Aus dem Tunnel des Traumas

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In Gjakova haben sie auf den Tischen getanzt. Sicher, auch die Feier in Köln war schön. Die medica mondiale-Frauen hatten am 1. Oktober mit Sekt angestoßen und um 20 Uhr die Tagesschau angeschaltet, wo der Sprecher nach Weltfinanzkrise und CSU-Personalkarussell die Nachricht verkündete: Monika Hauser hat den Alternativen Nobelpreis bekommen! Für ihr "unerschrockenes Engagement für Frauen, die in Krisenregionen schrecklichste sexualisierte Gewalt erfahren haben, und für ihren Kampf, ihnen gesellschaftliche Anerkennung und Entschädigung zu verschaffen". Logisch war der Jubel groß. Aber was sich zwei Tage später im medica-Therapiezentrum im Kosovo abspielte, erzählt Monika Hauser, das war eine "Riesenfete". Das schönste daran war, "dass auch viele ehemalige Klientinnen mitgefeiert haben".

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Neun Jahre ist es her, dass die Gynäkologin und medica mondiale-Gründerin an Ostern 1999 in die Flüchtlingslager nach Tirana gefahren war, um zu sehen, was medica mondiale dort für die Frauen tun könnte, denen bei den Eroberungen ihrer Dörfer etwas passiert war, worüber sie nicht sprechen konnten. Es war schon 1993 mit dem ersten Therapiezentrum in Bosnien schwer genug gewesen, das Tabu der zahllosen Kriegsvergewaltigungen zu brechen. Aber in der archaischen kosovarischen Gesellschaft, wo die ungeschriebenen Gesetze des Kanun noch Blutrache oder die Vererbung einer Witwe an ihren Schwager vorsehen, war die Scham unermesslich.

Die erste Frau, die Monika Hauser diese spezielle Art von Geschichten erzählt, ist ihre Großmutter. Hausers Eltern waren Mitte der 50er Jahre aus Südtirol in die Schweiz gegangen, wo es für den gelernten Schneider und die Bürofachfrau mehr Arbeit gab als im armen Nordzipfel Italiens. Und immer, wenn die Enkelin mit ihren Eltern aus St. Gallen auf Wochenendbesuch in ihr Heimatdorf Langen kommt, gehen Monika und Oma Elsa spazieren. Auf diesem immergleichen Weg zu einem kleinen Weiler erzählt die Großmutter von dem Haushalt mit 13 Geschwistern, den sie als Älteste führen muss. Und wie sie sich in der verzweifelten Hoffnung, dieser Schufterei zu entkommen, von dem Mann, der Monikas Großvater wird, schwängern lässt. "Pass bloß auf, lass keinen drüber!" lautet Oma Elsas Credo. Die Enkelin versteht die Botschaft, dass "Frauen und Gewalt irgendwie zusammengehören".

Denn auch von ihrer Mutter hört sie Geschichten. Sie handeln zum Beispiel von einem zudringlichen Chef, den Franziska Hauser als junge Frau abwehren musste, vor allem aber von der Todesangst bei den Bombardements im Zweiten Weltkrieg. Tochter Monika lauscht diesen Geschichten "mit Riesenohren" – und tritt die Flucht nach vorn an. Sie leiht sich in der St. Gallener Stadtbücherei alles aus, was sie zum Thema Krieg finden kann. "Ich wollte dem Schrecken begegnen, indem ich ihn mir konkret anschaue. Alles andere macht mir noch mehr Angst." Eine Strategie, die später zum Lebensprinzip wird.

Den Entschluss, Medizin zu studieren, fasst Monika Hauser mit 17. Bei einem fünfwöchigen Aufenthalt in einem Kibbuz ist sie dabei, wie ein Mann bei der Birnenernte vom Baum und in eine Erntemaschine stürzt. Hilflos muss sie zusehen, wie er verblutet.

Im Praktischen Jahr, das sie in einem Südtiroler Krankenhaus in der Nähe ihres Heimatdorfes absolviert, hört sie wiederum Geschichten, diesmal von den Bäuerinnen. Sie erzählen von brutalen Ehemännern. Eine Patientin hat Ärztin Hauser besonders deutlich in Erinnerung. "Da war ein junges Mädchen, das glaubte, sie wäre ein Huhn." Von Abspaltung und Dissoziation, also der Flucht aus dem Körper in eine andere, aushaltbare Existenz, weiß die junge Ärztin Mitte der 80er Jahre noch nichts. Aber sie spricht mit der Patientin und es stellt sich heraus: Sie wird von ihrem Bruder vergewaltigt. Immer stärker begreift sie "den Zusammenhang zwischen dem Gesundheitszustand der Frauen und ihren Gewalterfahrungen".

Auch in Essen, wo Hauser 1988 eine Stelle antritt, begegnen ihr Patientinnen, denen Gewalt angetan wurde. Als sie schließlich im Herbst 1992 die Berichterstattung über die Massenvergewaltigungen in Bosnien liest "gab es keine Frage mehr!"

Am 4. April 1993 eröffnet in der bosnischen Stadt Zenica, finanziert aus dem Spendenfonds des TV-Frauenmagazins Mona Lisa, das Frauentherapiezentrum "Medica". Die Hälfte des Preisgeldes von 50.000 Euro will Monika Hauser dorthin geben. Denn auch 13 Jahre nach Kriegsende nistet das Grauen von damals immer noch in den Seelen und Körpern der Frauen, die massenhaft an psychosomatischen Krankheiten leiden. Die internationale "Nothilfe" aber ist längst eingestellt.

Sechs Jahre nach der Gründung von Medica Zenica folgen Medica Kosova und Medica Tirana. Nach dem Einmarsch der US-Truppen in Afghanistan gründet medica mondiale auch dort ein Zentrum. Und auch in Liberia, wo die Frauen nach dem Bürgerkrieg den traurigen Rekord der meistvergewaltigtsten Frauen der Welt halten, hat im November 2007 das "Women’s and Girl’s Centre" von medica mondiale eröffnet.

In Kabul, wo Präsident Karsai inzwischen mit den Taliban verhandelt, "haben die Kolleginnen den Preis aus Angst vor Anschlägen gar nicht groß publik gemacht", bedauert Monika Hauser. In Gjakova jedoch standen nach der Pressekonferenz die Zeichen auf Stolz und Freude. Und die Frauen, die Monika Hauser nach Kriegsende sprachlos und völlig lethargisch erlebt hat, "haben zum ersten Mal seit damals wieder getanzt". Auf den Tischen.

www.medicamondiale.org

Chantal Louis: Monika Hauser – Nicht aufhören anzufangen (Rüffer & Rub, 19.80 €)

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