Mehr als ein Haus

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Da standen die jungen Frauen also mitten im Baustellenchaos. Es war eine Zimmerflucht aus sieben oder acht Zimmern hintereinander, eine klassische Altbauetage im Hochparterre, nicht weit von der Universität, neunter Wiener Gemeindebezirk, Liechtensteinstraße 3. Badezimmer und Küche waren noch nicht fertig, ausgemalt war auch noch nicht, am 1. November 1978 sollte die offizielle Eröffnung stattfinden. Doch schon vier Wochen vorher, viel zu früh, stand die Telefonnummer in den Wiener Bezirksblättern.

Das Telefon begann tatsächlich sofort zu läuten, kaum dass die Nummer veröffentlicht war. Was tun? „Wir haben halt reihum im Schlafsack auf der Baustelle geschlafen“, erzählt Elfriede Fröschl, die damals 20 Jahre alt war. „Es musste rund um die Uhr eine von uns da sein, um das Telefon abzuheben, und in jeder Nacht war eine andere dran, um die Anruferinnen bei sich zu Hause aufzunehmen. Wir konnten misshandelten Frauen ja nicht sagen: Du musst dich leider weiter misshandeln lassen, weil wir noch nicht fertig sind.“

An ihren ersten Übernachtungsbesuch erinnert sich Fröschl genau. „Die Frau war vielleicht 35. Sie hat gewusst: Es ist Freitag, da kommt der Mann immer betrunken nach Hause und schlägt sie, sie hat große Angst gehabt. Ich hab’ ihr mein Bett gerichtet und selber auf dem Sofa geschlafen, dann haben wir gemeinsam gefrühstückt. Ich weiß noch, wie erstaunt ich damals war, dass sie alles so unemotional erzählt hat. Erst im Nachhinein wurde mir klar, dass das typisch für traumatisierte Menschen sein kann.“ Zu einer anderen Anruferin ging eine Kollegin nach Hause und legte sich zur Bewachung neben sie ins Ehebett. „Die beiden haben alle Schlösser von innen fest versperrt. Dann erst hat die Frau erzählt, dass ihr Ehemann bei einem Schlüsseldienst arbeitet. Sie haben die ganze Nacht kein Auge zugemacht.“

Was so improvisiert begann, hatte mehr theoretischen Überbau, als man auf den ersten Blick vermuten würde. Fröschl gehörte zu einer Gruppe von Studentinnen der Sozialakademie, die das Konzept für das erste österreichische Frauenhaus entwarfen. Selbstverwaltet sollte es sein, parteilich auf der Seite der Frauen stehen, „schwesterliche Betroffenheit“, hieß das im Jargon der Siebziger. Die Grundprinzipien: Anders als in den bis dahin existierenden Fürsorgeheimen sollten die Gewaltopfer nicht stigmatisiert werden, ihre Anonymität sollte gewahrt bleiben, und oberstes Ziel war, sie zu einem selbstbestimmten Leben zu ermuntern. In London gab es ein autonomes ­Frauenhaus schon seit 1971, in Westberlin seit 1976.

Den Studentinnen war nicht bewusst, dass die SPÖ-Politikerinnen Johanna Dohnal und Irmtraud Karlsson die Idee, etwas Ähnliches auch in Wien zu gründen, schon länger verfolgten. Dohnal war damals Wiener Gemeinderätin, Karlsson Vortragende an der Sozialakademie. Gemeinsam gründete man den „Verein soziale Hilfen für gefährdete Frauen und ihre Kinder“ und gewann den damaligen Justizminister Christian Broda als Vorsitzenden, um politisch abgesichert zu sein. „Man muss sich vorstellen: Das war eine ganz andere Zeit damals“, sagt Fröschl. Im zweiten Bezirk, wo sie damals wohnte, gab es ein einziges Lokal, das man als junge Frau besuchen konnte – der Rest war Rotlichtmilieu. „An jeder Baustelle wurde einem ganz selbstverständlich hinterherge­pfiffen“, erzählt sie.

Sex und nackte weibliche Körper waren in dieser Zeit überall – auf Werbeplakaten, im Fernsehen, auf den Titelblättern der Zeitschriften. Es war die Zeit der Softpornos und der Aufklärungsfilme, oft kamen letztere im Gewand ersterer daher. Doch mit selbstbestimmter weiblicher Sexualität hatte all das wenig zu tun. Peter Ale­xander landete 1974 mit seinem Song „Delilah“ einen Hit. Der Text erzählt von einem Mann, der von seiner Frau betrogen wird: „Als dann der Morgen kam/Sah ich den anderen fortgehn/Ich ging hinüber zu ihr und fragte Warum?/Sie aber lachte/Dann erhob ich die Hand/Sie erschrak und war stumm“. Das Lied schließt mit den Worten: „Vergib mir, Delilah/Ich hab keine and’re Wahl.“

Dass ein Mann „keine andere Wahl“ hat, als zuzuschlagen, wenn seine Frau fremdgeht oder ihn verlässt – das überraschte damals niemanden. Gewalt in der Familie war ein Tabu. Das bis 1975 geltende Familienrecht stammte aus dem ABGB von 1811, „aus der Zeit der Postkutsche“, wie Dohnal sarkastisch formulierte. Aus einer schädlichen Beziehung auszubrechen war rechtlich schwierig: Der Mann war das Oberhaupt der Familie und behielt die Obsorge für die Kinder auch nach der Scheidung. Frauen hatten selten ein eigenes Einkommen und konnten sich eine Trennung kaum leisten. Vergewaltigung in der Ehe war nicht strafbar. Was innerhalb der eigenen vier Wände passierte, galt als Privatangelegenheit. „Es gab keine Statistiken zum Thema Gewalt, keine Forschung, keine Publikationen, und die Polizei hatte überhaupt keine Ahnung“, erzählt Fröschl.

Kein Wunder, dass die Hochparterre-Wohnung in der Liechtensteinstraße vom zweiten Tag an voll belegt war. „Es gab mehrere Schlafplätze in jedem Zimmer, Hochbetten, und oft haben wir noch zusätzliche Matratzen auf den Boden gelegt, wir wollten ja niemanden wegschicken. Manchmal hat das ausgeschaut wie ein Hüttenlager.“ Die Frauen, die hier Zuflucht fanden, kamen aus ganz Österreich, und aus allen Gesellschaftsschichten: Tiroler Bäuerinnen mit fünf Kindern. Türkinnen der ersten Gastarbeitergeneration. Frauen aus dem Rotlichtmilieu. Ehemalige Heimkinder mit schwierigsten Biografien teilten sich die Mehrbettzimmer mit höheren Töchtern. Man kochte und aß gemeinsam, „für die Berufstätigen mussten wir bis zum Abend das Essen aufheben, das gab oft Diskussionen.“ Man fuhr die Kinder mit dem Frauenhausauto in die Schule, begleitete die Mütter zu Gerichtsterminen, „ganz einfach war das alles natürlich nicht.“

Die Frau, an die sich Fröschl am intensivsten erinnert, war eine Zahnarztgattin: „Die kam aus einer Hietzinger Villa zu uns. Die war völlig von der Rolle. Er ist allmächtig, sie ist ein Nichts: Das hatte ihr der Ehemann so sehr eingetrichtert, dass ihr ganzes Selbstwertgefühl zerstört war. Damals hab ich begriffen, was psychische Gewalt alles anrichten kann.“
1980 eröffnete – in der Staudgasse 35 im 18. Bezirk – das zweite Frauenhaus, diesmal ein ganzes, mehrstöckiges; Elfriede Fröschl wechselte dorthin. Heute gibt es insgesamt 30 Frauenhäuser in allen Bundesländern, ihre Existenz hat sich im kollektiven Bewusstsein festgesetzt – und allein das macht schon viel aus. Die Telefonnummer prangte jahrzehntelang weithin sichtbar auf Telefonzellen. Jede gefährdete Frau sollte sie auswendiglernen, um sie im Fall des Falles parat zu haben. Und jeder Gewalttäter sollte wissen: Meine Frau ist nicht allein.

Was ist in all dieser Zeit gleich geblieben, was hat sich verändert? Verändert haben sich definitiv Ausstattung und Komfort. „Männer erzählen Frauen ja häufig immer noch, dass man im Frauenhaus auf dem Boden schlafen muss“, lacht ­Andrea Brem, heute Geschäftsführerin der Wiener Frauenhäuser, „und dann sind viele überrascht, wenn sie sehen, wie schön es bei uns ist“. Separate Wohneinheiten mit eigenem Bad für jede Familie sind mittlerweile Standard, es gibt eigene Spiel- und Jugendzimmer, meistens auch einen Garten.

Verbessert haben sich auch die Sicherheitsvorkehrungen. In der Anfangszeit war es kaum möglich, die Adresse streng geheimzuhalten – „Anruferinnen und Taxifahrern haben wir die Adresse ja sagen müssen, und oft haben Männer eine Frau vorgeschickt, um sie herauszufinden“, sagt Fröschl. Permanent war der gegenüberliegende Gehsteig von Männern belagert, die ihren Ehefrauen auflauerten oder sie zur Rückkehr bewegen wollten, „die Polizei sagte damals, sie hätte keine Handhabe, das sei ja öffentlicher Raum." Fröschl hatte Dienst, als ein Mann an der Eingangstür seine Frau attackierte, „plötzlich hat sie geschrien, und das Messer ist ihr in der Schulter gesteckt“, erzählt sie. „Rückblickend eigentlich ein Wunder, dass insgesamt nicht mehr passiert ist.“ Heute hingegen haben alle Frauenhäuser Schleusentüren, aufwändige Kamerasysteme, die die ganze Gasse beobachten, und eine Direktleitung zur Polizei. „Wir sind Hochsicherheitseinrichtungen geworden“, sagt Brem.

Auch die Rechtslage hat sich verändert: Das Gewaltschutzgesetz von 1997 bietet die Möglichkeit, Gewalttäter aus der Wohnung zu weisen und ein Betretungsverbot auszusprechen, „da ist uns ein ganz großer Schritt gelungen“, so Brem. Auch die Zusammenarbeit mit den Behörden steht auf einer viel besseren Grundlage: „Gute Polizeiinterventionen waren früher die Ausnahme, heute sind sie die Regel.“ Das sei das Ergebnis jahrelanger Schulungsseminare für Polizisten und Polizistinnen. Seit heuer zahlt das Innenministerium den Mitarbeiterinnen der Frauenhäuser für diese Schulungen allerdings keine Honorare mehr – „wir machen es halt trotzdem weiter, weil es wichtig ist“, sagt Brem dazu.

Sichtbar gewandelt hat sich die Klientel der Frauenhäuser, speziell in der Stadt. Fünfzig Sprachen wurden im vergangenen Jahr an den Wiener Standorten gebraucht, „die ständige Arbeit mit Sprachmittlerinnen ist normal geworden, häufig per Videodolmetsch“, sagt Brem – was natürlich Geld kostet. Migrantinnen sind in Frauenhäusern überrepräsentiert, weil sie häufig kein Netzwerk haben, keine Bekannten, bei denen die unterschlüpfen könnten. Es hat sich ein neues Konfliktszenario aufgetan: Wenn sich Frauen nicht nur vor einem gewalttätigen Ehemann, sondern vor der ganzen Familie verstecken müssen. „In solchen Fällen wäre es extrem hilfreich, Frauen auch einmal in einem anderen Bundesland unterzubringen“, sagt Brem. Aber anders als 1978, als die Tiroler Bäuerin nach Wien kam, ist das heute sehr kompliziert, weil Frauenhäuser Ländersache sind. Radikal verändert haben sich auch die Kommunikationsmittel. In Zeiten des Festnetztelefons mussten sich Männer noch auf den Gehsteig stellen, um sich ihren Frauen in Erinnerung zu rufen oder zur Heimkehr zu bewegen – „oft kamen auch riesige Blumenträuße und Bonbonnieren an“, erzählt Fröschl. Heute können sie sich via SMS, Facebook und WhatsApp rund um die Uhr aufdrängen. „Spyware ist ein riesiges Thema“, sagt Brem, „man glaubt gar nicht, was da alles möglich ist. Oft sind es ja die Männer, die ihren Frauen die Handies eingerichtet haben, und überwachen dann jede ihrer Bewegungen per GPS.“

Trotz aller Unterschiede – es gibt auch vieles, das über all die Jahrzehnte konstant bleibt. Die Methoden des Psychoterrors, die Techniken der Manipulation, die körperlichen und seelischen Verletzungen, die Gewalt hinterlässt – daran ändert sich nichts. Ähnliches gilt für die Rituale, mit denen Frauen versuchen, wieder Boden unter den Füßen zu kriegen: Der strukturierte Tagesablauf, das Kaffeehäferl zum Festhalten, die gemeinsamen Rauchpausen – all das exisitert in den Frauenhäusern 2018 noch genauso wie im Frauenhaus 1978.

Noch eine Zahl ist konstant: Etwa ein Viertel der misshandelten Frauen gehen – damals wie heute – zu ihren Peinigern zurück. „Anfangs haben wir das als Niederlage empfunden“, erzählt Elfriede Fröschl, „wir haben gedacht, die Frauen kommen zu uns, steigen dann wie Phönix aus der Asche, und beginnen ein ganz neues Leben.“

Ein neues Leben ist immer eine Fortsetzung des alten Lebens – das wissen die Frauenhausmitarbeiterinnen heute. Und doch muss die Rückkehr zum Partner nicht unbedingt eine Niederlage sein. „Eine Frau, die im Frauenhaus war, geht anders zu ihrem Mann zurück, als sie hergekommen ist“, sagt Andrea Brem.  Sie weiß über ihre Rechte Bescheid; sie weiß, dass sie sie sich nicht alles gefallen lassen muss; sie weiß, dass es einen Plan B gibt; dass ein Leben ohne diesen Mann möglich ist. Und sie hat eine Telefonnummer in der Tasche – für alle Fälle.

 

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