Alice Schwarzer schreibt

Die Opfer im Blick: „Utøya 22. Juli“

Eindrücklich: Hauptdarstellerin Andrea Berntzen als Kaja
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Nicht nur für die Norweger erinnert das Datum an das unvorstellbare Grauen im Jahre 2011: Damals jagte der Rechtsradikale Anders Breivik auf der kleinen Insel Utøya bei Oslo mit dem Sturmgewehr rund 560 Jugendliche. Er erschoss 67 Menschen und traumatisierte die Überlebenden und deren Familien. Über den Täter ist viel berichtet worden. Über seine Opfer nicht. Da erfahren wir eigentlich erst jetzt zum ersten Mal: Wer sie waren, was sie in diesen 71 Minuten Hetzjagd erlebt, gedacht, gefühlt haben.

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Der Film ist frei von jeglicher Faszination für den Täter und die Gewalt

Der Regisseur Erik Poppe lässt uns das Unbegreifliche auf die vielleicht einzig adäquate Art miterleben: Sein Kameramann Martin Otterbeck drehte das rekonstruierte Geschehen in Echtzeit und in einem einzigen Take. Er bleibt in der ganzen Zeit auf den Spuren von Hauptdarstellerin Kaja, beklemmend eindrücklich gespielt von der 18-jährigen Andrea Berntzen.

Sie ist eine fiktive Figur, jedoch typisch für die Mädchen und Jungen in dem Feriencamp der sozialistischen Partei: Kaja ist mitfühlend und engagiert, ganz wie ihr Regisseur. Sie sucht im Kugelhagel ihre Schwester; versucht, andere zu trösten und zu retten; und spricht im Moment größter Not von ihrem Traum: in die Politik zu gehen und Präsidentin zu werden. Der Film ist frei von jeglicher Faszination für den Täter und die Gewalt. Er ist ganz dicht bei Kaja und den anderen (alle sehr überzeugend!) und zeigt, wie das gehen kann: Nicht den Täter mystifizieren, sondern an die Opfer erinnern.

Als der Film auf der Berlinale gezeigt wurde, schrieb der Spiegel, er ließe „ethische und formale Fragen offen“. Das Gegenteil ist der Fall: Er beantwortet sie. Vermutlich kann es nur so gehen. Großartig!"

Aktualisierung: Kurz nach dem Norweger Erik Poppe hat auch der britische Regisseur Paul Greengrass ("The Bourne Identity") das Massaker verfilmt. Er hat einen anderen Ansatz gewählt: Greengrass zeigt das Geschehen aus drei Perspektiven: die der norwegischen Regierung, die von Breiviks Anwalt und die eines Opfers, dem jungen Mann Vijar. Bei Greengrass steht der Umgang der norwegischen Gesellschaft mit der Tat und dem Täter im Mittelpunkt. 

"Utøya 22. Juli" von Erik Poppe läuft auf Amazon Prime, "Utøya" von Paul Greengrass läuft auf Netflix

 

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Wie wurde Breivik zum Massenmörder?

Im Gerichtsprozess wurde die Frage gestellt: Ist Anders Breivik zurechnungsfähig? © imago/Zuma Press
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Schon der Buchtitel ist aufschlussreich, enthält er doch die entscheidende Botschaft: „Einer von uns“ hat Åsne Seierstad ihr Buch über das Leben des Anders Breivik genannt. Der Norweger hatte am 22. Juli 2011 mit einem Autobombenanschlag in Oslo zunächst acht Menschen getötet und anschließend auf der Insel Utøya 69 Menschen, davon die Hälfte Jugendliche, in einer wahren Gewaltorgie erschossen. In seinem wirren 1500-Seiten Manifest hatte sich der damals 32-Jährige zuvor zum Kommandeur eines nicht existenten „Knights Templar“-Ordens erklärt. Ein Gutachter-Team attestierte ihm eine Psychose. Und der soll einer von uns sein? Åsne Seierstad sagt: Ja.

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Denn wer Anders Breivik schlicht für verrückt erklärt, so wie es bei Amokläufern in schöner Regelmäßigkeit passiert (zuletzt bei dem Amokpiloten Andreas Lubitz), macht es sich zu leicht. Das gibt die Schuld einer mehr oder weniger zufällig falschen Verdrahtung von Hirnwindungen – anstatt genau hinzuschauen, wer und was diese Tat möglich gemacht hat. Die norwegische Journalistin Seierstad hat sehr genau hingeschaut.

Wer den Attentäter Anders Breivik für verrückt erklärt, macht es sich zu leicht

Die 46-Jährige hat ihr halbes Leben lang als Auslands- und Kriegsreporterin verbracht. Jetzt hat sie ihr Augenmerk auf etwas gerichtet, das in der Debatte entweder gar nicht oder lediglich als Nebenaspekt erwähnt wird: Anders Breivik ist nicht nur ein Rassist und Verächter aller „Multikulturalisten und Kulturmarxisten“. Anders Breivik ist auch ein Frauen- und vor allem ein Feministinnenhasser.

„Das Erstarken des Feminismus bedeutet das Ende der Nation und das Ende des Westens“, erklärte er. Dem „radikal-feministischen Angriff auf unsere Werte“ und der „psychologischen Kriegsführung gegen den europäischen Mann“ müsse ein Ende gemacht und das „Patriarchat wieder her - gestellt werden“. Frauen müssten „wieder wissen, wo ihr Platz ist“. Der Platz, den Breivik für Frauen in seiner Gesellschaft der Zukunft vorsieht, ist der: Jungfräulichkeit bis zur Ehe, vertraglich zwischen Müttern und Vätern geregelte Kinderaufzucht. Scheidung als strafbarer Vertragsbruch. Die vornehmliche Aufgabe der Frau ist die Kinderaufzucht: In Billiglohnländern würde man Fabriken mit Leihmüttern errichten, jede Leihmutter müsste mindestens zehn blonde und blauäugige Kinder produzieren. Der nächste Schritt sei die Aufzucht von Kindern in künstlichen Gebärmüttern.

Was ist im Leben des Anders Breivik passiert, dass er von der Auslöschung der Frau und der Überhöhung des Mannes träumt? Die Kurzfassung lautet: Eine Kombination aus einer psychisch labilen und überforderten Mutter, einem gleichgültigen und abwesenden Vater sowie einer Jugendhilfe, die das Gefahrenpotenzial zwar erkannte, der aber die Hände gebunden wurden. Eine Serie von Abweisungen durch Familie, Freunde, Frauen. Und schließlich eine Flut von Bildern krankhaft übersteigerter Männlichkeit: in Breiviks pakistanischer Jungsclique, in der rechtspopulistischen Fortschrittspartei, im Computerspiel „World of Warcraft“, das Breivik exzessiv spielte. Irgendwann beginnt Anders Breivik, sein völliges Unvermögen, mit Abweisung und Kränkungen umzugehen, durch größenwahnsinnige Bilder von sich selbst als Übermensch bzw. Über-Mann zu kompensieren.

Anders Breivik wurde am 13. Februar 1979 im Osloer Aker-Hospital geboren. Das wäre nicht passiert, hätte das norwegische Parlament die Fristenlösung – also den straffreien Abbruch der Schwangerschaft innerhalb der ersten zwölf Wochen – ein Jahr früher beschlossen. Denn seine Mutter Wenche Behring will das Kind nicht. Die Krankenpflegehelferin und alleinerziehende Mutter einer vierjährigen Tochter kennt den Vater, Jens Breivik, erst ganz kurz. Sie hat den frisch geschiedenen Diplomaten in der Waschküche ihres Hauses kennengelernt. Sie wohnt in einer Einzimmerwohnung zur Miete, er in einer Eigentumswohnung. Wenn die drei Kinder von Jens Breivik zu Besuch sind, erlebt sie ihn als „kühl und distanziert“ mit ihnen.

Seine Mutter war distanziert und kühl, mit den Kindern völlig überfordert

Aber es gibt noch einen weiteren Grund, warum die 32-Jährige die Schwangerschaft am liebsten beendet hätte: Sie hat kein gutes Verhältnis zu Kindern, denn sie war selbst ein ungeliebtes und zutiefst unglückliches Kind: Ihre Mutter war kurz vor der Geburt an Polio erkrankt, als Wenche auf die Welt kommt. Sie gibt dem Kind die Schuld und erklärt es für „böse“. Der große Bruder malträtiert seine kleine Schwester, die sich aus Angst nur noch draußen herumtreibt.

Mit 17, im Jahr 1963, packt Wenche ihre Sachen und flieht nach Oslo. Sie arbeitet zunächst als Putzhilfe, später als Au pair in Kopenhagen und Straßburg. Womöglich passiert in dieser schwierigen Zeit noch etwas anderes. Sie wird, so beschreibt es die Autorin, später immer wieder ein merkwürdig sexualisiertes Verhalten an den Tag legen.

Nach der Geburt von Anders begleitet Wenche ihren Mann Jens mit den beiden Kindern nach London. Dort wird sie als „Frau an seiner Seite“ regelrecht depressiv. Sie packt schließlich ihre Koffer und geht mit den Kindern zurück nach Oslo. Aber sie ist mit den Kindern völlig überfordert. Die Familie lebt von Sozialhilfe, Nachbarskinder berichten, dass es bei Breiviks „nie Abendessen gibt“. Wenche erkundigt sich beim Jugendamt, ob sie „beide Kinder zur Adoption freigeben kann. Sie wünsche die Kinder zum Teufel“.

Der Junge reagiert mit emotionaler Abschottung. Besorgte Erzieherinnen stellen fest: „Er hatte keine Freunde, konnte sich aber auch kaum selbst beschäftigen. Außerdem weinte er nie, wenn er sich wehtat.“ Der jugendpsychiatrische Dienst, der die Familie begutachtet, stellt bei der Mutter eine „mentale Verfassung nahe an der Persönlichkeitsstörung fest“, über ihr Verhältnis zum Sohn heißt es: „Einerseits bindet sie ihn symbiotisch an sich, andererseits weist sie ihn aggressiv ab. Anders wird zum Opfer, weil sie ihre paranoid-aggressive und sexuelle Angst vor Männern auf ihn projiziert.“ Die Psychologen empfehlen, den Jungen aus der Familie zu nehmen. Er könne „eine ernsthafte Psychopathie entwickeln, wenn sich nichts ändert“. Aber es ändert sich nichts. Das Drama nimmt seinen Lauf.

Anders Breivik findet keine Freunde, die anderen Kindern finden den verschlossenen Jungen seltsam und beängstigend, auch deshalb, weil er Ratten in Käfigen hält und sie mit spitzen Stiften malträtiert. Schließlich schließt sich Anders einer Gruppe Graffiti-Sprayer an. Er gibt sich den Künstlernamen „Morg“. Morg ist eine Figur aus den Marvel-Comics. Es ist der oberste Scharfrichter des Herrschers Galactus, so kalt und skrupellos, dass er kaltblütig auch die eigenen Leute hinrichtet. Auch aus dieser Gruppe wird er bald wieder ausgeschlossen, weil die anderen seinen Größenwahn nicht ertragen.

Breivik taucht ein in eine Welt der Allmacht und Hyper-Männlichkeit

Zu seiner Geschlechtsidentität hat Breivik ein zwiespältiges Verhältnis: Als junger Mann hatte er häufig Make-up getragen, viele hielten ihn für schwul. Das aber bestritt er vehement. Konfrontierte ihn jemand damit, prahlte er mit seinen (angeblichen oder tatsächlichen?) Bordellbesuchen. Tatsächlich hatten „die Frauen nichts für ihn übrig und er hatte nichts für sie übrig“, schreibt Åsne Seierstad. „Bei einem Freund beschwerte er sich, die norwegischen Frauen seien zu emanzipiert und würden nie gute Hausfrauen werden.“ Aber auch Breiviks Versuch, über ein Dating-Portal eine unemanzipierte Frau namens Natascha aus Weißrussland zu importieren, scheitert. Auch Natascha möchte keine Hausfrau sein – und fliegt zurück nach Minsk.

Immer wieder wird Anders Breivik scheitern: Bei seinen Aktiengeschäften, mit denen er zunächst viel Geld gewinnt und bald wieder verliert. Bei seinem lukrativen Handel mit falschen Diplomen, dem eines Tages die Ermittler auf die Spur kommen. Bei seinem Engagement in der rechtspopulistischen „Fortschrittspartei“.

Im Alter von 27 Jahren muss der abgebrannte Breivik, der sich stets als großer Geschäftsmann inszeniert hatte, wieder bei seiner Mutter einziehen. Nun beginnt er, die Schuldigen für sein Scheitern zu suchen und zu finden: Muslime – und Frauen. Zwei Jahre lang zieht sich der auf ganzer Linie Gescheiterte völlig von der Welt zurück. Er verlässt sein winziges Zimmer so gut wie nie. Er spielt „World of Warcraft“, ein martialisches Kriegsspiel, manchmal 14 Stunden am Stück. Und nun beginnen seine Vorstellungen wahnhafte Züge anzunehmen. Immer tiefer taucht er ein in eine Welt, in der Allmacht und Hyper-Männlichkeit die beherrschenden Größen sind. Und er beginnt, sein Manifest zu schreiben: „2083. Eine Europäische Unabhängigkeitserklärung“.

Bezeichnenderweise wählt Anders Breivik für seinen Bombenanschlag und seine Massenexekution keine Muslime aus. Es wäre in Oslo ein Leichtes gewesen, die Besucher einer Moschee oder eines arabischen Cafés zu erschießen. Aber Anders Breivik, der später vor Gericht behaupten wird, er sei „nie in seinem Leben von irgendjemandem abgewiesen“ worden, ermordet diejenigen, die er genau dieses Verbrechens für schuldig hält: ihn abgewiesen zu haben. Es sind die Jugendlichen im Sommercamp auf Utøya. Und es wäre um ein Haar Gro Harlem Brundtland gewesen, die ehemalige Ministerpräsidentin und mächtige Frau, die in Breiviks Kindheit die Frauenrechte voranbrachte. In seinem Manifest nennt Breivik sie „Landesmörderin“. Brundtlandt hatte am Vormittag auf der Insel eine Ansprache gehalten, Frauenhasser Breivik verpasste sie, weil er sich verspätet hatte, nur knapp.

Richterin Wenche Elisabeth Arntzen erklärt: Breivik ist zurechnungsfähig

Als der Gerichtsprozess gegen den Massenmörder Breivik seinem Ende zugeht, stellt sich die Frage: Ist Anders Breivik zurechnungsfähig? Nein, sagt das psychiatrische Gutachten. Breivik lebe „in seinem eigenen wahnhaften Universum“. Dem schließen sich deutsche Psychiater an. Zum Beispiel der renommierte Forensiker Norbert Leygraf, der erklärt, es handle sich um eine „paranoide Schizophrenie“ und „individuelle Krankheit eines Menschen“.

Das Gericht aber entscheidet anders. Richterin Wenche Elisabeth Arntzen erklärt, Breivik habe „keine Zwangsvorstellungen im klinischen Sinne“. Und sie fügt hinzu: „Ich halte es für prinzipiell bedenklich, Verbrecher von Schuldfähigkeit freizusprechen, indem man ihre Gesinnung für krankhaft erklärt.“

In der Tat: Die Gesinnungen des Anders Breivik, sein Wunsch, die guten alten Verhältnisse wiederherzustellen, ist anschlussfähig. Er schlummert in Millionen Männern. In diesem Sinne ist Anders Breivik tatsächlich „Einer von uns“.

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Åsne Seierstad: Einer von uns. Die Geschichte eines Massenmörders. (Kein & Aber, 26 €. Ü: Frank Zuber + Nora Pröfrock)

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