Asylrecht: Noch halbherzig

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Als am 1. Januar 2005 das Zuwanderungsgesetz in Kraft tritt, haben engagierte Frauen einen bedeutenden Sieg errungen: Nach jahrzehntelangem Kampf schreibt der Innenminister die so genannten "geschlechtsspezifischen Asylgründe" in sein Gesetz.

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Das bedeutet: "Mädchen und Frauen, denen bei der Rückkehr in ihre Heimat eine Genitalverstümmelung droht, können dies als eigenständigen Asylgrund aufgrund geschlechtsspezifischer Verfolgung geltend machen." So bestätigte es der Bundestag im Juni 2008 noch einmal in seinem Beschluss zur "Wirksamen Bekämpfung der Genitalverstümmelung von Mädchen und Frauen". So weit die Theorie. In der Praxis bleibt die Einschätzung der drohenden Gefahr weiterhin im Ermessen der GutachterInnen und RichterInnen. Und die fällt nicht immer zugunsten der betroffenen Frauen aus.

So urteilte im August 2006 Richterin Gudrun Dahme am Verwaltungsgericht Münster gegen eine nigerianische junge Frau, die als 16-Jährige aus ihrem Dorf geflohen war, weil man sie verstümmeln wollte: Staatliche Verfolgung liege nicht vor, da der nigerianische Staat die Verstümmelung verbiete und um Aufklärung bemüht sei. Außerdem verfolgten Beschneidungen den Zweck, "betroffene Mädchen bzw. Frauen als vollwertiges Mitglied in die Gesellschaft aufzunehmen und ihrer Familie Anerkennung zu verschaffen".

Denn: "Eine nicht beschnittene Frau wird nicht geachtet, sozial und ökonomisch ausgegrenzt. Unbeschnittene Frauen gelten als gesellschaftlich promiskuitiv, unrein, einer Heirat unwürdig und als Gesundheitsgefahr für sich und die von ihr geborenen Kinder." Doch zog die Richterin daraus keineswegs den Schluss, dass die inzwischen 19-Jährige zu schützen gewesen wäre. Sie lehnte deren Klage auf ein Bleiberecht in Deutschland ab.

Besser erging es einer 17-Jährigen aus Sierra Leone beim hessischen Verwaltungsgerichtshof in Kassel. Ihre ältere Schwester war bereits gegen den Willen der Eltern von Verwandten beschnitten worden. Doch auch hier brauchte es eine Berufungsklage, bis schließlich festgestellt wurde, dass dem Mädchen ein Aufenthaltsrecht zugesprochen werden müsse.

Aber selbst wenn ein Staat die Genitalverstümmelung offiziell verbietet, so ist doch keineswegs garantiert, dass das in der Hauptstadt beschlossene Gesetz die Mädchen in den Dörfern wirklich schützt. Dennoch berufen sich deutsche RichterInnen immer wieder auf die Gesetzgebung des jeweiligen Landes – und lassen die herrschenden Sitten außer Acht.

"Ich habe noch keinen Fall erlebt, in dem ein Asylantrag mit der Begründung der drohenden Genitalverstümmelung sofort akzeptiert worden ist", erklärt Anita Pavlovska-Trajceski. Im Neusser Abschiebegefängnis hat die Sozialarbeiterin häufig mit afrikanischen Frauen zu tun. Jede zweite von ihnen nennt Genitalverstümmelung als Grund für ihren Asylantrag. "Oft erzählen sie, dass sie mit einem älteren Mann verheiratet werden und dafür beschnitten werden sollen." Dann beginnt das Problem: "Die Behörden wollen Beweismittel haben. Aber wenn eine Frau vor der Beschneidung geflohen ist – wie soll sie die Bedrohung beweisen?" Meist stehe dann "offensichtlich unbegründet" in den Anträgen.

Dennoch zeigt das Zuwanderungsgesetz von 2005 Wirkung. Während betroffenen Frauen in den zehn Jahren vor seinem Inkrafttreten insgesamt lediglich 43 Mal eine Duldung erteilt worden war, waren es allein im Jahr 2005 schon 32 Frauen, die wegen drohender Genitalverstümmelung Asyl erhielten. Sechs weiteren wurde ein Abschiebeschutz gewährt.

Laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gab es schon im ersten Jahr des Zuwanderungsgesetzes insgesamt 56 Mal Asyl wegen frauenspezifischer Fluchtgründe; dazu zählen neben Genitalverstümmelung auch Zwangsheirat oder Frauenhandel. 2006 stieg die Zahl der Anerkennungen auf 114. Im Jahr 2007 erhielten 183 Frauen Asyl, weil sie aufgrund ihres Frauseins in ihrem Heimatland in Gefahr gewesen wären.

Doch ohne engagierte FürsprecherInnen haben viele Frauen keine Chance. Samnia und ihre Tochter Nevin hatten Glück. Otto Löber, ein Pfarrer aus dem hessischen Erbstadt, sorgte via Kirchenasyl und einer Protestaktion am bereits wartenden Flugzeug dafür, dass die Familie in Deutschland bleiben durfte. Die ehemalige Lehrerin aus dem Sudan ist einer der schwersten Fälle, die Gynäkologin Sabine Müller, die als Gutachterin bestellt wurde, in ihrer über zehnjährigen Erfahrung mit beschnittenen Frauen zu betreuen hatte: Neun Mal wurde sie bereits operiert. "Bei jedem neuen Eingriff kam es zu weiteren Komplikationen, Abszessen, Fisteln, Nervenschmerzen, Entzündungen, Narbenbildungsstörungen."

Angst hatte Samnia auch um ihre Tochter. Koptische Christinnen wie Nevin sind im Sudan schon von islamistischen Milizen zwangsislamisiert und dann beschnitten worden. Schließlich kann Rechtsanwältin Antje Becker glaubhaft machen, dass Nevin bei Rückkehr in ihr Heimatland vor einer Zwangsverstümmelung nicht sicher geschützt werden kann. Am Ende des Verfahrens, das sich über Jahre zieht, bekommt Nevin schließlich Asyl. Ohne den Einsatz von Pfarrer Löber säßen Mutter und Tochter längst im Flugzeug nach Karthoum.

Renate Bernhard ist mit Sigrid Dethloff Autorin der TV-Doku "Narben, die keiner sieht – Beschnittene Frauen in Deutschland". Mit ihren Filmen "Iss Zucker und sprich süß" über Zwangsheirat und "Hibos Lied" über Genitalverstümmelung halten die beiden Vorträge.

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