Terror gebiert Terror

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Am 3. September 2001 nahm ich das Flugzeug von Kairo, Ägypten, in Richtung Newark Airport in New Jersey. Am nächsten Tag, Dienstag, den 4. September, ging einer meiner Kollegen mit mir ein paar Minuten auf dem Montclair Hill spazieren, um New York City anzu­sehen. Er erklärte mir, dass New York und New Jersey quasi eine Stadt sind, nur getrennt vom Hudson. „Schau dir diese beiden Wolkenkratzer an, Nawal, das sind die beiden Türme des World Trade Center.“ Ich sah die Zwillingstürme verschwommen über alle anderen Türmen ragen. Un­vorstellbar, dass sie eine Woche später da nicht mehr sein würden.

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Ich bin nicht wieder zurückgekehrt, um mir die Lücke, die sie in der Skyline hinterließen, anzuschauen. Ich lebe in einer Re­gion, dem so genannten Mittleren Osten (mittlerer für wen eigentlich), wo ich viele Gebäude einstürzen sehe, viele Feuer, viel Rauch und viele Tragödien. Fast jeden Morgen in den letzten Jahren, an dem ich meine Augen öffnete, sah ich die Massaker in unserer Region: in Palästina, im Irak, in Algerien, Lybien, im Sudan, in Somalia, Pakistan, Afghanistan, Indonesien, im Iran und anderswo. Aber meine Kollegen in der USA sahen all das nicht.

Ich habe viele Freunde in den Verei­nigten Staaten. Ich liebe sie. Wir sprechen die gleiche Sprache und teilen die gleichen Ansichten. Ich habe mit ihnen ihren Schmerz nach dem Anschlag auf New York und dem Tod all der unschul­digen Männer und Frauen geteilt, die unter den Türmen verschüttet wurden. Dennoch sehe ich die amerikanische Politik kritisch: ihre Unterstützung korrupter und undemokratischer ara­bischer Regimes, die uns unterdrücken, ihre Unterstützung Israels und seines Massakers des palästinensischen Volkes, ihre Lancierung des Golfkrieges von 1991, um das Golföl zu kontrollieren und auszubeuten unter dem Deckmantel der Befreiung Kuwaits. Der Golfkrieg tötete eine halbe Million Menschen. UNICEF schätzt, dass mindestens 4500 irakische Kinder jeden Monat sterben an den Folgen der von Amerika befohlenen Sanktionen.

Terrorismus gebiert mehr Terrorismus. Wir dürfen nicht vergessen, dass Osama Bin Laden und die Taliban beide nur mit Hilfe der Vereinigten Staaten das geworden sind, was sie jetzt sind; zur Bekämpfung der So­wjetunion und des Kommunismus. Nach der Niederlage der Sowjets verlagerten Bin Laden und seine Kämpfer ihre Mas­s­aker auch nach Ägypten. Und schließlich stellten sie sich gegen ihren eigenen Vater und attackierten die Vereinigten Staaten.

Der Sohn tötet den Vater. Eine Geschichte, die sich oft wiederholt im Lauf der Geschichte. Auch der ägyptische Staatspräsident Anwar Sadat wurde am 6. Oktober 1981 von der islamistischen Fundamenta­listen­gruppe getötet, die er mit der Hilfe der USA geschaffen hatte.

Als ich im Kairoer Flughafen saß und auf meinen Flug nach Newark wartete, traf ich zwei junge Frauen, die nach Paris flogen. Eine von ihnen kam aus einem Dorf im Nildelta in der Nähe meines Dorfes, die andere war von den Phili­p­pinen. Sie sahen aus wie Schwestern. Beide stammten aus armen, ländlichen Familien und waren auf dem großen Markt verkauft worden, der mit Frauen und Kindern handelt, die Dienstmädchen oder Prostituierte werden. Der Menschen­handel mit Frauen und Kindern bringt Männern sieben Milliarden Dollar jährlich. Die beiden Mädchen, die sich zuerst in Saudi Arabien trafen, arbeiteten dort für einen reichen alten Prinzen. Er hatte beide vergewaltigt, obwohl er verheiratet ist und vier Frauen hat. Nach einigen Mo­naten entließ er sie, sie wurden nach Israel abgeschoben. Nach zwei Jahren des Leidens wurden sie nach Pakistan verschifft, getrennt für ein Jahr, nur um sich in Kairo wieder zu treffen, wo sie anderthalb Jahre vegetierten. Jetzt sind sie am Flughafen auf dem Weg nach Paris, um in Sexshops und Nachtclubs zu arbeiten. Sie sind nicht älter als 17, haben schon mehrere Abtreibungen und Vergewaltigungen hinter sich.

Die meisten Menschen, die gegen die Globalisierung oder für Menschenrechte kämpfen, klammern diese Frauen aus ihrem Kampf aus. Sie verbinden nicht das ökonomische Problem der Globalisierung mit den „Sexproblemen“. Sie unterscheiden zwischen klassenspezifischer und geschlechtsspezifischer Unterdrückung. (...)

Und die Globalisierung? Die Wirtschaft Ägyptens verschlechterte sich, als die so genannte „Offene Tür Politik“ mit Hilfe der Vereinigten Staaten einberufen wurde. Anstatt zu produzieren, was wir brauchen, wurden wir die Konsumenten von ameri­ka­nischen Produkten, die wir nicht brauchten. Anstatt unsere eigene Baumwolle oder Getreide oder Orangen anzubauen, importierten wir sie. Anstatt unseren süßen Orangen­saft zu trinken, tranken wir saure Coca Cola und bittere Seven up. Das meiste der amerikanischen Hilfe ging zurück in amerikanische Taschen, und der Rest ging in die Taschen der herrschenden Klassen in unserem Land. Wirtschaftliche Depression, Arbeitslosigkeit, Inflation, Ansteigen der Auslandsschulden, Abwertung der lokalen Währung in Abhängigkeit vom Dollar, die Reduktion der Wachstumsrate, die Abhängigkeit vom ausländischen Markt und das Anwachsen der religiös fundamentalistischen Bewegung, das sind nur einige der Ergebnisse der Globalisierung und der Politik der Vereinigten Staaten in unseren Ländern.

Die Geschichte ist voll von Blutvergießen und Kriegen, die im Namen GOTTES geführt werden. Seit dem Anschlag auf das World Trade Center und das Pentagon hat auch die US–Regierung angefangen, die Dosis Christentum zu erhöhen. Gebete und das Absingen von „Gott segne Amerika“ und die Beschwörung des Teufels sind an der Tagesordnung, Bin Laden und Taliban sollen ausradiert werden.

Vor einigen Jahren noch unterstützte die Regierung der Vereinigten Staaten diese islamistischen Gruppen, gab ihnen Waffen und half ihnen, in unserer Region ihre Militärguerillacamps zu errichten.

Frauen leiden am meisten unter dem Anwachsen der religiösen Bewegungen. In allen herrschenden Religionen haben sie den Männern gegenüber eine minderwer­tige Position. Globalisierung und religiöser Fundamentalismus sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Amerikanische und israelische Frauen leiden unter christlichem und jüdischem Fundamentalismus. Der Rückschlag gegen die Frauenrechte ist ein Ergebnis des fortschreitenden Fundamentalismus.

Der größte Kampf im 21. Jahrhundert wird die Entscheidung des Verstandes der Menschen sein. Man kann keine Menschen ausbeuten  und kolonialisieren, ohne ihren Verstand zu verschleiern. Religion und Patriotismus sind zwei effektive Methoden dafür. Kultur ist eine weitere. Post-Moder­nismus und Neo-Kolo­nialismus sind die beiden Seiten ein und derselben Medaille.

In Deutschland wurde im August 1997 ein 18-jähriges iranisches Mädchen von ihrem Vater verbrannt, weil sie sich wei­gerte, den Mann zu heiraten, den er für sie aus­gesucht hatte. Ein deutsches Gericht gab ihm eine reduzierte Strafe mit der Begründung, dass er seine Kultur und Religion ausübte. Und Germaine Greer, australische Feministin in England, schrieb im Guardian vom 25. November 1999, dass sie sich nicht gegen weibliche Genitalverstümmelung oder Verhüllung von Frauen in einigen Ländern ausspreche, weil sie die „kulturellen Differenzen“ respektiere.

Diese Art postmoderner Ideen beinhalten, dass Frauenrechte keine universalen Menschenrechte sind, dass sie von Kultur zu Kultur variieren. Das beinhaltet, dass die Menschenrechte von Frauen, die im Iran oder in Pakistan oder in Ägypten geboren wurden, weniger sind als die Rechte von Frauen, die in den Vereinigten Staaten, dem Vereinigten Königreich oder Schweden geboren sind.

In seiner Rede vor dem Kongress am 20. September 2001 sagte George W. Bush, dass der Krieg gegen Afghanistan nicht kurz und schnell und ohne Verluste sein würde wie der Golfkrieg.

Viele meiner amerikanischen Freunde stimmen Bushs Kriegsgerassel nicht zu. Sie fürchten, dass der militärische Krieg den Terrorismus nicht beenden wird, sondern nur noch mehr Terrorismus schafft. Sie finden, dass statt Bomben politische Auseinan­der­setzung notwendig ist. Ich finde das auch.

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