Die Cinderella Industrie

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"Um Spuren zu hinterlassen, muss man Dinge tun, die andere für krank halten.“ Dieser Satz stammt vom Disney-Manager Andy Mooney, der vor zehn Jahren ein neues Label anregte, das fortan die neun beliebtesten Prinzessinnen des amerikanischen Großkonzerns unter dem Namen „Disney-Princess“ vereinte. In der Zwischenzeit weiteten 25.000 Prinzessinnen-Produkte den Markt „frühkindliche Weiblichkeit“ aus und bescheren Disney einen Umsatz von vier Milliarden Dollar im Jahr.

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Egal ob in New York, Hamburg oder Tokio: pinkfarbene Himmelbetten, verschnörkelte Mini-Frisierkommoden und höfische Garderoben sind heute unentbehrliche Bestandteile im Leben zahlreicher kleiner Mädchen. Um ästhetische bzw. pädagogische Kriterien kümmern sich die Profiteure der so genannten Girlie-Girl-Kultur dabei wenig. „Hello Kitty“, die rosarote Katze aus Japan, spült pro Jahr 500 Millionen Dollar in die Kassen des Spielzeugkonzerns Sanro. Prinzessin Lillifee aus dem deutschen Coppenrath-Verlag ist millionenfach auf Haarspangen und Schminktaschen verewigt.

Doch was vordergründig ein harmloser Spaß sein könnte, verbindet sich im Cinderella-Universum immer öfters mit Aktionen, die aus kleinen Mädchen potenzielle Schönheitsköniginnen machen – und sonst gar nichts. Beauty-Spa und Wellnessanlagen, die Maniküre und Pediküre, Schokoladenmaske und Zapfenlockenfrisuren anbieten, werden inzwischen nicht nur in den USA, sondern auch in England, Österreich und der Schweiz schon von Mädchen im Vorschulalter überrannt.

Max Lüscher, der legendäre Begründer der Farbpsychologie, analysiert die Vorliebe von Mädchen für die Farbe Pink so: „Reines Rot bedeutet vitale Kraft. Weil Pink jedoch ein sehr helles Rot ist, hat sich die Kraft aufgelöst. Dunkles Blau ­bedeutet liebevolle Hingabe. Wenn Rot (Erobern) und Blau (Hingabe) zusammenkommen, entsteht Violett oder Magenta (Pink). Pink ist Erotik ohne starkes Rot, also ohne Sex. Pink ist zärtliche Hingabe und leidenschaftslose, spielerische Erotik und wird von Kindern vor der Pubertät bevorzugt.“

Die US-Journalistin Peggy Orenstein beobachtet die rosarote Prinzessinnen-Hysterie in den Kinderzimmern seit Jahren kritisch. Ihre Tochter Daisy sei einst ein burschikoses Kind gewesen, das gern mit Bauklötzen spielte und auf sein Aussehen keinen großen Wert gelegt habe. Dann kam Daisy in die Spielgruppe, und bald sprach sie nur noch von Lipglossfarben. „Bereits nach einem Monat schrie sie mich wütend an, wenn ich ihr Hosen anziehen wollte und kannte die Namen jeder einzelnen Disney-Prinzessin“, klagt Mutter Orenstein und fragt: „Wir leben im 21. Jahrhundert. Wieso müssen kleine Mädchen rosarote Prinzessinnen in Plastik­stöckelschuhen sein? Und warum wird ihnen eingetrichtert, die Meerjungfrau sei toll, ein Geschöpf, das seine Sprache verlor, um einem Mann zu gefallen?“

Manche Eltern halten solche Sorgen für übertrieben. Beim Pinkwahn handle es sich um eine Manie, die vorbei sei, sobald die Kinder begreifen, was das Wort „Tussi“ bedeute. Das Ausleben exzessiver Rollenklischees im Vorschulalter sei normal, wenn es darum gehe, die eigene Geschlechteridentität zu festigen, geben manche Pädagogen zu bedenken.

Peggy Orenstein, die dem Phänomen inzwischen ein ganzes Buch gewidmet hat („Cinderella ate my daughter“), sieht es weniger locker. Sie befürchtet: „Fünfjährige, die hübsch und im weitesten Sinn sexy sein müssen, haben später ein gestörtes Verhältnis zu ihrem Körper“. Amerikanische Umfragen bestätigen diese Befürchtung: Junge Frauen, die traditionelle Vorstellungen von Weiblichkeit pflegen, leiden öfter unter mangelndem Selbstbewusstsein und Depressionen als andere. In diesem Zusammenhang spricht die Vereinigung „American Psychological Association“ (APA) von der Schwierigkeit weiblicher Jugendlicher, ihr Aussehen und ihre Befindlichkeit differenziert zu beurteilen. Befragte, die sich in der Kindheit stark mit dem Mainstream-Angebot der Spielzeugindustrie identifizierten, beantworteten die Frage, wie sich ihr Körper anfühle, überdurchschnittlich oft, indem sie „gutes Aussehen“ mit „gutem Körpergefühl“ gleichsetzten.

Es ist kein Wunder, dass sich auch in Deutschland jedes fünfte Mädchen zwischen 9 und 14 Jahren eine Schönheits-OP wünscht, findet die 16-jährige Katharina Weiß. Die Münchnerin erlebte die Anfänge der Pinkhysterie in ihrer Kindheit an Leib und Seele und befragte für ihr Buch „Schön!?“ Altersgenossinnen zu: „Körper, Ideale und Problemzonen“. Die Botschaft von Arielle, Cinderella und Schneewittchen – „Man fühlt sich gut, wenn man gut aussieht“ – sei bei dieser Generation voll angekommen, konstatiert Katharina. Das perfekte Äußere werde zudem genutzt, um andere auszugrenzen: „Kürzlich beobachtete ich eine gestylte 9-Jährige, die sich über das Gewicht und die Zottelfrisur ihrer Kameradin lustig machte und sich dabei durch die eigene glänzende Mähne strich.

Während sich heutige Mütter an Frisuren erinnern, die Oma zurechtschnippelte und Kleidungsstücke, die auch die Brüder hätten tragen können, müssen sie sich bei ihren lieben Kleinen mit Fragen auseinandersetzen, die sie ins Steinzeitalter zurückwerfen. Der tägliche Entscheidungskampf, was gerade noch tolerierbar ist und was definitiv verboten bleiben muss, zehrt an Mutters Nerven.

Nach einem pinkfarbenen Indianerzelt, einem königlichen Rennauto oder einer glitzernden Werkzeugbank allerdings hält man in der ausufernden Girlie-Girl-Kultur vergeblich Ausschau … „Obwohl der Anschein entstehen könnte, dass das Spielzeugangebot für Mädchen noch nie so umfassend war wie heute, bleiben ihnen andere Welten fremd, wenn sie im Kleinkinderalter ausschließlich mit femininen Stereotypen konfrontiert werden“, gibt Pat Spungin zu bedenken. Die britische Kinderpsychologin macht sich Gedanken darüber, welchen Spielen Mädchen mit lackierten Fingernägeln und in bodenlangen Tüllkleidern nachgehen mögen: „Graben Sie im Garten nach Würmern? Bauen sie ein Baumhaus?“

Der Schweizerische Spielwaren-Verband (SVS) umschifft die immer lauter werdende Kritik seit einigen Jahren mit folgendem Manöver: 15000 Mädchen und Buben dürfen vorgeblich selbst entscheiden, welches Spielzeug die Auszeichnung „Suisse Toy Award“ erhält: In der „Kategorie Mädchen“ standen bisher mehrheitlich glitzerbestäubte Traumwelten zur Auswahl, darunter eine pinkfar­bene „Pfötchenklinik“, die Hundebaby-Schwimmschule von Barbie und ein bombastisches Märchenschloss mit Freitreppe, prunkvollen Zimmern und einer im Turm versteckten Schmuckschatulle.

„Die Industrie redet den Eltern und den Kindern teilweise absurde Bedürfnisse ein“, resümieren Thomas Lindemann und Julia Heilmann. Die Berliner AutorInnen von „Kinderkacke“ („Wie Eltern über den Wickeltisch gezogen werden“) widmen sich in ihrem neuesten Werk „Babybeschiss“ („Das zweite ehrliche Elternbuch“) der bombastischen Warenwelt, der die neuen Erdenbürger vom Tag der Geburt an ausgeliefert sind. Hinter den Herstellern steht ein Heer von Lobbyisten und Marketingexperten, die sich ausschließlich damit befassen, Kinder und Eltern als Kunden zu gewinnen, kritisieren die Eltern von zwei kleinen Jungen.

ExpertInnen sprechen bereits von einer Verkürzung der Kindheit: Ein Bachbett stauen, Kaulquappen fangen, eine Seifenkiste bauen? Solche Aktivitäten kennen viele Kinder nur noch aus den Schilderungen ihrer Eltern und Großeltern, heißt es auch im neusten Unicef-Bericht. Studienleiterin Agnes Naim spricht von einem „zwanghaften Konsumverhalten in der industrialisierten Welt“. Was Unicef proklamiert, regen auch Heilmann und Lindemann an: Ein Werbeverbot in bezug auf Produkte für Kinder unter 12 Jahren und Erziehende, die dem Nachwuchs beibringen, dass die Freizeit auch ohne Schminkcenter und Prinzessinnengarderobe, Gameboy und Computer toll sein kann.

Der Disney-Manager Andy Mooney ist bereits einen Schritt weiter, denn die ersten Disney-Princess-Kundinnen sind nun im heiratsfähigen Alter. Damit der lang geschürte und tausendmal durchgespielte Traum von der Dornröschenhochzeit Wirklichkeit werden kann, erfand er jetzt das Label „Disney-Bridal“. Inspiriert werden die bombastischen Glitzerroben für Erwachsene von den neun Prinzessinnen der Kindheit. Ein weiterer Markt tut sich auf.

Die Autorin ist  Schweizer Journalistin und Co-Autorin von „Nicole Dill: Leben! Wie ich ermordet wurde“.

Weiterlesen
Der Lillifeekomplex (4/10)
Julia Heilmann/Thomas Lindemann: „Babyschiss – Wie Eltern über den Wickeltisch gezogen werden“ (Hoffmann und Campe)
Katharina Weiß: „Schön!?“ (Schwarzkopf & Schwarzkopf)
Peggy Orenstein: „Cinderella ate my daughter“ (Harper Collins).

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