„Seelische Symptome sind Beweise“

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Herr Professor Seidler, der Berufsstand der Traumatologen ist im Zusammenhang mit dem Massaker in Oslo gerade in aller Munde. Vor ein paar Monaten fiel à propos des Kachelmann-Prozesses in den Medien im Zusammenhang mit Ihrer Zunft noch der Begriff „Glaubensgemeinschaft“ und Kachelmanns Verteidiger Schwenn hielt Ihnen „scharlatanesk“ anmutendes Verhalten vor. Die Meinungen zum Berufsstand der Traumatologen gehen anscheinend stark auseinander.
Günter H. Seidler Nur scheinbar. Im Fall Kachelmann haben Teile der Medien und die Verteidigung in der Tat versucht, mich massiv zu diskreditieren. All gemein jedoch ist der Berufsstand der Traumatologen seit Jahrzehnten anerkannt.

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Sie standen ja in doppelter Funktion im Fokus des Kachelmann-Prozesses: als Traumatologe, also Experte für Traumafolgen, und als Therapeut von Claudia Dinkel, die ihren Ex-Freund der Vergewaltigung bezichtigte. Was Sie in den Augen so mancher schon disqualifiziert hat. Was haben Sie aus dem Prozess – vom Landgericht Mannheim wurde Kachelmann freigesprochen – gelernt?
Ich habe aus dem Prozess gelernt, dass in einer solchen Konstellation – sozial stärkerer Angeklagter und sozial schwächere Nebenklägerin – strukturell die Nebenklägerin die schlechteren Karten hat. Man muss sich einfach klar machen: Wir leben in einer täterorientierten und tätergestalteten Welt. Wer steht an der Spitze der Justiz, der Verwaltung, der Wissenschaft, in Kliniken, in Parteien, also in allen großen Einrichtungen? Menschen, die es geschafft haben, sich durchzusetzen. Das entscheidende Kriterium dafür, dass jemand Karriere macht, ist ja möglicherweise nicht so sehr inhaltliche Kompetenz. Sondern er muss es schaffen, andere Menschen aus dem Weg zu räumen. Bei uns in Deutschland nicht mit der Pistole. Aber er muss andere „kalt stellen“ und ausbooten, zum Beispiel manchmal über Intriganz. Auf diese Weise kommen Leute, natürlich ganz überwiegend Männer, an die Spitze von Einrichtungen und machen dort Regularien für den Rest der Gesellschaft.

Würden Sie im Rückblick im Fach Kachelmann etwas anders machen?
Ja. Wenn ich in einem Prozess als Zeuge aufgerufen werden könnte, würde ich der Patientin oder dem Patienten erklären: „Wenn Sie beabsichtigen, mich von der Schweigepflicht zu entbinden, dann ist an dieser Stelle die Behandlung zu Ende.“ Dabei ist nicht der Punkt, dass es ein Befangenheitsproblem vor Gericht gäbe, denn das gibt es meiner Ansicht nach nicht. Das Problem entsteht, wenn Patientin und Therapeut den gleichen Prozeduren ausgesetzt sind. Dann gibt es ein Befangenheitsproblem in der nachfolgenden Therapie. Wir waren beide Zeugen vor Gericht, ich war also in der gleichen Situation wie Frau Dinkel und hatte es dann sehr schwer, wieder in die neutrale Position des Therapeuten zurückzufinden. Auch ich war empört über das, was sich da abgespielt hat.

Es ist Ihnen ja ergangen wie vielen, die Berührung mit dem mutmaßlichen Opfer hatten: Sie wurden zum Opfer erheblicher Angriffe durch die Verteidigung und der mit ihnen sympathisierenden Medien.
Ja. Und wenn man ebenfalls strukturell in eine Opferrolle gerät – wobei ich meine Erfahrung und die von Frau Dinkel in dem Prozess nicht vergleichen möchte – macht das eine Therapie nahezu unmöglich.

Ein Grund für die Attacken auf die Psychotraumatologie ist vermutlich, dass sie sich so stark für Frauen interessiert, die geltend machen, Gewaltopfer geworden zu sein.
Das stimmt. Und damit macht man sich in bestimmten Kreisen unbeliebt. Dafür kriegt man Ärger. Dabei weiß ich als Kliniker nicht, was sich abgespielt hat. Das habe ich auch nie behauptet, auch wenn mir das unterstellt wurde. Ich habe lediglich gesagt: Alle Symptome deuten darauf hin, dass Frau Dinkel Todesangst hatte. Und ich bin der Meinung, dass seelische Symptome dieselbe Beweiskraft haben wie Körperverletzungen. Ein weiterer Grund, warum die Psychotraumatologie angefeindet wird, ist ihre Grundaussage: Wenn es dicke genug kommt, ist jeder Mensch ungeschützt und erwischt es jeden! Das hat die herkömmliche Psychotherapie so nicht gesagt. Die ging ja davon aus, dass seelische Störungen aus Kindheitserfahrungen oder unbewussten Kindheitskonflikten resultieren, die wir durchanalysierten Therapeuten heute nicht mehr haben. Uns kann das nicht mehr erwischen, wir sind immun, wir stehen drüber. Daraus ergibt sich natürlich auch eine gewisse subjektive Überlegenheit der Therapeuten über die Patientinnen und Patienten. Sensible TraumatherapeutInnen merken, dass sich ihre Haltung ihren PatientInnen gegenüber verändert: Das wird eher ein Verhältnis auf Augenhöhe.

War es nicht ein Fehler, dem Gericht die Therapieprotokolle zur Verfügung zu stellen und damit ja auch dem etwaigen Täter?
Es gab keine andere Möglichkeit. Die Protokolle hätten im Extremfall beschlagnahmt werden können.

Aber es gibt doch ein Therapiegeheimnis.
Ja, aber Frau Dinkel hatte mich ja von der Schweigepflicht entbunden. Und das galt dann auch für die Aufzeichnungen aus der Therapie.

Hatten Sie ihr dazu geraten, Sie von der Schweigepflicht zu entbinden?
Nein, aber ich war damit einverstanden. Für mich war es naheliegend, meine Informationen, die ja aus erster Hand stammten, dem Gericht zur Wahrheitsfindung zur Verfügung zu stellen. Dass das bedeutete, dass damit auch die Verteidigung Zugang zu den Protokollen bekommt, hatte ich mir nicht klargemacht. Und das hat mir auch niemand gesagt.

Hatte der Prozess Auswirkungen auf Ihre anderen Patientinnen oder Patientinnen von KollegInnen?
Ich sehe zwei Auswirkungen, eine positive und eine negative. Zum einen scheinen heute mehr Frauen bereit, sich einem Therapeuten anzuvertrauen. Das höre ich auch aus dem Kollegenkreis. Das Gefühl: „Ich habe nach einer Vergewaltigung das Recht, mir Hilfe zu holen“, scheint stärker geworden zu sein. Andererseits sieht es so aus, dass es eine größere Scheu gibt, gerichtlich gegen den Täter vorzugehen. Das Anzeigeverhalten scheint zurückzugehen.

Ab wann genau nennen Sie ein Erlebnis ein Trauma?
Meine Mitarbeiterinnen, Mitarbeiter und ich plädieren dafür, mit dem Traumabegriff zurückhaltend umzugehen, um ihn nicht zu inflationieren. Denn das ginge zu Lasten derer, denen wirklich der Himmel auf den Kopf gefallen ist. Wenn jede kleine Kränkung Trauma genannt wird, wird man denen nicht gerecht, die im Krieg oder im zivilen Leben durch Vergewaltigung oder andere kriminelle Taten, durch Unfälle oder Naturkatastrophen mit Lebensgefahr in Berührung gekommen sind. Wir definieren ein traumatisches Ereignis als eines, das mit Lebensgefahr und Todesangst einhergeht. Die Erfahrung von Ohnmacht ist der Leitaffekt. Das Gefühl, dass einem der Boden unter den Füßen wegrutscht. Ich würde die Definition um ein weiteres Merkmal erweitern: Ein traumatisches Erlebnis kann dadurch geprägt sein, dass jemand einen anderen existentiell auslöschen will. Und das kann auch verbal passieren: durch chronische Entwertungen, Demütigungen oder Todwünschungen. Und in meinem Verständnis ist die Traumaspur, die in der Seele der betroffenen Person bleibt: Ich bin kein erwünschtes Mitglied dieser menschlichen Gesellschaft. Ich sollte eigentlich tot sein. Das erklärt das Phänomen der Entfremdung: Traumatisierte Menschen fühlen sich nie mehr ganz zugehörig.

Mit einer solchen Erfahrung geht ja jeder Mensch anders um.
Aus einem solchen Erlebnis kann sich eine Traumatisierung, also eine seelische Verwundung, entwickeln – sie muss es aber nicht. Ob das passiert, das hängt erstens davon ab, welche Ressourcen, also Kraftquellen, jemand mitbringt. Und zweitens von der Wucht des Ereignisses. Man geht davon aus, dass insgesamt 35 bis 45 Prozent aller Menschen, die in einer lebensgefährlichen Situation waren, eine Posttraumatische Belastungsstörung entwickeln. Und man weiß, dass Frauen doppelt so gefährdet sind wie Männer, nach einem Ereignis eine Störung zu entwickeln.

Was weiß die Forschung über die Traumafolgen einer Vergewaltigung?
Vergewaltigung führt in nahezu hundert Prozent der Fälle zu einer Traumafolgestörung, weil sie alle Ressourcen über den Haufen wirft und extrem überwältigend ist. Bei Verkehrsunfällen liegt die Wahrscheinlichkeit einer Posttraumatischen Belastungsstörung bei vier bis zehn Prozent. Andere Ereignisse liegen im Mittelbereich.

Welche Symptome entwickelt ein traumatisierter Mensch?
Es gibt eine ganze Reihe von Traumafolgestörungen, aber die sind sehr individuell. Im Zentrum der Posttraumatischen Belastungsstörung stehen Erinnerungsstörungen, die verschiedene Formen annehmen können. Es kann zum Beispiel sein, dass jemandem bestimmte Wahrnehmungen des Ereignisses – sei es optisch, akustisch oder sonstwie – immer wieder überdeutlich in den Sinn kommen. Dass einem zum Beispiel Bilder immer wieder vor Augen treten. Es kann auch passieren, dass sich die in der traumatischen Situation erlebten – oder besser: abgespaltenen – Affekte wiederholen. Jemand hat zum Beispiel dann später extreme Angstzustände bis hin zur Todesangst, ohne dass dazu Bilder vorhanden sind. Eine weitere Form der Erinnerungsstörung ist das Vergessen, die Amnesie. Man erklärt sich das so, dass in der Situation häufig etwas stattfindet, das man Dissoziation nennt. Wenn jemand in dieser bedrohlichen Situation alles bewusst erleben würde, würde er oder sie vermutlich vor Angst sterben. Bewusstseins-Inhalte werden deshalb auseinandergerissen. In der Anamnese sagt die Frau dann zum Beispiel: „Dann löste sich meine Seele aus meinem Körper, ich schwebte über den Dingen und fragte mich: Was machen die da unten?“ Es gibt also schon in der Abspeicherung des Ereignisses eine Störung. Beim Abspeichern wird nicht eine Gesamtgestalt des Ereignisses gebildet, bei der die verschiedenen Sinneskanäle sich mit Sprache verknüpfen. Und dann gibt es im Nachhinein Zugriffs-Störungen: Das Opfer kann das Ereignis nicht verbal referieren, also keinen geschlossenen Bericht darüber abgeben. Das sieht dann so aus, als ob bestimmte Elemente vergessen worden seien. Gefühlsmäßig können sie aber durchaus erinnert werden, zum Beispiel über Angst. Insbesondere in einer erneuten Situation von Sexualität oder von Nähe.

In einem Dokumentarfilm über die Odenwaldschule hat ein ehemaliger Schüler eine sehr interessante Geschichte erzählt. Der Mann ist eines der Opfer und hat jahrelang gegen große Widerstände dafür gekämpft, die Vorfälle zur Sprache zu bringen. Kurz vor dem Tod von Gerold Becker ist er in dessen Wohnung gegangen, um ihn zur Rede zu stellen. Becker war bereits todkrank, hat die Hände hinter dem Kopf verschränkt und lächelnd gesagt „Es war eine schöne Zeit!“ Und dieser erwachsene Mann, der im Film sehr selbstbewusst wirkte, hat ihn knapp 20 Jahre nach den Taten nicht zur Rede stellen können. Er ist, ohne ein Wort zu sagen, wieder gegangen. Wie kann das sein?
In der Fachsprache würde man sagen: Er war im selben „State“, also im selben ohnmächtigen Zustand wie damals, als die Dinge passierten. Und aus dem Zustand kam er nicht raus, weil der so stark „getriggert“ wurde, das heißt: Die direkte Begegnung mit dem Täter war ein so starker Auslöser für das Gefühl. Das ist im übrigen die gleiche Situation wie in einer Gerichtsverhandlung: Da sitzt eine vergewaltigte Frau vor einer Reihe Menschen, meistens Männer, die dunkel gewandet sind und erhöht sitzen. Das ist auch für Nicht-Traumatisierte schon eine angstmachende Situation. Jetzt aber ist auch noch der Täter mit im Raum, dem die Frau womöglich zum ersten Mal nach der Tat begegnet. Der sitzt nur ein paar Meter weiter. Da ist es sehr schwer, kohärent über das zu berichten, was sich abgespielt hat. Das ist eine strukturelle Schieflage, in der das Opfer von der Machtverteilung her benachteiligt ist.

Was kann ein Gerichtsverfahren, zumal, wenn es sich so abspielt wie im Kachelmann-Prozess, für Auswirkungen auf das mutmaßliche Opfer haben?
Man weiß zum Beispiel, dass Menschen, die vorher schon einmal traumatisiert worden sind, ohne dass sich daraus eine Posttraumatische Belastungsstörung entwickelt hat, bei einem zweiten traumatisierenden Ereignis gefährdet sind, eine solche Störung zu entwickeln. Und ein Prozess kann ein zweites Trauma sein. Und man weiß, dass der Umgang mit der verletzten Person nach dem von ihr geschilderten Ereignis ein Prädiktor, also ein Vorhersage-Merkmal dafür ist, ob sich eine Posttraumatische Belastungsstörung entwickelt oder nicht. Nach meiner klinischen Erfahrung ist das sogar häufig entscheidender als das Ereignis selbst. Und wenn es dann auch noch so ist, dass die Verarbeitung nicht mit dem Ereignis beginnen kann, sondern sich noch über Monate eine Gerichtsverhandlung anschließt, dann ist es für die betroffene Person nahezu unmöglich, das Ereignis als abgeschlossen zu erleben und mit der „Heilung“ zu beginnen. Ganz im Gegenteil: Die Wunden werden immer wieder aufgerissen. Und möglicherweise werden sie sogar noch vertieft: durch Ohnmachtserfahrungen, Marginalisierungen oder Vorwürfen wie dem einer Falschbeschuldigung.

Das heißt: Ein Täter hätte es viel leichter, in Berufung zu gehen, wenn er auf eine mildere Strafe hofft, denn er hätte nichts zu verlieren. Ein Opfer hingegen hätte zu befürchten, dass sich das Trauma verstärkt.
Genau. Das ist die völlige Schieflage in einem solchen Verfahren.

Gibt es einen Unterschied bei den Symptomen zwischen Menschen, die von Unfällen oder Naturkatastrophen traumatisiert wurden und Traumatisierten durch sexuelle Gewalt?
Da ist die Traumaforschung noch in den Anfängen. Was man weiß, ist, dass Menschen, die Opfer von technischen oder Naturkatastrophen werden, leichter therapierbar sind als Opfer sogenannter „manmade disasters“, also von Gewalt durch Menschen. Das ist naheliegend, denn erstens kommt es bei Katastrophen oft zu einer Solidarisierung der Opfer untereinander sowie der Öffentlichkeit mit den Opfern. Wenn jemand Opfer von Gewalt durch einen anderen Menschen wurde, macht das Therapie allein schon deshalb schwierig, weil das Opfer in der Therapie auch einem Menschen gegenüber sitzt. Aber ein Mensch war während der Gewalttat sein größter Feind. Da ist Urvertrauen verloren gegangen. Und bei einer Vergewaltigung ist auch noch der intimste Bereich betroffen. Da ist ein Mensch sehr verwundbar. Und ganz besonders verwundet wird jemand, wenn die Tat durch jemanden geschieht, dem er vorher Vertrauen geschenkt hatte.

Sie leiten die Sektion „Psychotraumatologie“ an der Heidelberger Uni-Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik. Was genau tun Sie dort?
Diese Sektion hat zwei Schwerpunkte: die Forschung und eine Trauma-Ambulanz, in der meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und ich PatientInnen diagnostizieren, die sich nach Gewaltereignissen an uns wenden. Im Forschungsbereich arbeiten wir aktuell mit japanischen Universitäten zusammen. Da geht es um einen Punkt, der in der Psychotraumatologie häufig vergessen wurde: Nach Großschadensereignissen wie Tsunamis oder Erdbeben ist sehr schnell eine große Anzahl bereitwilliger Helfer vor Ort. Die treten sich meistens auf die Füße, viele sind psychotraumatologisch nicht ausreichend ausgebildet und dann sehr schnell wieder weg. Das haben wir in Pakistan nach der Flutkatastrophe gesehen oder nach dem Erdbeben in Haiti. Aber danach ist die Zivilgesellschaft zusammengebrochen. Zum Beispiel ist für die Hilfsorganisationen meist nicht das größte Problem, die Bevölkerung mit Nahrungsmitteln zu versorgen, sondern das größte Problem sind die Massenvergewaltigungen. Dieses Phänomen gibt es nicht nur in oder nach Kriegen, sondern eben auch nach solchen Katastrophen. Was man also braucht, sind Pläne und Handlungsleitfäden für den Aufbau einer Zivilgesellschaft nach Großkatastrophen. Ein zweites Forschungsprojekt ist eine Kooperation mit Vietnam, gemeinsam mit dem Medizinhistoriker Wolfgang Eckart, der sich auch für die Gewaltfolgen in Gesellschaften interessiert. Also in diesem Fall: Wie sieht eine Gesellschaft 40 Jahre nach dem Krieg aus? Durch Besuche in Vietnam wissen wir, dass es ein großes totgeschwiegenes Problem gibt: Man weiß, dass in Vietnam 58 000 US-Soldaten gefallen sind, und die überlebenden US-Veteranen sind wahrscheinlich die am besten untersuchte Patientengruppe der Welt. Dass es aber auch auf vietnamesischer Seite eine um vieles größere Anzahl Gefallene und Getötete gab und riesige Verluste in der Zivilbevölkerung, an der unglaubliche Gewalthandlungen verübt wurden, wird nicht wahrgenommen. Und niemand beschäftigt sich mit der Frage: Was kann man diesen Überlebenden zur Verfügung stellen? Die Generation lebt ja noch, ist drogenkrank, alkoholabhängig, kämpft mit Alpträumen und Gewalt in den Familien. Unter einem solchen kollektiven Trauma leidet auch Russland, und möglicherweise auch die deutsche Gesellschaft, mittlerweile in dritter und vierter Generation.

Sind die Traumafolgen der Kinder und Enkel von deutschen Tätern und Opfern eigentlich erforscht? Welche Leiden könnten bei denen heute noch vorhanden sein?
Man weiß, dass es so etwas wie eine transgenerationale Traumatisierung gibt. Wenn also die Mutter hyper-aroused, also dauernd sehr aufgewühlt ist, kann sie sich natürlich nicht
empathisch dem Kind zuwenden und gibt diese ständige Angstbereitschaft und Aufgewühltheit an ihre Kinder weiter. Es geht aber noch weiter: Es gibt glaubhafte Berichte darüber, dass Menschen die Intrusionen ihrer Eltern, also deren Erinnerungen und Bilder, im Kopf haben, ohne sie selbst erlebt oder gesehen zu haben. Das Phänomen ist aus der Holocaust-Forschung bekannt. Margarete und Alexander Mitscherlich haben ja in ihren Buch „Die Unfähigkeit zu trauern“ für die deutsche Nachkriegsgesellschaft das beschrieben, was wir Psychotraumatologen heute als Dissoziation beschreiben würden: Augen zu und durch. Ärmel hochkrempeln. Was aber bedeutet das nun für die Kinder, wenn sie von Menschen aufgezogen werden, die nicht trauern dürfen und bestimmte Teile ihrer Seele abgeschaltet haben? Ich gehe davon aus, dass traumatisierte Eltern möglicherweise überdurchschnittlich häufig Kinder mit Persönlichkeitsstörungen hervorbringen. Also Menschen, die sich schwer tun, anderen zu vertrauen, Verantwortung zu übernehmen, die eigenen Affekte zu regulieren. Ich könnte mir vorstellen, dass sich diese Nachkriegskinder – und das ist die Generation, die heute gesellschaftlich Verantwortung trägt – mit den Wunden ihrer Eltern herumschlagen. Es wäre höchste Zeit, das zu erforschen.

Kommen wir nochmal zum heutigen Geschehen. Ihre Trauma-Ambulanz sitzt in Heidelberg mit an einem Runden Tisch, den der Frauennotruf initiiert hat. Wie funktioniert diese Vernetzung?
Wir sind über einige Mitarbeiterinnen vernetzt mit den lokalen Opferschutz-Einrichtungen. Zur Zeit ist eine Kollegin dabei, eine Form von Gruppentherapie für Frauen zu entwickeln, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind und von Kliniken nicht für behandlungsbedürftig befunden wurden oder nicht in eine Klinik gehen möchten – was ich für sinnvoll halte.

Warum?
Kliniken sind bedauerlicherweise häufig nicht eingestellt auf akut Traumatisierte. Vielleicht können sie es auch nicht sein, weil sie keine Spezialeinrichtung haben können, die darauf wartet, dass ein Flugzeug vom Himmel fällt. Wenn dann eine Frau nach einer Vergewaltigung auf einer geschlossenen Psychiatrie-Station aufgenommen wird, weil sie suizidal ist, dann sitzt sie neben einer Manikerin, einem akut Schizophrenen, einem Dementen, einem Alkoholkranken …

… und möglicherweise einem Sexualverbrecher?
Möglicherweise auch das. Das wird ihr nicht so richtig gut tun. Und wenn sie noch einigermaßen klar ist, läuft sie schreiend weg. Es gibt einen echten Versorgungsnotstand im stationären, aber auch im ambulanten Bereich für akut Traumatisierte, und insbesondere für akut traumatisierte Opfer sexueller Gewalt.

Sie haben ein Buch über „Scham“ geschrieben. Was interessiert Sie an diesem Thema?
Das Buch ist 1995 erschienen, und heute weiß ich: Ich habe damals Trauma-Konfigurationen beschrieben. Denn es gibt zwischen Scham- und Traumasituationen sehr viele Gemeinsamkeiten: das Element der Plötzlichkeit, des Bloßgestelltseins, des Ausgeliefertseins, der Grenzverletzung, des Überwältigseins, des Keine-Worte-Findens. Darüber hinaus spielt bei Traumatisierten Scham häufig eine wichtige Rolle.

Gerade ist ihr „Handbuch der Psychotraumatologie“ erschienen. An wen richtet sich das Buch?
Es richtet sich an die Fachwelt, wir haben aber darauf geachtet, dass es auch für interessierte Laien lesbar und zugänglich ist. Unser Anliegen ist, zwischen zwei Buchdeckeln so weit wie irgend möglich das gegenwärtig in Deutschland verfügbare Wissen der Psychotraumatologie zusammenfassend
darzustellen.

Gibt es da Nachholbedarf für Deutschland?
Ja. Deutschland hinkt im Vergleich mit anderen Ländern hinterher.

In welchen Ländern ist die Psychotraumatologie eigentlich am weitesten?
In den USA, in den skandinavischen Ländern und in den Benelux-Ländern. Das hat historische Gründe, weil dort sehr viel Veteranen-Forschung bzw. Holocaust-Forschung betrieben wurde.

Es ist auffallend, dass dies auch die Länder mit den stärksten Frauenbewegungen sind.
Zu der Entwicklung der Traumaforschung haben feministische Forscherinnen wie Susan Brownmiller oder Judith Herman doch entscheidende Impulse gegeben. Ja, die Frauenbewegung ist ein dritter Faktor. Allerdings hat es lange praktisch keinen Austausch zwischen den Erkenntnissen der Frauenbewegung und denen der Traumaforschung gegeben. Die Entwicklung lief und läuft teilweise parallel. Das Buch von Judith Herman „Die Narben der Gewalt“ zum Beispiel ist in der Traumatologen-Szene durchaus bekannt. Aber sie wird nicht als Feministin gesehen.

Eine Vernetzung, wie Sie sie in Heidelberg zwischen Frauennotruf und Trauma-Ambulanz haben, lässt allerdings hoffen.
Ja, aber solche Netzwerke sind selten. Und je höher Sie zum Beispiel in den Hierarchien kommen, desto weniger wird die Traumatologie gefördert. Getragen wird die Psychotraumatologie von den Patientinnen und Patienten, die eine solche Versorgung immer mehr einfordern.

Das Gespräch führten Chantal Louis und Alice Schwarzer

Zur Person
Der Psychiater und Psychotherapeut leitet an der Uni Heidelberg die „Sektion Psychotraumatologie“, wo er forscht und therapiert. Er hat an der Klinik eine Traumaambulanz initiiert, ist vernetzt mit Opferschutzorganisationen und sitzt am Runden Tisch mit Polizisten und Juristen.

Der 1951 in Schleswig geborene Günter Harry Seidler veröffentlichte 1995 ein Standardwerk über Scham: „Der Blick des Anderen“, das auch in den USA Aufsehen erregte. Er ist Gründer und Herausgeber der Fachzeitschrift „Trauma und Gewalt“ (www.traumaundgewalt.de).

Im Herbst 2011 publiziert er zusammen mit Kollegen ein „Handbuch der Psychotraumatologie“ (www.handbuch-psychotraumatologie.de), 2012 erscheint sein „Lehrbuch der Psychotraumatologie“.
 

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