Die Furchtlosen

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Als sie sich vor zehn Jahren kennenlernten, hatten sie nur eines gemeinsam: Beide engagierten sich auf verschiedene Weise für die Menschenrechte der südamerikanischen Indianer, Annette Weber bei Amnesty International; Rüdiger Nehberg auf eigene Faust. Zusammengebracht hat sie Annettes Sohn Roman. Er kannte seine Bücher, schwärmte schon lange für Rüdigers spektakuläre Abenteuer und wollte unbedingt zu einer Nehberg-Lesung. Dazu brauchte der damals 12-Jährige aber die Begleitung seiner Mutter. Die ging eher lustlos mit.

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Für die Arzthelferin und Mutter von zwei Kindern änderte sich an diesem Abend das Leben schlagartig. „Ich bin zu neuen Ufern aufgebrochen“, sagt Annette heute. Und der 25 Jahre ältere Rüdiger erklärt schlicht: „Ihre Power hat mich beeindruckt.“ Daraus wurde dann eine höchst wirkungsvolle und für beide sehr befriedigende Arbeits- und Lebensgemeinschaft.

Heute wohnen sie zusammen auf einem wild-romantischen fünf Hektar großen Anwesen nahe Hamburg, die „Planungszentrale“ ihrer Aktionen in Brasilien und Afrika. Erst sicherten sie die Lebensgrundlagen für die Yanomami-Indianer. Dann nahmen sie den Kampf gegen die weibliche Genitalverstümmelung in 28 islamisch geprägten Ländern Afrikas auf.

Die beiden gründeten die Organisation ‚Target‘ (Ziel) mit heute 12.000 SpenderInnen und riefen, wider allen Zeitgeist, eine ‚Pro-Islamische Allianz gegen weibliche Genitalverstümmelung‘ ins Leben. Gemeinsam mit höchsten Religionsführern wollte das deutsche Paar den Brauch als „unvereinbar mit der Ethik des Islam erklären lassen“. Denn, so Nehberg: „Hier geht es um Verstümmelung, um ein Verbrechen an Körper, Seele und Würde der Frau.“

Seit mehr als 30 Jahren steht das Thema auf der Agenda von Frauen- und Menschenrechtsorganisationen, von UNO und UNICEF. Weltweit sind 160 Millionen Mädchen und Frauen mit lebenslangen, teils tödlichen Folgen von dem grausamen Brauch betroffen, täglich werden es 8.000 Opfer mehr. Aber wie herankommen an die Entscheidungsträger? Nehberg und Weber begannen damit in Deutschland, sicherten sich die Unterstützung des ‚Zentralrats der Muslime‘, reisten dann nach Äthiopien, ins Gebiet des Nomadenvolkes der Afar, das Rüdiger gut kennt, und organisierten dort mit Hilfe des Sultans Ali Mirah eine erste „Wüstenkonferenz“. Zu der kamen statt der erwarteten 58 Clanführer über 1.000 Menschen.

Ein Dorfplatz unter gleißender Sonne mitten in Äthiopien. Rüdiger Nehberg begrüßt die Menschen im Namen von ‚Target‘, Würdenträger sprechen, Annette Weber ergreift das Mikrofon. Sie spricht vor allem zu den Frauen, erklärt, dass in Europa die Mädchen nicht verstümmelt werden, dass Frauen keine Angst haben vor ihrer Hochzeitsnacht und auch Geburten meist problemlos verlaufen. In der anschließenden Diskussion der Männer meldet sich plötzlich auch eine Frau zu Wort: „Ihr denkt alle, meine Tochter Faduma habe sich kürzlich versehentlich mit dem Gewehr ihres Vaters getötet. In Wirklichkeit hat sie den Schmerz der Beschneidung nicht mehr ertragen, wollte nicht mehr leben.“

Die Männer verstummen, scharren im Sand, sprachlos. Weitere Frauen beginnen zu sprechen, über ihr Leid, ihre Schmerzen. Zum allerersten Mal öffentlich. Nach langem Für und Wider sprechen sich die Anwesenden überwältigend einmütig für die Abschaffung der Genitalverstümmelung aus, erklären sie zur „Sünde“ und schreiben das in ihrer Scharia fest.

Von nun an geht es immer weiter vorwärts. Die Deutsche Botschaft in Kairo stellt Kontakt zum ägyptischen Religionsminister Prof. Zakzouk her, der bahnt den Weg zum Großsheik der Al-Azhar-Universität, Prof. Mohamed Sayed Tantawi. Als höchste Autorität des sunnitischen Islam erklärt er, dass der Koran den Brauch nicht fordere und andere Überlieferungen „unglaubwürdig“ seien. Seine Aussage öffnet weitere Türen, auch in Mauretanien und Dschibuti.

Schließlich können Annette und Rüdiger mit einer entsprechenden Fatwa, einem Rechtsgutachten, das sie in Auszügen auf Fahnen mit sich führen, die frohe Botschaft in einer „Karawane der Hoffnung“ von Oase zu Oase tragen. Sie halten sich an die Sitten des Landes: in der Kleidung, beim Essen, im persönlichen Umgang. Das ist nicht immer leicht. Hitze bis zu 55 Grad im Schatten, kein sauberes Wasser, ungewohnte Nahrung, einfachste Unterkünfte. Doch, so Annette: „Der Erfolg zählt.“

Und damit meint sie auch, dass „Beschneiderinnen“, wie die zumeist alten Frauen heißen, die davon leben, kleine Mädchen ohne Betäubung mit unsterilen Werkzeugen zu verstümmeln, nach dem Aufklärungsfeldzug des Paares in aller Öffentlichkeit versprochen haben, „damit aufzuhören“. In Mauretanien gründeten Nehberg und Weber daraufhin eine Näherinnen-Kooperative, als Alternative zum aufgegebenen Beruf. Strenge Verträge regeln die Konditionen. Das Startkapital: ein paar Nähmaschinen und Stoff. Inzwischen haben die Frauen eine eigene „Boutique“ eröffnet.

Es folgt im Herbst 2006 die Kairo-Konferenz mit ihrem welweit beachteten Ergebnis. Höchste Rechtsgelehrte und Religionsführer befinden nach lebhafter Diskussion, auch mit Ärzten: „Weibliche Genitalverstümmelung verstößt gegen die höchsten Werte des Islam und ist deshalb ein strafbares Verbrechen.“ Endlich!  Im August sollen auf einer weiteren Konferenz in Mali die Religionsführer aller 35 Länder Afrikas und Asiens auf die Fatwa eingeschworen werden und sich verpflichten, sie in allen Moscheen verkünden zu lassen.

Annette und Rüdiger sind durch ihre gemeinsame Arbeit immer enger zusammengewachsen. Gefragt, was sie tun, wenn sie nicht mit ihrem Projekt beschäftigt sind, sehen sie einander an und zögern: „Naja“, sagt Annette dann lachend, „wir sitzen abends manchmal am Kamin oder gehen Essen, aber meistens fängt dann einer an: Ich habe da so eine Idee ... und wir sind wieder mittendrin.“

Die Autorin hat den arte-Film über Target gedreht: „Die 'Sache' - Feldzug gegen ein Tabu“.
 

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Annette Weber und Rüdiger Nehberg: 'Karawane der Hoffnung - Mit dem Islam gegen den Schmerz und das Schweigen' (Malik Verlag)

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