Saudi-Arabien: Befreit sie alle!

Raif Badawi und Souad Al-Shammary.
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11. Januar 2015, Paris: Über 40 Staats- und Regierungschefs stellen sich Schulter an Schulter für ein gemeinsames Foto auf, das kurz darauf weltweit verbreitet wird. Es ist der Tag, an dem über eine Million Menschen nach dem tödlichen Attentat auf die französische Satirezeitung Charlie Hebdo und den jüdischen Supermarkt zum Trauermarsch zusammenkommen. Die PolitikerInnen wollen ein Zeichen setzen: Gegen Gewalt, für Meinungsfreiheit, für Demokratie. Unter ihnen: der saudi-arabische Vize-Außenminister Nizar Madani. Und Riads Botschafter in Frankreich, Mohammed Ismail Al-Sheikh.

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9. Januar 2015, Dschidda, zwei Tage zuvor: Das Wachpersonal zerrt den saudi-arabischen Blogger und Menschenrechtsaktivisten Raif Badawi wenige Tage vor seinem 31. Geburtstag aus seiner Zelle im Briman-Gefängnis in der Küstenstadt Dschidda am roten Meer. In einem Polizeitransporter fahren sie ihn zur Al-Dschalafi-Moschee. Dort geht gerade das Mittagsgebet zu Ende. Augenzeugen berichten, dass die Menschen sich in einem Kreis aufstellen, weil sie schon ahnen, was passieren wird, als der Mann in Handschellen und Fußfesseln auf den Platz vor der Moschee geführt wird.

1.000 Peitschenhiebe, dazu zehn Jahre Gefängnis.

50 Mal schlägt der Vollstrecker mit dem dünnen Stock fest zu. Es sind die ersten öffentlichen 50 Peitschenhiebe von 1.000, zu denen der junge Mann mit dem wachen, mitfühlenden Blick im vergangenen Mai von den saudi-arabischen Sittenwächtern verurteilt worden war. 50 Peitschenhiebe, jeden Freitag nach dem Mittagsgebet. Dazu zehn Jahre Gefängnis. Plus 200.000 Euro Geldstrafe. Sowie das Verbot, Medienkanäle, vor allem im Internet, zu nutzen.

Augenzeugen berichten, Raif Badawi habe keinen Ton von sich gegeben. Aber die Schmerzen, die habe man ihm deutlich angesehen. Er soll den Platz trotzdem aufrechten Ganges verlassen haben. Badawis Vergehen: Er sei "vom Glauben abgefallen". Und er soll "den Islam beleidigt" haben. In seinem politischen Online-Forum „Liberal Saudi Network“ (Saudi-Arabische Liberale).

22. Januar 2015:  Nicht nur in Paris, weltweit sind wieder Proteste angesagt. An diesem Tag treffen sich die Menschen vor den Botschaften Saudi-Arabiens, auch in Berlin. Sie fordern die sofortige Freilassung von Badawi. Amnesty International überreicht 86.000 Protest-Unterschriften. 
Statt Trauer Wut, seit Tagen in der ganzen westlichen Welt. Die blickt empört nach Saudi-Arabien. Im Internet kursiert nicht nur ein Video des Gewaltakts vor der Moschee, sondern auch Appelle, den gefolterten Gefangenen sofort freizulassen.

Eine weitere Folterrunde würde er nicht überleben.

Die deutsche Dependance der Schriftstellervereinigung P.E.N. ernennt Badawi zum "Ehrenmitglied". Martin Schulz, Präsident des EU-Parlaments, schreibt an den saudischen Sultan Abdullah Bin Abdulaziz al-Saud: „Ich appelliere an Sie persönlich, Ihren Einfluss zu nutzen, so dass in diesem Fall Gnade erfolgt.“ Und der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Christoph Strässer, erklärt, dass die Bestrafung von Badawi „den internationalen Verpflichtungen widerspricht, die Saudi-Arabien eingegangen ist". Das Auswärtige Amt erklärt die Strafe als „nicht hinnehmbar“.

Der Protest im Internet und vor den Botschaften richtet sich nicht nur an die islamistischen Folterer in Saudi-Arabien. Sondern auch an die westlichen Politiker, die sich nur zögernd zu Wort melden; die ja eben noch Schulter an Schulter mit den saudischen Autoritäten im Namen der Menschenrechte auf die Straße gegangen sind; beste wirtschaftliche Beziehungen zu dem Land am Persischen Golf pflegen und gemeinsame Sache machen mit Saudi-Arabien gegen die marodierenden Truppen des Islamischen Staats - die nicht zuletzt mit Geldern aus Saudi-Arabien aufgebaut wurden.

Und die Kritik trifft nicht nur die Politiker. Sondern auch die Idole. Der FC Bayern trat nur wenige Tage nach der öffentlichen Auspeitschung zum Freundschaftsspiel gegen Saudi-Arabiens Fußballer von „Al-Hilal“ in Riad an – das empörte nicht nur die Bayern-Fans. Karl-Heinz Rummenigge: „Es wäre besser gewesen, das (Anm.: Die Auspeitschung) im Rahmen unseres Spiels in Saudi-Arabien deutlich anzusprechen“. Laut Süddeutsche Zeitung hat der Verein für den Auftritt von seinem Partner Volkswagen eine siebenstellige Summe erhalten. Das spricht Rummenigge nicht an.

An dem Donnerstag, an dem die Menschen sich vor den Botschaften aufstellen, ist absehbar, dass die Auspeitschung von Badawi zum zweiten Mal ausgesetzt werden wird. Ein Team von Ärzten hat eindringlich gewarnt. Seine Wunden seien so tief , dass er eine weitere Folterrunde nicht überleben würde.

Die Bestrafung wurde gestoppt - heißt es.

Am gleichen Tag berichtet das Medienmagazin ZAPP, dass eine E-Mail des saudischen Botschafters Ossama bin Abdul Majed Shobokshi aus Berlin vorliege. Er schreibt: "Die Bestrafung von Herrn Raif Badawi wurde, wie ich verstanden habe, gestoppt. Er wird keine Peitschenhiebe mehr erhalten. Ich nehme an, dass Herr Badawi, nachdem die Auspeitschung gestoppt wurde, nicht zehn Jahre in Haft bleiben wird." In der darauffolgenden Nacht stirbt der saudische König Abdullah.

Heute ist der 23. Januar. Und alle halten kurz den Atem an. Wie geht es jetzt weiter? Denn selbst wenn der ungewöhnliche Fall eintreten sollte, dass die Moralpolizei in Saudi-Arabien den Blogger Raif Badawi nicht weiter auspeitscht, womöglich sogar seine Haftstrafe verkürzt, ist das Problem nicht aus der Welt und die Geschichte lange nicht vorbei.

Sie beginnt auch nicht im Mai 2014, sondern 2008. Badawi lebt mit seiner Ehefrau Ensaf Haidar, seinen beiden Töchtern und dem Sohn in Dschidda. Seit er gemeinsam mit der Frauenrechtlerin Souad al-Shamari (Foto rechts) das Forum „Liberal Saudi Network“ für Debatten über Religion und Politik in Saudi-Arabien eingerichtet hat, haben die Behörden ihn und seine Mitstreiterin im Visier. 2009 erlassen sie ein Reiseverbot und frieren seine Konten ein. 2011 erheben sie Anklage, unter anderem, weil Badawi Muslime, Christen, Juden und Atheisten für "gleichwertig" erklärt hatte.

Badawi sei ein "Ungläubiger", warfen ihm die Rechtsgelehrten daraufhin vor. Er sei vom Islam abgekommen. Darauf steht die Todesstrafe. Badawi ließ sich nicht einschüchtern: Er rief den "Tag für saudische Liberale" aus, am 7. Mai 2012, inklusive einer Konferenz. Am 17. Juni 2012 nahmen die Behörden ihn fest. Im Dezember wurde das Verfahren eröffnet. Die Behörden verurteilten Badawi zu 150 Peitschenhieben und sieben Jahren Haft. Badawi hatte den Mut, Einspruch zu erheben. Sein Anwalt ging in Berufung. Daraufhin wurde seine Strafe im Mai 2014 erhöht: 1.000 Peitschenhiebe, 10 Jahre Haft.

Zu diesem Zeitpunkt war Badawis Familie schon lange im kanadischen Exil. Kurz vor seiner Verhaftung hatten Badawi und seine Frau Ensaf gemeinsam entschieden, dass sie und die Kinder flüchten sollen. Badawi selbst wollte zwei Monate später nachkommen. Aber dazu kam es nicht.

Ensaf kämpft wie eine Löwin für die Freilassung ihres Mannes.

Heute lebt Ensaf Haidar in dem Städtchen Sherbrooke nahe Québec und kämpft wie eine Löwin für die Freilassung ihres Mannes. „Ich bin am Boden zerstört“, sagt sie. „Aber soll ich mich in die Ecke setzen und weinen?“ In dieser Woche hat sie sich mit einem Hilferuf an Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel und Außenminister Frank-Walter Steinmeier gewandt. Gabriel reist Anfang März mit einer Wirtschaftsdelegation nach Riad zur 19. Sitzung der deutsch-saudischen Wirtschaftskommission. Auch Steinmeier plant eine Reise in den Golfstaat. „Meine Kinder und ich appellieren an Sie, alles in Ihrer Macht stehende zu unternehmen, damit die saudischen Behörden meinen Ehemann freilassen und alle Anklagepunkte gegen ihn fallenlassen“, schreibt die 35-Jährige.

Die Beziehung von Ensaf und Raif erzählt viel über das Leben und Denken des Aktivisten in dem strikten Gottesstaat. „Wir waren wir Romeo und Julia“, erzählte Ensaf kürzlich dem Guardian. Zufällig haben sie sich kennengelernt, weil Ensaf sich gelegentlich das Handy ihres Bruders auslieh – und eines Tages war Raif dran. Die beiden telefonierten heimlich und warfen sich verstohlene Blicke zu. Alleine das schon war ein immenses Risiko für beide. Als Ensafs Eltern von der Verliebtheit ihrer Tochter erfuhren, verboten sie ihr den Kontakt. Aber Raif hielt um Ensafs Hand an. 2002 heirateten die beiden. Ihre Hochzeitsreise ging nach Syrien, lange bevor auch hier die Gottesstaatler begannen, nach der Macht zu gieren - und auf die arabische Revolution ein blutiger Bürgerkrieg folgte. Von dieser Reise hängen Fotos in Ensafs Wohnung im sicheren Kanada: Die junge Frau sitzt unverschleiert neben ihrem Mann und raucht Shisha. In Saudi Arabien würde sie dafür sofort ins Gefängnis geworfen. Ensaf ist sich sicher, dass sie und Badawi eines Tages gemeinsam in Kanada leben werden. Dafür kämpft sie weiter.

Bis zuletzt hat auch Souad Hamour al-Shammary gekämpft, die Frau, die zusammen mit Badawi das Online-Forum geführt hat. Noch im September gab sie ein Interview, in dem sie dessen Verurteilung scharf kritisierte: „Selbst den schrecklichsten Terroristen droht nicht so eine harte Strafe!“ Shammary ist islamische Rechtsgelehrte, sie hat eine Mädchenschule in Jeddah geleitet. Sie ist eine im arabischen Raum bekannte Frauenrechtlerin. Zuletzt hat sie sich an den nun verstorbenen König Abdullah gewandt und um die Begnadigung zweier Frauen gebeten. Deren Vergehen bestand darin, ein Taxi mit einem männlichen Fahrer zu nehmen. Dafür gingen sie ins Gefängnis.

Aber es war vor allem ihre scharfe Zunge, die Shammary zum Verhängnis wurde. Auf Twitter postete sie ein Foto von einem Mann, der die Hand eines bärtigen Mullahs küsste. Dazu schrieb sie: „Beachtet die Eitelkeit und den Stolz auf seinem Gesicht, jetzt, wo er einen Sklaven gefunden hat, der ihm die Hand küsst.“

Am 28. Oktober verhaftete die Sittenpolizei auch Shammary. Ihre angeblichen Verbrechen u.a.: Befreiung der Frauen, Aufruf zur Rebellion gegen die Geistlichen und die Forderung, Religion und Staat zu trennen. Und die Verwendung folgender Begriffe zur Beschreibung der saudischen Gesellschaft: maskulin, patriarchal, verschlossen, verbunden mit den Muslimbrüdern und dem Islamischen Staat.

Am 28. Oktober verhaftete die Sittenpolizei auch Shammary.

Von Shammarys Verbleiben hört die Weltöffentlichkeit nichts. Auch Badawis Schwager, der Menschenrechtsanwalt Waleed Abu al-Kahir, sitzt im Gefängnis. Er war Leiter der Organisation „Monitor für Menschenrechte in Saudi-Arabien“. Und der Anwalt von Badawis Schwester Samar, die er schließlich heiratete. Samar Badawi kennt man nicht nur in Saudi-Arabien. 2012 zeichneten Michelle Obama und Hillary Clinton die damals 31-Jährige mit dem "Preis für mutige Frauen" in Washington aus.

Samar ist mehr als mutig: Sie hat das saudi-arabische Innenministerium verklagt, das Wahlrecht für Frauen eingefordert und das Recht, ein Auto zu fahren. Und sie hat sich gegen ihren Vater gestellt, der sie jahrelang misshandelt und gedemütigt hat. Auch den hat die junge Frau verklagt. Und ging sieben Monate ins Gefängnis, weil sie ihrem Patron nicht gehorchte. Ihr Bruder Raif hat damals vor Gericht gegen den Vater ausgesagt. Jetzt setzt sie sich für seine Befreiung ein.

Die Anzahl der MenschenrechtsaktivistInnen, die insgesamt in den saudi-arabischen Gefängnissen sitzen und mutmaßlich gefoltert werden ist unbekannt.

Alexandra Eul

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Stopp Folter: Stockschläge gegen Blogger stoppen -  Amnesty International 

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Petition zur Befreiung von Souad Al-Shammary
 

 

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Saudi-Arabien haram!

Szene bei einer Moschee in Riad.
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Enthauptungen auf öffentlichen Plätzen: Dies ist die Methode der Wahl bei Hinrichtungen in Saudi-Arabien. Überproportional häufig trifft dieses Schicksal Ausländerinnen, die in dem Land als Hausangestellte arbeiten. Etwa Rizana Nafeek. Sie stammte aus Sri Lanka und war 17 Jahre alt, als sie am 9. Januar 2013 geköpft wurde. Ein vier Monate altes Baby war unter ihrer Aufsicht erstickt. Nach einem Hustenanfall, wie sie sagte. „Es war Mord“, behauptete die Familie. Gerichtsverfahren in dem Königreich am Golf sind meist eine Farce; so auch in diesem Fall. Rizana Nafeek sprach kaum Arabisch, bekam aber keinen Übersetzer. Weder Anklage noch Gutachter kamen zu Wort. „Mord“, lautete das Urteil; die Strafe für die Minderjährige: der Tod.

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Aus Protest zog damals Sri Lanka seinen Botschafter ab. Dies sorgte für Aufmerksamkeit, führte zu dem längst fälligen internationalen Aufschrei, der jedoch schnell wieder verhallte. Aus gutem Grund. Saudi-Arabiens Königshaus kontrolliert die größten Erdölvorkommen der Welt; produziert den höchsten Anteil dieses zentralen Treibstoffes unserer westlichen Zivilisation. So recht passt es da nicht ins Konzept, allzu heftig mit den diplomatischen Türen zu knallen.

Daran änderte auch nichts, dass in keinem Land der Welt Frauen mit Billigung der Machthaber so brutal behandelt werden wie in Saudi-Arabien. Es trifft auch alle neun Millionen Staatsbürgerinnen, aber mit besonderer Heftigkeit die etwa 700 000 Arbeitsmigrantinnen aus Asien und Afrika. (...)

Der vollständige Artikel steht in EMMA Juli/August 2014.

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