Die Unermüdliche

Serap Cileli: „Kaum hatte ich meine Freiheit erkämpft, musste ich sie wieder einschränken.“ - Foto: Ida Henschel
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Am 12. Oktober 1999 dachte Serap Cileli, sie hätte es geschafft. An diesem Tag zeigt das ZDF einen Dokumentarfilm über ihr Leben. Er heißt „Seraps Ehre – Eine Türkin kämpft um ihre Liebe“. Und obwohl ein ängstlicher Redakteur die Ausstrahlung in letzter Sekunde noch hatte stoppen wollen, sehen jetzt alle, die um kurz vor Mitternacht noch vor den Bildschirmen sitzen, was die damals 33-jährige Deutsch-Türkin mit ihrem Mut der Verzweiflung geschafft hatte: Sie befreite sich aus dem Martyrium einer siebenjährigen Zwangsehe und heiratete schließlich den Mann, den sie liebte.

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Ebenfalls in diesen Oktobertagen erreicht Serap Cileli eine gute Nachricht: Ein Verlag will ihr Buch drucken. Zwei Jahre lang hatte sie sich die Geschichte ihrer abenteuerlichen Flucht von der Seele geschrieben. Nach Dutzenden Absagen – Begründung: Ihre Erlebnisse seien „so erschütternd, dass sie Ausländerfeindlichkeit schüren könnten“ – hatte sich ein Kleinverleger aus Lettland (!) ein Herz gefasst. Er will „Wir sind eure Töchter, nicht eure Ehre“ veröffentlichen. Und nun, glaubte Serap Cileli, könnte endlich Ruhe einkehren in ihr Leben. „Ich dachte: Jetzt kannst du dich zurücklehnen.“ Durchatmen. Das Leben mit ihrem Mann Ali genießen. Das Abitur nachmachen. Aber sie hatte sich geirrt.

Eine Woche nach der ZDF-Dokumentation kommt der erste Anruf. „Serap, ich habe deinen Film gesehen. Ich glaube, du bist die einzige, die mir helfen kann“, sagt die 17-jährige Narmin. An ihrem 18. Geburtstag soll das Mädchen, das in Köln aufgewachsen ist, mit einem 40-jährigen Mann aus einem kurdisch-irakischen Dorf verheiratet werden. Was nun folgt, ist die erste, aber nicht die letzte waghalsige Rettungsaktion, die Serap Cileli startet.

Rund 300 Mädchen und Frauen hat sie im Laufe der letzten zehn Jahre aus ihren Familien geholt und ihnen geholfen, sich neue Existenzen aufzubauen. Im Februar 2008 hat sie den Verein peri gegründet. Peri ist türkisch und heißt „Die gute Fee“. Zaubern kann Serap Cileli zwar nicht wirklich, aber doch, wenn alles gut geht, den Wunsch der Mädchen nach einem selbstbestimmten Leben erfüllen.

Das inzwischen rund 40-köpfige Netzwerk hat eine Adressliste mit hilfsbereiten Menschen in ganz Deutschland. So wird ein Mädchen, das Serap zum Beispiel in Frankfurt in den Zug setzt, in Hamburg vom Bahnhof abgeholt und untergebracht. Die ehrenamtlichen HelferInnen begleiten die Geflüchteten bei ihren ersten Ämtergängen oder greifen ihnen bei der Wohnungssuche unter die Arme.

Damals, als die allerersten Hilferufe kamen, hat Serap noch jedes Mädchen persönlich rausgehauen. Dazu brauchte es Mut – und ein gewisses Repertoire an Tricks. „Manchmal ist es wie im Krimi“, sagt Serap Cileli und lacht.

Sie lacht überhaupt viel, und das ist erstaunlich. Denn mit den Rettungsaktionen kamen auch die Morddrohungen. Deshalb müssen Serap, Ali und ihre drei Kinder heute unter Aufsicht des Staatsschutzes leben. „Kaum hatte ich meine Freiheit erkämpft, musste ich sie wieder einschränken“, sagt Serap Cileli. Und diesmal lacht sie nicht.

Sie könnte es leichter haben. Sie könnte einfach aufhören, die E-mails der Mädchen, darunter manchmal Elfjährige, zu beantworten. Sie könnte die Klappe halten, wenn Claudia Roth mal wieder von verschleierten Polizistinnen in England schwärmt, anstatt die Grünen-Chefin der „Mittäterschaft“ zu bezichtigen. Und sie könnte auch ihre Meinung über die Islamkonferenz für sich behalten: „Fast alle beteiligten Verbände werden doch vom Verfassungsschutz beobachtet!“

Theoretisch könnte sie das. Praktisch nicht. Serap Cileli war selbst ein verzweifeltes Mädchen, das 1974 mit acht Jahren von den Eltern ins pfälzische Neustadt geholt wurde. Mit zwölf wird sie mit einem Zwanzigjährigen verlobt. Sie schluckt alle Tabletten aus dem Erste-Hilfe-Kasten. Doch mit 15 ist es dann soweit: Serap wird verheiratet, diesmal im türkischen Mersin. Sieben Jahre und viele Vergewaltigungen später flüchtet die junge Frau, die inzwischen zwei Kinder hat, in ein deutsches Frauenhaus. Die elf Monate dort „waren meine Emanzipation“. Und Ali, der Goldschmied, der in den nächsten Monaten „wie ein Therapeut“ für sie ist. Der ihr zuhört, wenn sie nachts aus ihren Alpträumen aufschreckt. Der den Haushalt schmeißt und die beiden Kinder aus Seraps Zwangsehe und das gemeinsame Baby versorgt. Und der ihr eines Tages eine alte Schreibmaschine vom Flohmarkt mitbringt und sagt: „Schreib alles auf!“

Das Buch schlägt ein wie eine Bombe. Und als Serap wieder einmal mit müden Augen in der Abendschule sitzt, weil sie in der Nacht zuvor für eine Rettungsaktion durch die halbe Republik gefahren ist; als ihre Lesungstermine wieder mal mit ihrem Stundenplan kollidieren, da entscheidet sie sich: für die Mädchen. Im Jahr 2005 wird Serap Cileli für ihr Engagement mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Und es folgen weitere Ehrungen.

Nicht alle begrüßen das. Nicht die türkischen Eltern, die ihre Töchter und Söhne krankmelden, wenn Serap zu einem Vortrag in ihrer Schule eingeladen ist. Nicht die Frauenbeauftragten, die Autorin Cileli wieder ausladen, weil sich der örtliche Moscheeverein beschwert hat. Und auch nicht die linken „Gutmenschen“, die sie fragen, ob sie „von der NPD bezahlt“ sei.

Deshalb hat sich Serap Cileli besonders über den Elisabeth-Selbert-Preis gefreut, den ihr die Hessische Landesregierung gerade verlieh. Weil Namensgeberin Selbert, die den stolzen Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ ins Grundgesetz brachte, ihr Vorbild ist. Und weil sie, das hat Serap irgendwo gelesen, „dabei auch manchmal frustiert war“. Sagt die Kämpferin – und lacht.

Weiterlesen
Serap Cileli: Eure Ehre – unser Leid (Blanvalet, 14.95 €)
http://www.peri-ev.de/

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