Propaganda: Wie man einen Krieg verkauft

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Jene, die in den letzten Wochen Kritik an der amerikanischen Regierung geübt haben, wurden des Antiamerikanismus bezichtigt. Dieser Begriff erhält gegenwärtig die Weihen einer Ideologie. Gewöhnlich verwendet das amerikanische Establishment diese Bezeichnung, um seine Kritiker zu diskre­­di­tieren und ihnen ein (nicht völlig falsches, eher: ungenaues) Etikett zu verpassen. Sobald jemand als Antiamerikaner abgestempelt ist, kann der Betreffende damit rechnen, umstandslos verurteilt zu werden, und sein Argument wird im Aufschrei eines verletzten Nationalstolzes untergehen.

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Was bedeutet Antiamerikanismus? Dass man nicht gern Jazz hört? Dass man gegen Meinungsfreiheit ist? Dass man nicht für Toni Morrison oder John Updike schwärmt? Bedeutet es, dass man die Hunderttausende von Amerikanern nicht bewundert, die gegen Atomwaffen demonstriert haben? Oder die Tausende von Kriegsdienstverweigerern, die ihre Regierung zwangen, sich aus Vietnam zurückzuziehen? Bedeutet es, dass man alle Amerikaner hasst?

Diese raffinierte Vermengung von amerikanischer Musik, Literatur, der atem­beraubenden Schönheit des Landes, den einfachen Vergnügungen der ein­fachen Leute mit der Kritik an der Außen­politik der amerikanischen Regierung ist eine bewusste und außerordentlich wirkungs­volle Methode. Es erinnert an eine zurückweichende Truppe, die in einer dicht bevölkerten Stadt Unterschlupf sucht, in der Hoffnung, der Feind werde aus Sorge vor zivilen Opfern von einem Beschuss absehen.

Viele Amerikaner wären verärgert, wenn man sie mit der Politik ihrer Regie­rung identifizierte. Die nachdenklichsten, schärfsten, bissigsten und geistreichsten Kommentare über die Heuchelei und die Widersprüche der amerikanischen Politik stammen ja gerade von den Amerikanern selbst. (Auch in Indien wären Millionen Menschen beschämt und belei­digt, wenn sie mit der faschistischen Politik der gegenwärtigen Regierung iden­tifiziert würden.) Jemandem deswegen Antiamerikanismus vorzuwerfen ist Ausdruck eines Mangels an Phantasie, der Unfähigkeit, die Welt anders zu sehen als in der vom Establishment vorgegebenen Weise: Wer nicht gut ist, ist böse. Wer nicht für uns ist, ist für die Terroristen.

Auch ich habe im letzten Jahr nach dem 11. September den Fehler gemacht, über diese Rhetorik zu spotten, sie als töricht und arrogant abzutun (EMMA 6/2001). Mir ist klar geworden, dass das nicht zutrifft. Tatsächlich handelt es sich um eine raffinierte Werbekampagne für einen irrigen, gefährlichen Krieg. Immer wieder stelle ich erstaunt fest, wie verbreitet die Ansicht ist, dass man den Krieg in Afghanistan nicht kritisieren dürfe, weil das einer Unterstützung des Terroris­mus gleichkäme. Nachdem das ursprüng­liche Kriegsziel – Bin Laden gefan­gen zu nehmen – fehlgeschlagen ist, wird nun von anderen Absichten gesprochen.

Jetzt heißt es, der Krieg sei geführt worden, um das Taliban-Regime zu stürzen und die afghanischen Frauen von der Burkha zu befreien. Wir sollen also glauben, dass die amerikanischen Soldaten in feministischer Mission unterwegs sind. (Wird ihr nächster Einsatz sie dann nach Saudi-Arabien führen, dem militärischen Verbündeten Amerikas?) In Indien gibt es ziemlich üble soziale Verhaltensweisen – gegenüber den „Unberührbaren“, gegenüber Christen und Muslimen, gegen­über Frauen. In Pakistan und Bangladesch werden Minderheiten und Frauen noch schlimmer behandelt. Sollten diese Länder deshalb bombardiert werden?

Der Horror des 11. September verfolgt die Menschen natürlich, vor allem in Amerika. Schmerz und Wut sind noch immer groß. Trotzdem wissen alle, die einen Angehörigen verloren haben, dass kein Akt der Vergeltung ihren Schmerz lindern oder ihre Toten zurückbringen kann. Krieg kann die Toten nicht rächen. Krieg ist nur eine brutale Entweihung des Gedenkens. Denn einen neuen Krieg (gegen den Irak) zu entfachen, indem man die Trauer manipuliert, sie für Fern­seh­sondersendungen zurechtmacht, die von Waschmittel- oder Sportschuhherstellern gesponsert werden, heißt, diese Trauer zu entwerten. Es zeigt, dass die intimsten Gefühle der Menschen rücksichtslos für politische Zwecke geplündert werden.

Die amerikanische Regierung sagt, Saddam Hussein sei ein Kriegsverbrecher, ein brutaler Militärdiktator. Das ist eine durchaus zutreffende Beschreibung des Mannes, der 1988 Hunderte von nord­irakischen Dörfern bombardieren und Tausende von Kurden hinmetzeln ließ. Heute wissen wir, dass die amerikanische Regierung ihm im selben Jahr 500 Millio­nen Dollar zum Ankauf amerikanischer Agrarprodukte zur Verfügung stellte. Ein Jahr später, nach erfolgreich abgeschlos­se­nem Völkermord, erhöhte sie ihre Hilfe auf eine Milliarde. Außerdem lieferte sie Anthrax-Erreger sowie Helikopter und Material, das auch zur Produktion von chemischen und biologischen Waffen eingesetzt werden konnte. Es stellt sich also heraus, dass in jener Zeit, in der Saddam seine übelsten Massaker verübte, die amerikanische und die britische Regie­rung seine engsten Verbündeten waren. Was hat sich seither geändert?

Im August 1990 überfiel Saddam ­Kuwait. Seine Sünde war nicht so sehr, dass er eine kriegerische Handlung unter­nommen, sondern dass er auf eigene Faust gehandelt hatte. Schon allein diese Demons­tration von Unabhängigkeit brachte das Gleichgewicht der Kräfte am Golf durcheinander. Also beschloss man, Saddam zu beseitigen, so wie man sich eines Haustiers entledigt, das man nicht mehr mag. Und doch ist Saddam noch immer an der Macht.

Nun, zwölf Jahre später, kurbelt Bush jr. diese Rhetorik wieder an. Er fordert einen Krieg, dessen Ziel ein Regimewechsel im Irak sein soll. Andrew H. Card jr., Stabs­chef im Weißen Haus, hat beschrieben, wie die Regierung ihre Kriegspläne für den Herbst verstärkt: „Aus Marketing­erwä­gungen bringt man ein neues Produkt nicht im August auf den Markt.“ Stichwort für Washingtons „neues Produkt“ ist diesmal nicht die Lage der Men­­schen in Kuwait, sondern die Behaup­tung, der Irak verfüge über Massenver­nichtungswaffen. Von „dem zweck­losen Mora­lisieren der Friedens­lobby“ sollte man sich nicht irritieren lassen, schrieb Sicherheitsberater Richard Perle. Notfalls würden die Vereinigten Staaten einen Präventivschlag führen.

Die Waffeninspekteure berichten Wider­sprüchliches über die Situation im Irak. Viele haben erklärt, dass die Massen­vernichtungswaffen zerstört seien und der Irak nicht über die Möglichkeiten verfüge, neue zu bauen. Was aber, wenn der Irak tatsächlich eine Atombombe ­besitzt? Würde dies einen Präventiv­schlag rechtfertigen?

Amerika hat das weltweit größte Atomwaffenarsenal, und es ist das bisher einzige Land der Welt, das Atomwaffen gegen eine Zivilbevölkerung eingesetzt hat. Wenn es für sich das Recht beansprucht, einen Präventivschlag gegen den Irak zu führen, so wäre jede Atommacht berechtigt, einen Präventivschlag gegen eine andere zu führen. Auch Indien könnte Pakistan angreifen oder umgekehrt. Unlängst haben die Vereinigten Staaten erheblich dazu beigetragen, Indien und Pakistan von einem Krieg abzuhalten. Fällt es den Amerikanern so schwer, den eigenen Rat selbst zu beherzigen?

Wer moralisiert hier eigentlich? Wer predigt Frieden und führt gleichzeitig Krieg? Amerika, nach Präsident Bushs Worten die „friedfertigste Nation der Welt“, hat in jedem der letzten 50 Jahre gegen irgendein Land in der Welt Krieg geführt. Und Kriege werden nie aus altruistischen Motiven geführt. Meist geht es um Hegemonie, um Geschäfts­inte­ressen. Tom Friedman schreibt in seinem Buch „The Lexus and the Olive Tree“: „Die verborgene Hand des Markts wird ohne verborgene Faust nicht funk­tionie­ren. Ohne McDonnell Douglas kann McDonald’s nicht erfolgreich sein. Die verborgene Faust, die dafür sorgt, dass die High-Tech-Unternehmen von Silicon Valley überall auf der Welt ungehindert florieren können, heißt US Army, Air Force und ­Marine Corps.“ Vielleicht wurden diese Worte in einem Moment großer Ver­un­sicherung geschrieben, aber es ist die präg­nan­tes­te, genau­este Beschreibung des Unter­nehmens Globalisierung, die ich je gelesen habe.

Nach dem 11. September und dem Krieg gegen den Terror ist die verborgene Faust enttarnt. Deutlich können wir nun sehen, wie Amerikas andere Waffe, der freie Markt, mit einem verbissenen Lächeln über die Entwicklungsländer hereinbricht. „The Task That Never Ends“, die immer währende Aufgabe also, ist Amerkas perfekter Krieg, das Vehikel des unaufhörlich expandierenden amerikanischen Imperialismus. Profit heißt auf Urdu „faida“, und „Al-qaida“ bedeutet: Wort, Wort Gottes, Gesetz. Manche Inder bezeichnen den Krieg gegen den Terror als Kampf zwischen Al Qaida und Al Faida. Im Moment sieht es aus, als würde Al Faida die Oberhand gewinnen.

Das Gesamteinkommen der Welt ist in den letzten zehn Jahren um durchschnittlich zweieinhalb Prozent jährlich gestiegen, wäh­rend die Zahl der Armen um 100 Millionen angewachsen ist. 51 der 100 größten Wirtschaftsunternehmen sind Firmen, nicht Länder. Das oberste 1 Prozent der Weltbevölkerung verfügt über ebenso viel Einkommen wie die unters­ten 57 Prozent. Unter dem Schild des Anti-Terror-Kriegs wird dieser Prozess vorangetrieben. Während Bomben fallen, werden Ver­träge unter­zeichnet, Ölpipelines gebaut, Bodenschätze geplündert, Wasservorräte privatisiert und Demokratien geschwächt.

Doch während der Gegensatz zwischen Arm und Reich immer größer wird, hat die verborgene Faust des freien Marktes viel zu tun. Multinationale Konzerne, stets auf Profitsuche, sind in Ent­wicklungsländern auf die Mitwir­kung des Staatsapparats angewie­sen, auf Polizei, Justizbehörden, mitunter sogar auf das Militär. Die Globalisierung braucht einen internationalen Verbund von loy­a­len, korrupten, vorzugsweise auto­ritären Regierungen in den armen Ländern, damit unpopu­läre Reformen durchgesetzt werden können. Sie braucht eine Presse, die so tut, als wäre sie frei. Sie braucht Gerichte, die so tun, als sprächen sie Recht. Sie braucht Atom­bomben, Armeen, strenge Einwan­derungs­gesetze und Grenz­polizisten, die dafür sorgen, dass nur Kapital, Waren, Patente und Dienstleistungen globalisiert werden – nicht aber die Reisefreiheit von Menschen, die Einhaltung der Menschenrechte und die Abkom­men über das Verbot von Rassen­diskriminierung, von che­mi­schen oder atoma­ren Waffen, über Klimaschutz oder, Gott bewahre, einen internationalen Straf­gerichtshof.

Knapp ein Jahr nachdem der Krieg gegen den Terror im zerstörten Afghanistan offiziell für beendet erklärt wurde, gehen immer mehr Länder daran, Freiheiten im Namen der Freiheit und zum Schutz der Demokratie einzuschränken oder aufzuheben. Jede Art von Aufbegehren wird als „Terrorismus“ bezeich­net. Der Krieg, darauf hat Verteidigungsminister Rumsfeld hingewiesen, wird geführt, damit die Amerika­ner an ihrem Way of life fest­hal­ten können. Stampft der König wütend mit dem Fuß auf, erzittern die Sklaven. Es fällt mir schwer, das auszusprechen, aber der amerikanische Way of Life kann nicht aufrechterhalten werden – weil diese Lebensform nicht akzeptiert, dass es außer Amerika noch eine andere Welt gibt.

Macht ist glücklicherweise nicht unbegrenzt haltbar. Irgend­wann wird dieses mächtige Impe­rium, wie andere vor ihm, sich übernehmen und implodieren. Schon sind erste Risse zu erkennen. Der Krieg gegen den Terror wirft seine Netze immer weiter aus, und das Herz der amerikanischen Konzerne blutet. Eine Welt, die regiert wird von einer Handvoll gieri­ger Banker und Unter­nehmenschefs, die niemand gewählt hat, kann unmöglich Bestand haben.

Der sowjetische Kommunismus ist nicht gescheitert, weil er grundsätzlich böse war, sondern weil er einen Fehler hatte: Zu ­wenige Leute konnten zu viel Macht an sich reißen. Der ameri­kanische Kapitalismus des 21. Jahrhun­derts wird aus dem gleichen Grund scheitern.

Aus dem Englischen von Matthias Fienbork. Zuletzt in EMMA von Arundhati Roy: Sind sie Zwillinge? (6/2001), und über sie: Göttin der kleinen Leute (6/1999).

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