Die armen Jungs

Artikel teilen

Jede Gesellschaft braucht ihre Opfer, und Deutschlands Opfer sind neuerdings männlich. Tim K. zum Beispiel. Keine 24 Stunden nach seinem Amoklauf im März 2009 in Winnenden wurde er vom Erziehungswissenschaftler Dieter Lenzen zum Opfer erklärt. Es sei nicht verwunderlich, dass die meisten Amokläufer Jungen seien. Sie würden schließlich in der Schule vernachlässigt, so Lenzen, der als Vorsitzender des „Aktionsrates Bildung“, des höchsten Beratergremiums in Sachen Schule, ein deutschlandweit gefragter Experte ist. Für Lenzen sind Jungen „die Verlierer im deutschen Bildungssystem“. Und er fand es „bemerkenswert“, „dass die meisten Opfer von Tim K. Mädchen und Lehrerinnen sind“. Das Bildungssystem schaffe es offensichtlich nicht, Jungen in den Zustand psychischer Ausgeglichenheit zu versetzen, der solche Taten ausschließe, kritisierte der Hamburger Pädagoge.

Anzeige

Es gehört schon eine ordentliche Portion Zynismus dazu, einen Amokläufer als Opfer des Bildungssystems zu bezeichnen, der deshalb Mädchen und Lehrerinnen umbringen muss. Doch Dieter Lenzen liegt mit seiner These voll im Trend. Der Inbegriff bildungspolitischer Vernachlässigung, das war einmal das katholische Arbeitermädchen vom Lande, das statt mittlerer Reife eine Schneiderlehre machen musste. Heute sind die Sorgenkinder allesamt Jungen: Sie leiden an Legasthenie; sie sind hyperaktiv; sie schaffen keinen Abschluss; sie bekommen keine Lehrstelle und demzufolge nie einen Job.

Verlierer gegen Gewinner, Jungen gegen Mädchen – dieser soziologische Graben ist verhältnismäßig neu. Vor zehn Jahren etwa kam es zum Rollentausch der Geschlechter, für sich genommen schon ein interessantes Phänomen. Denn die Zahlen, wonach es weitaus mehr Jungen auf der Hauptschule gibt, waren damals längst bekannt. Und auch, dass an den Gymnasien die Mädchen in der Überzahl sind. Dieser Trend hatte in den 1960er Jahren begonnen, seit den 1980er Jahren schwächt er sich übrigens wieder ab.

2002 erschien die erste Studie, die größere Aufmerksamkeit bekam, wonach Jungen in Kindergärten und Schulen benachteiligt sind. Der renommierte Pädagoge und „Männerforscher“ Klaus Hurrelmann diagnostizierte darin eine Unterdrückung. Vollmundig formulierte der Bielefelder Forscher: „Lasst die Jungen Jungen sein.“ Hinzu kamen die düsteren Warnungen des hannoverschen Kriminologen Christian Pfeiffer, wonach Jungen täglich viele Stunden am Bildschirm verbringen und durch den übermäßigen Medienkonsum verrohen. Nicht zuletzt ließen die Ergebnisse aus internationalen Schulstudien aufhorchen: Bei Pisa und Iglu schneiden Jungen schlechter ab als Mädchen.

Fortan gehörte die These von den „armen Jungen“ zum bildungssoziologischen Allgemeingut: Eine ganze Generation verwahrloster, vernachlässigter Buben wächst heute heran, Buben, die keinen Schulabschluss machen, keinen Job und keine Frau finden werden und die Gefahr laufen, zu einer soziologischen Bombe zu werden. „Kleine Jungs, große Not“ heißen die Titel der Erziehungsratgeber, die sich in den Buchhandlungen stapeln, oder „Die Jungenkatastrophe: Das überforderte Geschlecht“ oder „Rettet unsere Söhne“.

Auch die Bundesregierung will sich nun der Jungen annehmen. „Problemkinder“ hat Familienministerin Kristina Schröder (CDU) sie genannt und Jungenförderung angekündigt. Schröder kritisiert, dass weniger als drei Prozent der ErzieherInnen in Kinderkrippen und -gärten männlich seien, gerade jetzt, da Kita-Personal ohnehin knapp sei. „Es fehlen Vorbilder“, sagt die Ministerin in jedem Interview – so würden sich falsche Männlichkeitsbilder in den kleinen Köpfen festsetzen.

Die junge Ministerin hat Großes vor, Mitte August richtete sie eine Koordinationsstelle „Männer in Kitas“ ein, die Aktionen koordinieren soll – etwa die 12,5 Millionen Euro schwere Förderung von zehn Modellregionen, in denen die Kindertagesstätten besonders „männerfreundlich“ sein sollen. Schröder kann sich auch vorstellen, dass arbeitslose Männer zu Erziehern umgeschult werden. Und die Berufsausbildung, die bislang eher die weniger ehrgeizigen jungen Frauen als Zielgruppe hatte, soll „aufgewertet“ werden.

Das freilich fordern Fachleute wie der ehemalige Leiter des „Bayerischen Staatsinstituts für Frühpädagogik“, Vassilios Fthenakis, seit Jahrzehnten. Gescheitert ist eine Aufwertung an den leeren öffentlichen Kassen: Hätten ErzieherInnen einen Fachhochschulabschluss, müssten sie auch wesentlich besser bezahlt werden. Zweifelhaft auch, ob gerade arbeitslose Maurer oder Fernfahrer sich als Betreuer für kleine Kinder eignen. Denn für diesen Job muss man wohl doch, angesichts der hohen Belastung, auch eine gewisse Eignung und Begeisterung mitbringen.

Einstweilen dürfte es bei Aktionen bleiben, die wenig oder nichts kosten. Seit 2009 erhalten Jungen besondere Angebote an den Girls Days, von 2011 an sollen sie mit eigenen „Boys Days“ bedacht werden. Da sollen ihnen vor allem typische Mädchenberufe wie Krankenschwester und Erzieherin schmackhaft gemacht werden. Unterstützt vom Bundesfamilienministerium wird außerdem das Netzwerk „Neue Wege für Jungs“, eine Plattform von 167 Initiativen, die von spezieller Leseförderung für Buben über Kurzpraktika in der Arztpraxis oder im Seniorenheim zur Förderung sozialer Kompetenzen bei Jungen bis hin zu Projekten gehen, die flexible männliche Rollenbilder fördern sollen.

Schaden kann das sicher alles nicht – die Frage ist nur, ob sich dadurch der Trend, dass immer weniger Männer Kinder erziehen und bilden wollen, gestoppt werden kann. Denn solange diese Jobs ein so geringes Ansehen genießen und so schlecht bezahlt werden, dürfte sich wenig ändern. Und Armin Müller bliebe weiterhin die Ausnahme. Der blauäugige, gelockte 22-jährige Münchner Student ist ein Mann unter sehr vielen Frauen, die GrundschullehrerInnen werden wollen. Und mit diesem Studienwunsch gehört er zu einer aussterbenden Spezies. Wenn Männer heute überhaupt noch Lehramt studieren, dann für das Gymnasium, und selbst dort werden sie immer weniger.

An den Grundschulen aber hat das Ungleichgewicht der Geschlechter inzwischen dramatische Ausmaße angenommen: Von hundert PädagogInnen sind 86 weiblich, Tendenz steigend. Die Vorlesung „Grundlagen der Grundschulpädagogik“ im großen Hörsaal des Münchner Pädagogik-Instituts erinnert an eine Veranstaltung in der Aula eines Mädchenpensionats. Da sitzen unter 200 Frauen gerade einmal zehn, vielleicht zwölf Männer.

Ein Problem? Ja, sagen ErziehungswissenschaftlerInnen, BildungspolitikerInnen und auch Eltern. Sie reden von einer „Feminisierung“ der Schule und schlagen dabei einen bedrohlichen Unterton an. Sie fürchten, dass zu viele Frauen in den Klassenzimmern schädlich für die Jungen sind. Durch die Übermacht der Frauen in Krippen, Grundschulen und inzwischen sogar an Gymnasien entstehe, so die heute gängige These, ein Umfeld, das die Bedürfnisse der Jungen missachte. Schlimmer noch: Feministische Lehrerinnen würden sie darauf konditionieren, sich mehr für Schmetterlinge als für Piraten zu interessieren, so etwa Spiegel-Autor Ralf Neukirch in einem Bericht über vernachlässigte Jungen. Neukirch zeichnete die dunkle Version der Macht einer Frauenlobby, die gefährlich für Jungen sei – wie das damit zusammenpasst, dass Frauen gleichzeitig angeblich an einem Mangel an „Risikobereitschaft, Konkurrenzdenken, Aggressivität“ leiden, bleibt das Geheimnis des Autors. Doch man muss sich fragen, warum – trotz längst bekannter Fakten – die Jungen plötzlich zu Opfern stilisiert werden. Ist es nur eine These der Soziologie, die ihre Modeerscheinungen braucht? Oder fürchten sich die Männer vielleicht davor, die jahrzehntelangen Bemühungen der Gleichstellungspolitik könnten tatsächlich fruchten und die Frauen ihnen zu Konkurrentinnen erwachsen?

Dennoch, kaum ein Bildungsgutachten erscheint mehr, das nicht in der Forderung gipfelt: Wir brauchen mehr männliche Lehrer! So steht es in einem Papier des bereits erwähnten Aktionsrates Bildung, so sagt es auch der Bildungsforscher Udo Rauin, der konstatiert, dass die vielen Grundschullehrerinnen eine „verheerende sozialisatorische Wirkung“ hätten. So warnt zudem der Sprecher des Bayerischen Philologenverbands, Peter Missy, der es bedenklich findet, „dass den Jungen männliche Vorbilder fehlen“.

Das klingt zunächst einmal plausibel – doch stimmt es auch? Einmal abgesehen davon, dass sich die Benachteiligung der Jungen in der Arbeitswelt noch nicht so richtig ausgewirkt hat, zumindest weder in den Chefetagen noch im mittleren Management. Und dass an den Supermarktkassen zum großen Teil Frauen sitzen, liegt daran, dass kaum ein Mann den Job machen mag.

Sehen wir uns also die Fakten zu den Unterschieden zwischen Jungen und Mädchen an: Im Schuljahr 2007/08 waren 56 von 100 Hauptschülern männlich, 1960 war das Geschlechterverhältnis mit jeweils 50 Prozent noch ausgewogen gewesen. In Gymnasien dagegen lernen mehr Mädchen: Von 100 Gymnasiasten sind inzwischen 54 Mädchen. Nur in Realschulen halten sich die Geschlechterzahlen die Waage. Schlechter stehen Jungen auch da, wenn man die später Eingeschulten zählt (sechs Prozent zu 3,5 Prozent Mädchen), die Sitzenbleiber und Schulabbrecher (62 von 100 sind männlich) oder die Förderschüler (61 von 100). Richtig ist auch, dass die internationale Schulstudie Pisa herausgefunden hat, dass Jungen im Durchschnitt schlechter lesen als Mädchen.

Sinkende Bildung der Jungen, wachsende Zahl der Lehrerinnen – da ist man schnell verführt, einen Zusammenhang zu sehen. Der allerdings sei wissenschaftlich nicht belegbar, sagt Bettina Hannover, Pädagogikprofessorin an der Freien Universität Berlin. „Das ist wie mit den Störchen und den Babys.“ Auch Manfred Prenzel, Koordinator der Pisa-Studie für Deutschland und inzwischen Direktor des Lehrerbildungszentrums der Technischen Universität München, warnt vor vorschnellen Schlüssen: „Es gibt keine wissenschaftliche Basis für die These, dass das Fehlen von Männern an den Schulen schlecht für Jungen ist.“ Und eine neue Studie der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft setzt noch eins drauf: „Besonders zweifelhaft ist die Annahme, dass allein die Zugehörigkeit zum männlichen Geschlecht einen positiven Effekt auf Schülerleistungen haben könnte.“

Unterstützung erhalten die Skeptiker durch den Forscher Marcel Helbig vom Wissenschaftszentrum Berlin, der soeben die Pisa- und Iglu-Ergebnisse neu analysiert hat. Demnach profitieren weder Mädchen noch Jungen bei ihren Kompetenzen oder Noten von einem Lehrer des jeweils gleichen Geschlechts.

Gleichwohl müssen Pädagogen sich fragen, welche Folgen es hat, wenn fast nur noch Frauen unterrichten. Negativ könne sich auswirken, sagt der Münchner Pädagoge Joachim Kahlert, dass Grundschullehrerinnen wenig Interesse an Naturwissenschaften hätten. Sie behandeln im Sachunterricht lieber Pflanzen und Geschichte als Technik. Das benachteilige Jungen, weil sie sich mehr für Autos als für Schmetterlinge interessieren. Und vielleicht würden Jungen tatsächlich mehr lesen, wenn im Deutschunterricht auch mal ein Comic oder ein Sachbuch auf dem Programm stünde. Diskriminierend könnte ebenfalls sein, dass Jungen still sitzen müssen, wenn sie sich bewegen wollen und sie friedlich sein müssen, wenn sie raufen wollen. Denn Frauen, klagt der Münchner Rektor Stefan Inderst, hätten ein anderes Verhältnis zu körperlichen Auseinandersetzungen als Männer. „Sie empfinden eine normale Rangelei auf dem Schulhof schon gleich als bedrohlich“, sagt Inderst, das sei ein Dauerstreit in seinem Kollegium.

All das sind aber nur vage Erklärungsversuche, die nicht ausreichen, um eine Männerquote in Kitas und Schulen zu fordern. Zu bedauern ist die Abwesenheit der Männer im Klassenzimmer trotzdem, denn sie ist auch ein Indiz für die Krise der Schule. Warum wollen Männer nicht mehr Lehrer werden? Und warum sind die Väter, die heute laut beklagen, dass ihre Söhne keine männlichen Vorbilder mehr haben, nicht selber Erzieher oder Lehrer geworden?

Es ist wohl vor allem das fehlende Prestige und – zu einem gewissen Teil – auch das Geld: Wenige Berufe haben in den vergangenen 50 Jahren an Ansehen derart verloren wie der des Lehrers. Wer ihn dennoch ergreift, gilt schnell als Versager und muss sich auf Partys dumme Sprüche anhören. Dass es wohl zu nichts Besserem gereicht habe, oder dass man lange Ferien brauche.

Familie und Freunde schütteln den Kopf. Auch Armin Müllers Mutter fand, er könne doch wenigstens Gymnasiallehrer werden. Und Stefan Inderst, der immerhin seit 15 Jahren unterrichtet, sagt, seine Verwandtschaft halte ihn für einen Loser, obwohl er es zum Rektor gebracht hat.

Lehrerverbände klagen, dass Männer nicht mehr Lehrer würden, weil der Job so schlecht bezahlt werde. Das stimmt zumindest für die GrundschullehrerInnen, deren Gehalt gemessen an dem anderer Akademiker tatsächlich niedrig ist. Selbst ein Schulleiter verdient nie mehr als ein junger Berufsanfänger am Gymnasium. Hinzu kommen schlechte Auf- und Ausstiegsmöglichkeiten – einmal Lehrer, immer Lehrer, heißt es. Und das, was viele Frauen als Vorteil des Berufs ansehen – die gute Vereinbarkeit von Familie und Job – spielt für die wenigsten Männer eine Rolle.

Und seien wir ehrlich: Glauben wir nicht auch, dass Frauen einfühlsamer sind, wie geschaffen für die Erziehung zumindest der jüngeren Kinder? Wollen wir nicht, dass unsere Kleinen auch noch ein wenig bemuttert werden? Dass jemand sie in den Arm nimmt, wenn sie im Klassenzimmer plötzlich Bauchweh oder sich auf dem Schulhof das Knie aufgeschürft haben? Finden wir es nicht sogar seltsam, wenn Männer Erzieher werden wollen? Wittern sogar möglichen Missbrauch?

Schade eigentlich. Denn auch wenn es Jungen nicht schadet, von Frauen unterrichtet zu werden, ist es ungut, wenn Teile der Gesellschaft geschlechtlich einseitig dominiert sind. So wie Manager nicht alle männlich sein müssen, brauchen LehrerInnen nicht alle weiblich zu sein. Allein um Geschlechterstereotype aufzubrechen, wäre es vernünftig, mehr Lehrer zu haben. Dass diese durchaus gesellschaftliche Anerkennung genießen könnten, zeigt das Beispiel anderer Länder, wo kein Politiker sich trauen würde, Lehrer öffentlich als „faule Säcke“ zu titulieren (wie Alt-Kanzler Schröder es zu Regierungszeiten getan hat). Anderswo ist der Job hochbegehrt; in Finnland etwa werden angehende LehrerInnen handverlesen, und nur jeder zehnte Bewerber darf tatsächlich Lehramt studieren.

Es ist ein Teufelskreis: Wenn ein Job einmal als Frauenberuf gilt, zieht er immer weniger Männer an. Und je weniger Männer den Job machen, umso niedriger wird das Ansehen. Um diesen Automatismus zu durchbrechen, wird man wohl tatsächlich gezielt Männer rekrutieren müssen – nicht weil die Jungen sie brauchen, sondern weil die Gesellschaft gute, motivierte Lehrer braucht.

Armin Müller jedenfalls freut sich auf seinen Beruf, egal wie schlecht das Image ist oder wie niedrig das Gehalt. Er will kleine Kinder unterrichten, weil er so auch noch erzieherisch einwirken kann. Er wird ein Lehrer sein, wie Eltern ihn sich wünschen: einer mit natürlicher Autorität, der sich genauso gut an der Tafel wie auch im wirklichen Leben macht, einer, der den Kindern spielend Lesen beibringt und auch mal mit ihnen am Lagerfeuer sitzt und Gitarre spielt. Die Kinder werden ihn lieben.

Die Autorin ist Redakteurin bei der Süddeutschen Zeitung und Mutter von vier Kindern, darunter zwei Jungen.

Weiterlesen
Arme Jungs: Prügelknaben oder prügelnde Knaben? (EMMA 1/2008)

Artikel teilen
 
Zur Startseite