": "Ihre Examina sind nicht schlechter als die ihrer männlichen Kollegen, sie brechen auch nicht häufiger ihr Studium ab, aber irgendwo zwischen Promotion und Professur tut sich für Frauen ein Bermudadreieck auf." Gestaunt hätte sie über die Soziologie-Professorin Sigrid Metz-Gockel, die von einer "Fünf-Prozent-Sperrklausel" für Frauen in den akademischen Chefetagen spricht. Und den Kopf geschüttelt hätte sie über den "Mangel an weiblichen Vorbildern", der in Brüssel als "psychologische Barriere auf dem Weg nach oben" ausgemacht wurde. Sonja Kowalewskaja, die erste Mathe-Professorin Europas, hat alle Barrieren überwunden. Und das vor mehr als 100 Jahren.

Sonja, Sonja! Wo soll ich nur anfangen, deine Geschichte zu erzählen? Die Geschichte einer Frau, die auszog, in einem Männerberuf Karriere zu machen: in der Mathematik. Und die Geschichte einer Feministin, die dies ganz bewußt tat, um "Frauen einen neuen Berufsweg zu eröffnen", sich trotzdem mit Selbstzweifeln plagte und hin- und hergerissen war: zwischen Beruf und Familie, zwischen Wissenschaft und Kunst, zwischen Anpassung und Rebellion. Das klingt wie unsere Geschichte, Sonja Kowalewskaja, die Geschichte einer emanzipierten Frau von heute. Aber deine Geschichte spielt über hundert Jahre vor unserer Zeit.

Laß mich anfangen mit meiner Lieblingsepisode aus deinem Leben: "Wie Wladimir aus der Frauen-WG ausziehen mußte". Einverstanden? Mitwirkende: Du, Sonja Kowalewskaja, 19 Jahre jung, Mathematikstudentin; deine Schwester Anjuta, 25, Jungliteratin; deine Freundin Julia, 23, angehende Chemikerin; sowie, gerade aus Rußland eingetroffen, Kusine Zanna, 26, Ausreißerin mit großen Plänen. Ach ja, und nicht zu vergessen: Wladimir, dein Ehemann, 27, verkrachter Verleger, derzeit Student der Geologie. Ort: Heidelberg, im Winter 1869. In der Küche der schwäbischen Mietwohnung brodelt ein Samowar.

Kusine Zanna führt das große Wort. Erzählt noch einmal, wie sie ihrem Verehrer, dem Großfürsten, den Laufpaß gegeben, sich falsche Papiere besorgt hat, bei Nacht und Nebel über die polnische Grenze geflohen ist, die Schergen des Zaren hinter ihr her... "Und wozu das alles?" poltert Zanna. "Etwa, um hier in Heidelberg mit einem Macker zusammenzuwohnen? Hast du dir das so gedacht mit deiner Ehe, Sonja? Eine spießige Zweierkiste wie bei den Alten daheim?"

Anjuta gibt ihr recht. "Eine Scheinehe ist eine Scheinehe", stellt sie klar. "Wladimir, du kennst die Spielregeln!" Wladimir nickt. Ja, es stimmt. Er hat dich, Sonja, geheiratet unter den Bedingungen, die unter euch Linken üblich sind: kein Sex! Und volle Freiheit für die Frau! "Eine Scheinehe wird einzig und allein zu dem Zweck geschlossen, die Frau aus der Gewalt des Vaters zu befreien", so hat es Nikolai Tschernyschewski formuliert und in seinem berühmten Roman "Was tun?" beschrieben. Wladimir verehrt Tschernyschewski. Und er hat kapiert: Der Mann muß zurückstehen. Tausend Jahre Patriarchat sind genug!

Du schluckst ein bißchen, Sonja, sagst aber immer noch nichts. Nur Julia verteidigt Wladimir. "Er ist doch ein netter Kerl", besänftigt sie. "Er mag Sonja wirklich. Warum nicht zusammenrücken?" - "Aus Prinzip", beharren die anderen. Und Wladimir nickt. Morgen wird er sich ein Zimmer suchen.

So oder so ähnlich muß es gewesen sein, Sonja, damals im Winter 1869 in Heidelberg. So hast du gelebt, so radikal, so unkonventionell, vor mehr als 100 Jahren.

Sofia Wassiliewna Kowalewskaja: Geboren am 15. Januar 1850 in Moskau. Gestorben am 10. Februar 1891 in Stockholm. Dazwischen: Studiert, promoviert, Professorin geworden -die erste in Europa. Aufgewachsen auf einem Bauernhof in Rußland. Gelebt in Petersburg, Heidelberg, Berlin, Paris, Stockholm. Berühmt geworden. Viel gereist. Eine Tochter erzogen - allein, ohne Mann. Freundinnen, immer gute Freundinnen gehabt. Und ein paar echte Freunde. Die Hauptsache in deinem Leben: die Mathematik mit ihren "ewigen, unabänderlichen Gesetzen". Daneben aber auch stets Literatur: Romane, Theaterstücke, Jugenderinnerungen hast du hinterlassen. So wissen wir viel über dich, Sonja.

Zum Beispiel, wie du aufgewachsen bist: in einer Welt, in der Vater und Mutter nur Randfiguren waren. Auf Palibino, eurem Landsitz, wimmelte es nur so von Köchinnen, Gärtnern, Stubenmädchen, Kammerdienern, Kindermädchen, Gouvernanten und Hofmeistern. Die haben dich, Sonja, deine ältere Schwester Anjuta und den kleinen Fedja sicher stärker geprägt als dein Vater, der General Wassilij Korwin-Krukowski, und deine Mutter Elizaweta, die verhinderte Gesellschaftsdame. Die vertraut ihren Frust über ihr langweiliges Leben lieber ihrem Tagebuch an als dir, der schwierigen Kleinen.

Es ist noch das "alte Rußland", das du in deinen Jugenderinnerungen so farbig beschreibst: Eure Domestiken sind Leibeigene ohne Rechte. Bei einer Dieberei werden sie eingesperrt und durchgeprügelt. Erst 1861, da bist du elf, wird die Sklaverei in Rußland abgeschafft. Du beobachtest das alles sehr genau, Sonja, denn du bist ein aufgewecktes Kind. Mit vier kannst du lesen, mit fünf schreibst du deine ersten Gedichte. Gern hörst du deinem studierten Onkel Fjodor zu, wenn er dir Wunderdinge über Amöben und Korallenriffe erzählt.

Alles Naturwissenschaftliche zieht dich in seinen Bann. Oft stehst du an der Wand deines Kinderzimmers und studierst die Papiere, die dort statt einer Tapete angeklebt sind. Sie sind mit mathematischen Gleichungen bedeckt, die Mitschrift einer Universitäts-Vorlesung. Begriffe wie "Asymptote" und "Grenzwert" werden dir vertraut, noch bevor du sie verstehen kannst. Später wirst du in den Privatstunden deines Vetters Michel die Ohren spitzen und physikalische Lehrbücher verschlingen. Ganz beschaulich ist euer Leben in Palibino an der litauischen Grenze. Bis zu dem Moment, als auch in eurem abgeschiedenen Winkel die "neuen Ideen" auftauchen. "Man kann wohl sagen", schreibst du, "daß in dieser Periode, vom Beginn der 60er bis zum Beginn der 70er Jahre, die Intelligenz der russischen Gesellschaft nur mit der einen Frage beschäftigt war: mit dem Konflikt zwischen der alten und jungen Generation."

Das blieb nicht ohne Folgen: "Wie eine Epidemie erfaßte damals die Jugend, namentlich die Mädchen, der Drang, aus dem Elternhause zu laufen. Bis jetzt war Gottseidank alles in unserer unmittelbaren Nähe ruhig geblieben, aber aus anderen Orten kamen schon Gerüchte, daß bald bei dem einen, bald bei dem anderen Gutsbesitzer die Tochter davongelaufen war, die eine ins Ausland um zu studieren, die andere nach Petersburg zu den 'Nihilisten'."

Nihilisten - so hat Ivan Turgenjew ("Väter und Söhne") die jungen Rebellen getauft, die sich in der russischen Hauptstadt in "Kommunen" sammeln. Nihilisten, weil sie angeblich "an nichts glauben". Doch das stimmt nicht. Die "Söhne und Töchter der 60er Jahre" haben zwar mit fast allen Werten der alten Generation gebrochen, sie verfolgen jedoch ganz eigene Ideale. Sie kämpfen für Volksbildung, soziale Gerechtigkeit und die Emanzipation der Frauen. Und sie glauben fest an den Fortschritt, den der Wissenschaft und den der Gesellschaft.

Bald bist du selber mittendrin, Sonja. Den Winter 1867/68 verbringst du mit Schwester Anjuta in Petersburg. Sie ist 23 und schon eine erfolgreiche Schriftstellerin. In Dostojewskis Zeitschrift "Epoche" hat sie Kurzgeschichten veröffentlicht. Du bist 17 und nimmst Privatstunden bei Strannoliubski, einem bekannten Mathematiker.

Die Universität ist euch beiden versperrt. Vor vier Jahren hat der Zar das Frauenstudium offiziell verboten; die Frauen, die sich davor inoffiziell hatten einschleichen können, sind ins Ausland gegangen. Die erste, Nadeschda Suslowa, kehrt gerade irr Triumphzug aus Zürich zurück als frischgebackene Doktorin der Medizin. Sie ist euer Vorbild, Sonja, das Vorbild der bildungshungrigen Frauen der 60er Generation.

"Ach, das  was so eine glückliche Zeit!", hast du später oft geseufzt. "Wir waren von all den neuen Ideen so entzückt, so überzeugt, daß der gegenwärtige gesellschaftliche Zustand nicht lange dauern könnte. Wir sahen die herrliche Zeit der Freiheit und allgemeinen Bildung so gewiß vor uns! Und dann dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit!" Aus diesem politischen Rausch heraus muß auch die Schnapsidee deiner "Scheinehe" mit Wladimir geboren sein.

Deine Biographinnen sind sich einig, Sonja, daß du erstens zum Heiraten noch viel zu jung warst, und daß zweitens in deinem Fall zur "Befreiung" aus dem Elternhaus eine Ehe überhaupt nicht nötig war. Hat nicht dein Vater, der General, noch vor jeder gewagten Idee seiner Töchter kapituliert? Er hätte dich vermutlich freiwillig ins Ausland gehen lassen zum Studieren, wenn du ihn nur gefragt hättest. Nein, das Fräulein Korwin-Krukowski mußte seine "Scheinehe" haben, mit 18, schon um des Abenteuers willen.

Und so seid ihr nach einer überstürzten Hochzeit nach Heidelberg gegangen, deine Schwester, dein Freundinnen-Clan, Wladimir und du. Anjuta hat es dann sehr schnell weitergezogen, nach Paris, zu den "richtigen Revolutionären", die dann ja auch prompt im April 1871 die "Kommune" ausriefen. Einen davon hat sie geheiratet: Jaclard, einen berüchtigten Frauenheld und miesen Typen, unter uns gesagt.

Da hast du es zunächst besser mit deinem Wladimir Kowalewski. Obwohl er doch nur dein Schein-Ehemann ist, wird er dir allmählich zum Freund. In Heidelberg geht ihr zusammen spazieren, lernt gemeinsam. Er bewundert deinen Ehrgeiz, du läßt dir seine Aufmerksamkeiten gefallen. Er kauft für dich ein, sogar Kleider, während du dich - ganz Emanze - über die Bücher beugst. Doch bald trennen sich eure Wege: Wladimir studiert in Jena weiter, du gehst mit Julia zusammen nach Berlin. Die "Frauenkommune" löst sich auf.

Du hast es dir in den Kopf gesetzt, bei Karl Weierstraß zu studieren, dem originellsten Kopf unter den deutschen Mathematikern. Als dir die sturen Preußen die Immatrikulation verweigern, sucht du den "Vater" der modernen Analysis persönlich auf. Erst tut er sehr beschäftigt und versucht, dich mit ein paar besonders schweren Testaufgaben abzuwimmeln. Doch als du eine Woche später mit den Lösungen vor der Tür stehst, hast du bei Weierstraß einen Stein im Brett. Bald lobt er dich als den "besten Schüler, den ich je hatte". Du wirst sogar in seine Familie aufgenommen. Einmal wöchentlich ißt du bei dem fast 60jährigen Junggesellen und seinen Schwestern zu Abend. Was natürlich zu Gerüchten führt, die bis heute nicht verstummt sind!

Dabei hast du wahrlich kaum Frivoles im Sinn in diesen Berliner Jahren. Im Gegenteil: Wenn du nicht gerade mit Wladimir streitest (euer Verhältnis hat sich rapide verschlechtert), bist du völlig von der Mathematik absorbiert. "Ihre Fähigkeit, Stunde für Stunde bei der anstrengendsten Gedankenarbeit auszuhalten, ohne nur ein einziges Mal vom Schreibtisch aufzustehen, war wirklich etwas ganz Außerordentliches", wundert sich deine Freundin Julia rückblickend.

Heraus kommt nicht eine Doktorarbeit, sondern gleich drei: "Über die partiellen Differentialgleichungen", ein echter Meilenstein der theoretischen Mathematik. "Über die Anwendung Abelscher Funktionen auf elliptische Funktionen". Und dazu noch ein Thema aus der Astronomie: "Über die Gestalt der Saturnringe". Für alle drei Arbeiten verleiht dir im August 1874 die - relativ frauenfreundliche - Universität Göttingen den Doktortitel. Du bist die erste Doktorin der Mathematik im modernen Europa!

Zu Hause in Palibino feiert dich die ganze  Familie. Und in Petersburg triffst du die alten Bekannten wieder. Auch Wladmimir ist zurückgekehrt, als hoffnungsvoller Fossilienforscher und Doktor der Geologie. Er erscheint dir so nett wie nie zuvor.

Ihr macht zusammen Pläne: Es werden sich doch für zwei so begabte; junge Wissenschaftler gute Stellen an der heimischen Universität finden! Doch so einfach geht das nicht: Wladimir steht seine deutsche Ausbildung im Weg (und seine undiplomatische Art, wie du bald merken wirst), dir, Sonja, dein Geschlecht. Außerdem hat man in Petersburg nicht vergessen, daß ihr einmal glühende Nihilisten wart.

In einer seltsamen Mischung von Verzweiflung und Abenteuerlust stürzt ihr euch stattdessen in Finanzspekulationen: Ihr kauft Grundstücke, baut Häuser, ja sogar eine Badeanstalt. Wladimir mit seiner Spielernatur ist die treibende Kraft bei diesen Unternehmungen. Nebenher betätigt er sich auch wieder als Verleger; mit anderen Ex-60ern gründet er die "Neue Zeit", ein Alternativblatt, vergleichbar der "taz" in unseren Tagen. Darin schreibst du Artikel, Gedichte und Theaterkritiken.

Nichts gegen die journalistischen Ambitionen, Frau Doktor, aber - wo bleibt die Mathematik? Sie ist vergessen. Lange Zeit beantwortest Du nicht einmal die Briefe deines treuen Lehrers Weierstraß, so daß er schon schimpft: "So viele Jahre die wissenschaftliche Arbeit aufzugeben, wenn man eine solche geniale Begabung besitzt, das ist heller Wahnsinn!"

Es kümmert dich nicht. Du hast dich verändert, Sonja. Statt zu forschen, spielst du plötzlich die Gesellschaftsdame, gehst auf Partys und Bälle und wirst schwanger. Ein Zeichen dafür, daß deine Scheinehe mit Wladimir keine rein platonische Angelegenheit geblieben ist. Im Oktober 1878, da bist du 28, kommt eure Tochter zur Welt. Sie heißt ebenfalls Sofia und wird "Fufa" genannt. Du liebst sie abgöttisch.

Aber das Familienidyll ist schon bald in Gefahr. Denn weder die Grundstücks- noch die Zeitungsgeschäfte gehen gut. Die Schulden wachsen euch über den Kopf, ihr müßt Konkurs anmelden. Auch ein Umzug nach Moskau und Wladimirs Einstieg ins Ölgeschäft bringen euch nicht weiter. Ein Trost ist nur deine alte Freundin Julia Lermontowa, die Julia aus der Heidelberger "Frauenkommune", sie ist Chemikerin geworden. Deinetwegen, Sonja, nimmt sie eine Laborantinnenstelle in Moskau an und zieht zusammen mit ihrer Schwester bei euch ein. Beide Frauen kümmern sich rührend um die kleine Fufa. Deren erstes Wort ist übrigens "appaliat" (Apparat); denn du betätigst dich mittlerweile als Erfinderin, um das Familieneinkommen aufzubessern. Und du besuchst wieder mathematische Kongresse, korrespondierst mit Weierstraß.

Dennoch: Das ist auf die Dauer kein Leben für dich, Sonja. Dein Mann wird immer nervöser, schwankt zwischen Euphorie und Depression und verstrickt sich immer mehr ins finanzielle Desaster. Und du hast keine richtige Aufgabe. "Nicht nur Frau Kowalewskaja, sondern auch ihre Tochter wird eine alte Frau sein, bevor Frauen an russischen Universitäten unterrichten dürfen", hat dir der zuständige Minister ausrichten lassen. Da hilft nur Flucht: Im März 1881, 31 Jahre alt, verläßt du Heim und Mann. Du steigst in einen Zug Richtung Berlin. Mir dir reist Töchterchen Fufa, nach deinen Worten "das einzig Gute, was herauskam aus diesen Jahren, in denen ich im sanften Schleim einer bürgerlichen Existenz zu versinken drohte".

Zweieinhalb Jahre wirst du nun ganz unbürgerlich leben. Eine vagabundierende Mathematikerin, in Trennung lebend, mit Kind und Gouvernante unterwegs von Universität zu Universität, von Kongreß zu Kongreß. Du willst zunächst "eine möglichst große Zahl von mathematischen Arbeiten bringen, um wenigstens dadurch die Reputation von uns Frauen zu stützen". Doch insgeheim hoffst du auf mehr. Irgendwo in Europa müssen sich doch die Türen einer Universität öffnen, nicht nur für die studierende, sondern auch für die lehrende Frau: "Es wäre mir ein Herzensanliegen, Frauen einen neuen Berufsweg zu eröffnen".Vielleicht in Stockholm? Dort hast du im Kollegen Gösta Mittag-Leffler, einem Weierstraß-Schüler, einen engagierten Fürsprecher. Er schätzt deine Intelligenz ebenso wie deinen Charme und will dich unbedingt an seine junge, fortschrittliche Uni holen. Allerdings, so fortschrittlich, daß man dort als erste Professorin gleich  eine berüchtigte Linke und Frauenrechtlerin nimmt, ist man auch in Schweden (noch) nicht. Du siedelst dich vorerst in Paris an und hast Anschluß an die mathematische Szene gefunden. Fufa ist inzwischen nicht mehr bei dir. Du hast sie nach Rußland zurückgeschickt, wo sie in der Familie von Wladimirs Bruder in gesicherten Verhältnissen lebt. Die Trennung von der Tochter ist dir nicht leicht gefallen, Sonja. Deine Briefe aus dieser Zeit zeugen davon, daß du dich mit den gleichen Gewissensbissen herumquälst wie viele berufstätige Mütter heute.

Ansonsten aber fühlst du dich wohl in Paris, im Kreise russischer, polnischer und deutscher Emigranten, darunter viele Sozialisten. Eine Liebesaffäre bahnt sich an - da erreicht dich aus Moskau eine schreckliche Nachricht: Wladimir hat sich umgebracht! Sein Chef, der vermeintliche Ölmagnat, hat sich als Betrüger herausgestellt. Wieder völliger Ruin, dazu die Schande, das hat dem Mann mit den ohnehin schwachen Nerven den Rest gegeben. Eines Nachts trinkt er eine ganze Flasche Chloroform.

Es ist ein harter Schlag für dich, Sonja. Du weinst, kannst tagelang nichts essen, machst dir schreckliche Vorwürfe. Aber, seien wir ehrlich - du hast jetzt ein Problem weniger am Hals. Und dein neuer Status als Witwe kann für deine Karriere nur förderlich sein. Schon im Herbst kommt aus Stockholm die Nachricht, daß du als Privatdozentin anfangen kannst. Der erste Schritt zur Professur!

Na, und du, Sonja? Statt zu jubeln, schreibst du an Mittag-Leffler: "Indessen glaube ich Ihnen nicht verschweigen zu dürfen, daß ich mich in mancher Hinsicht für die Pflichten eines Dozenten sehr wenig vorbereitet fühle, und unter anderm zweifle ich an mir selbst in solchem Grade, daß ich fürchte, Sie werden jede Illusion verlieren, wenn Sie aus der Nähe sehen, wozu ich tauge."

Da haben wir ihn, Sonja, den "Cinderella-Komplex", die weibliche Angst vor Erfolg, schon vor hundert Jahren! Deine Zeitgenossin und Kollegin Elizaweta Litwinowa kennt diese Gefühle auch. "Diese Haltung", erklärt sie, "ist exklusive Eigenschaft von Frauen, die völlig neue Wege betreten. Die Vorurteile gegenüber den intellektuellen Fähigkeiten von Frauen und all die anderen Vorurteile, gegen die wir kämpfen, leben nicht nur in den Menschen um uns herum, sondern auch in uns selbst."

Wenn die Vorurteile von außen kommen, kannst du dich viel besser wehren, Sonja Kowalewskaja. In Schweden hast du rasch einen prominenten Weiberfeind gegen dich, den Dichter August Strindberg. Als du 1884 Professorin wirst, tönt er öffentlich herum: "Eine Frau als Mathematikprofessor ist eine schädliche und unangenehme Erscheinung, ja, man kann sie sogar ein Scheusal nennen. Die Einladung dieser Frau nach Schweden, das an und für sich männliche Professuren genug hat, die sie an Kenntnissen bei weitem übertreffen, ist nur durch die Höflichkeit der Schweden dem weiblichen Geschlecht gegenüber zu erklären."

Über diesen Strindberg-Erguß sollst du "herzlich und viel" gelacht haben, berichtet deine Tochter, die du im Herbst 1886 wieder zu dir geholt hast. "Es kann wohl stimmen, daß ich ein Scheusal bin", hast du gemeint. "Aber daß Schweden so viele bessere Mathematiker hat - nein, wirklich nicht!

"Schauen wir uns also deine mathematischen Arbeiten etwas genauer an, Frau Professor Kowalewskaja: Schon in deiner Doktorarbeit über die "partiellen Differentialgleichungen" hast du einen lange gesuchten Beweis geführt, der für die Lösbarkeit dieser Gleichungen entscheidend ist. Er trägt übrigens heute noch den Namen "Cauchy-Kowalewski-Theorem" (der Franzose Cauchy fand unabhängig von dir eine ähnliche Lösung).

Von 1883 bis 1888 arbeitest du an einem anderen klassischen Problem, diesmal aus der Mechanik: Du versuchst, die Rotation eines starren Körpers um einen festen Punkt, zum Beispiel die Drehung eines Kreisels, vollständig mathematisch zu beschreiben. Auch dieses Problem, an dem ein Euler, ein Weierstraß gescheitert sind, löst du mit Bravour. Dafür verleiht dir im Dezember 1888 die Französische Akademie der Wissenschaften den renommierten "Prix Bordin", so etwas wie den Nobelpreis für Mathematik.

Diese und andere wichtige mathematische Arbeiten sind nicht in einer stillen Studierstube a la Weierstraß entstanden. Nein, du hast sie dir abgerungen, Sonja, zwischen Vorlesungen, Redaktionsarbeiten an der Fachzeitschrift "Acta mathematica", Schlittschuhpartien mit Fufa und literarischen Projekten, die dir immer wieder willkommene Abwechslung sind. Anna Carlotta Leffler, die Schwester deines Kollegen Mittag-Leffler, verleitet dich dazu. Die Schriftstellerin ist deine engste Freundin in Schweden. Ein Theaterstück schreibt ihr sogar gemeinsam.

Hinzu kommen deine ständigen Reisen. "Wie meine Urgroßmutter, die Zigeunerin", so deine Worte, zieht es dich fort: nach Petersburg, nach Paris, nach Nizza, nach Berlin. Denn trotz der guten Freundschaften mit der Leffler-Familie, der Feministin Ellen Key und anderen progressiven Intellektuellen fühlst du dich in Schweden nie richtig wohl. Über Sprachprobleme (Schwedisch ist deine vierte Fremdsprache) klagst du gegenüber Anna Carlotta: "Ich finde nie die exakten Ausdrücke. Deshalb fühle ich mich, wenn ich nach Rußland zurückkehre, wie befreit aus dem Gefängnis, in dem meine besten Gedanken gefangen sind." Du leidest unter Einsamkeit und Heimweh.

Und so kann es auch nur ein Russe sein, als du dich - vier Jahre nach Wladimirs Tod - zum ersten Mal wieder in einen Mann verliebst: Maxim heißt er, mit Nachnamen Kowalewski. Er ist ein entfernter Verwandter von Wladimir, ein Jahr jünger als du und ebenfalls ein "Sohn der 60er". Von Beruf Soziologe und Historiker, aus Überzeugung Feminist, schaut er bewundernd zu dir, der Mathematik-Professorin, auf. Den "dicken Maxim" nennst du ihn zärtlich: "Niemals ist man so versucht, Romane zu schreiben, als in der Gesellschaft des dicken Maxim."

Er ist bei deinem großen Triumph dabei: als man dir am 14. Dezember 1888 in Paris den Prix Bordin verleiht. Aber er erlebt auch deine nachfolgende Depression, die so typisch ist für dich: "Von allen Seiten erhalte ich Glückwunschschreiben, und vermöge einer wunderlichen Ironie des Geschicks habe ich mich nie in meinem Leben so unglücklich gefühlt wie jetzt. Unglücklich wie ein Hund!" Diese Stimmung hält diesmal lange an. Was geht in dir vor, Sonja? Der Dichter Jonas Lie meint nach einem Zusammentreffen: Im Innern seist du ja gar nicht die große Mathematikerin Sofia Kowalewskaja, sondern immer noch die kleine, unverstandene Sonja aus den "Jugenderinnerungen".

Natürlich ist auch der "dicke Maxim" nicht die große, absolute Liebe, nach der du dich laut Anna Carlotta so sehr gesehnt haben sollst. Er ist ein Mensch mit eigenen Zielen und Grenzen. Und, gib's zu, Sonja, natürlich ist eine Karrierefrau wie du auch keinesfalls leicht zu lieben. Kein Wunder, daß es bald Streit gibt wie seinerzeit mit Wladimir, Mißverständnisse, Trennungen, Versöhnungen...

Alles in allem hättest du keinen Grund, so früh zu sterben! Und so will ich denn glauben, daß es reiner Zufall war, daß diese blöde Lungenentzündung dich am 10. Februar 1891 dahinraffte. Eine verschleppte Erkältung, was sonst. Mit 41 Jahren! Nein, du wolltest noch nicht gehen, hattest den Kopf noch voller Pläne: ganz neue mathematische Probleme, ganz neue Roman-Ideen, ja sogar eine neue Ehe.

1883, acht Jahre vor deinem Tod, hast du geschrieben: "Ich hoffe, daß in fünf Jahren mehr als eine junge Frau in der Lage sein wird, meinen Platz hier zu übernehmen. Ich könnte mich dann beruhigt anderen Dingen zuwenden, zu denen mich meine Zigeuner-Natur drängt." - 1891 ist keine in Sicht. Oder doch, eine? Sie macht sich gerade auf den Weg. Es ist Maria Sklodowska aus Polen, auch ein Mädchen aus progressiven Kreisen. Die nennen sich nun im Warschau der 80er Jahre "Positivisten" statt "Nihilisten", aber sie glauben genauso fest wie du und deinesgleichen an Gleichberechtigung und den Fortschritt der Wissenschaft und der Geschlechter.

Diese Maria Sklodowska geht 1891 von Warschau nach Paris, um Physik zu studieren. Als Marie Curie wird sie weltbekannt.

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