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M.J. Sherfey (l.) und H. O'Connell verdanken wir das Wissen über weibliche Sexualität - Foto: Indiana University, Arbutus yearbook 1940
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Zahllose Artikel, ja Titelgeschichten über „Die Macht der Klitoris“, „Die Vulva-Attacke“ oder „Die potente Frau“ ziehen sich seit Erscheinen der EMMA durch alle Ausgaben. 1982 gab EMMA gar ein Sonderheft „Sexualität“ heraus, in dem u.a. Margarete Mitscherlich über „Die Ursprünge weiblicher Lust“ schrieb und Alice Schwarzer „Sieben Jahre nach dem Kleinen Unterschied“ Bilanz zog. Sie hatte mit der Feststellung – die Vagina tauge nur zum Zeugen von Kindern und die Klitoris zum Zeugen von Lust – die Sexordnung der Nation erschüttert.

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Eine von Schwarzers zentralen Zeuginnen war Mary Jane Sherfey, Kinsey-Schülerin und amerikanische Psychiaterin. Sherfey hatte mit ihrem 1966 in den USA erschienenen Buch „Die Potenz der Frau“ (Deutsch 1974) an bekannte Erkenntnisse angeknüpft und neue hinzugefügt: 

Der Embryo ist ursprünglich weiblich

Dass der Embryo ursprünglich weiblich ist und sich erst in der fünften Woche in „männlich“ oder „weiblich“ differenziert (aber eben so manchesmal auch das keineswegs eindeutig). Dass das klitorale System Parallelen mit dem Penis hat, jedoch raumgreifender und damit orgasmusfähiger ist als das der Männer. Dass die sichtbare Klitoris nur die Spitze des Systems ist, von dem sich über 90 Prozent der Schwellkörper und Nervenstränge innerhalb des Körpers befinden (die Klitoris hat über 8000 Nerven). 

Sherfey: „Embryologisch gesehen ist es durchaus richtig, im Penis eine wuchernde Klitoris, im Skrotum eine übertrieben große Schamlippe, in der weiblichen Libido die ursprüngliche zu sehen! Die moderne Embryologie müsste für alle Säugetiere den Adam-und-Eva-Mythos umkehren.“ Also: Adieu Penisneid und bonjour Klitorisneid?

Der Mann, die Krone der Schöpfung, nur eine Variante des weiblichen Prinzips? Der Phallusträger weniger potent als das andere Geschlecht? Der Penis nicht das Sesam-Öffne-Dich zur weiblichen Lust, sondern oft genug ein Blindgänger? Das musste Ärger geben.

Sexualforscherin Sherfey schloss aus ihren Erkenntnissen, dass das Patriarchat die unzähmbare Potenz der Frau unterdrückt habe. Und sie befand, die „sexuelle Befreiung“ der 1960er Jahre sei nur eine neue, besonders perfide Variante der Unterdrückung weiblicher Sexualität. Denn sie ignoriere die Klitoris als Lustorgan und erkläre den rein körperlich ja gar nicht möglichen „Vaginalorgasmus“ zur Norm.

Adieu Penisneid und bonjour Klitorisneid

Sherfey auf dem Höhepunkt der „sexuellen Revolution“, Mitte der 1960er Jahre, kritisch: „Makabererweise wächst die Zahl der Frauen (und Männer), welche die Gleichung Vaginalorgasmus=Normalität bedingungslos akzeptieren. Die Folge davon ist ein stetig wachsendes Schuld­gefühl, ein Bewusstsein der Furcht und des Ressentiments bei in jeder Beziehung durchaus gesunden Frauen, denen es nicht gelingen will, jenen so schwer greifbaren Preis zu erringen.“

In Fachkreisen ist die Aufregung groß über Sherfeys unverhüllte Attacke. Die aufbrechende Frauenbewegung jedoch sieht sich von der Sexualforscherin bestätigt in ihren Theorien zur Verknüpfung von Sex & Macht. Sherfeys Thesen von der weiblichen Potenz beeinflussen entscheidend das Begehren wie Denken neuer Feministinnen in der westlichen Welt.

Es wird jedoch zwei Generationen dauern, bis eine australische Neurologin im Jahr 1998 handfeste Beweise für Sherfeys Theorie nachschiebt. Helen O’Connell veröffentlicht in ihrer Studie „Anatomy of the Clitoris“ das Resultat ihrer Erkundungen mit dem Messer. Sie hatte zehn Frauenleichen seziert und fotografiert und kam zu dem Schluss, dass das klitorale System mindestens doppelt so groß sei wie in gängigen Anatomiebüchern beschrieben.

O’Connell bestätigt Sherfey: „Der Schwellkörperanteil ist sogar größer als beim Mann.“ Zwei mit der Klitorisspitze verbundene Stränge von Daumenlänge umfassen zwei zwiebelförmige Schwell­körper, die tief in den Körper der Frau reichen, teilweise bis an die Vorderwand der Vagina. Das ist der Bereich, der auch als „G-Punkt“ bezeichnet wird.

Endlich also auch ein körperlicher Beleg für den von so mancher Frau empfundenen „vaginalen Orgasmus“. Der hat also nicht nur emotionale Gründe („Vereinigung“), sondern kann auch rein körperlich verursacht sein: Indem der Penis gegen die Vaginawand reibt und so die klitoralen Schwellkörper animiert.

OPs auf Kosten der Lustfähigkeit

Doch worüber schon Mary Jane Sherfey sich gewundert hatte, das musste nun, 32 Jahre später, auch O’Connell wieder feststellen: Medizinische Fachbücher sowie Schulbücher glänzten – und glänzen bis heute! – durch Ignoranz in Bezug auf das Ausmaß und die Lage des weiblichen Sexualorgans; weder Nervenbahnen noch Blutgefäße sind ausreichend verzeichnet. Was schwerwiegende Folgen haben kann. Bei Operationen kann das klitorale System beschädigt oder gar durchtrennt werden – auf Kosten der Lustfähigkeit der Frau.

O’Connell ist heute die Chefin der Neuro-Urologie am Royal Melbourne Hospital und Professorin für Chirurgie an der Universität. Dort lehrt sie auch, dass Mediziner das Ausmaß und die Lage des klitoralen Systems schon vor rund 250 Jahren erkannt und benannt hatten. So hatte bereits der Holländer Regnier de Graaf (1641–1673) eine Studie über die Klitoris und ihre Ausdehnungen veröffentlicht. Und der deutsche Arzt Georg Ludwig Kobelt (1804–1857) hatte in seinem 1844 erschienenen Standardwerk „Die männlichen und weiblichen Wollustorgane des Menschen und einiger Säugethiere“ erneut die Klitoris samt Schwellkörpern beschrieben inklusive detaillierter Zeichnungen. Seine Beschreibung der Klitoris ist im Prinzip bis heute gültig. Kobelt und de Graafs Kollegen hätten es also wissen können – wenn sie nur gewollt hätten.

Wohl nicht zufällig erschienen die Forschungen von Kobelt und Sherfey jeweils zu Beginn der historischen bzw. neuen Frauenbewegung. Denn jede Emanzipa­tionsbewegung von Frauen muss sich nicht nur auf ihre intellektuelle, sondern auch auf ihre sexuelle Potenz besinnen. Zur Frauenbefreiung gehört immer auch die Befreiung ihres (unterdrückten oder deformierten) Begehrens. Dennoch bleibt die Klitoris bis heute umstritten – als Ort der sexuellen Potenz der Frauen wie als Symbol, vergleichbar dem männlichen Phallus.

In den 1970er und 1980er Jahren existierten zwar auch zwischen Frauen und Männern durchaus differenziertere, das heißt nicht koital fixierte Sexualpraktiken. Doch sind die durch die Pornografisierung der Sexualität und die erneute Etablierung des Koitus als die Krönung der Heterosexualität wieder weitgehend verdrängt worden. Zeit also, an die Klitoris zu erinnern – die Königin der weiblichen Lust.

Dieser Artikel erschien im Dossier "What about Sex?" in der EMMA-Ausgabe Juli/August 2013. Ausgabe bestellen

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„Le Clit“: Die große Unbekannte!

Das Klitoris-Graffiti an der Wasserwerkstraße. Fotos: Conradin Zellweger
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Wir wittern Gefahr! Denn in Zürich treibt ein Phantom, vermutlich eine Phantomin, ihr Unwesen! Ihr Gesicht, ihr Name - unbekannt! Aber sie hinterlässt eindeutige Spuren mit dem Slogan: „Le Clit“. Die Klitoris.

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Bislang sah man auch in Zürich eher wenig ansehnliche Penis-Graffitis. Aber seit einigen Tagen prangt da eine überdimensionale Klitoris an einer Wand auf der Wiese nahe der Zürcher Gemeinschaftszentren. Das berichtet das Zürcher Online-Stadtmagazin Tsüri.ch – und freut sich: „Dieses Klitoris-Graffiti war überfällig!“ 

Und siehe da: Ein paar Meter weiter, an der Zürcher Wasserwerkstraße, noch so eine Klitoris.

Wer ist bloß die Sprayerin, die diese Graffitis anfertigt? Sie ist eine Unbekannte. Wie passend. Das hat sie schließlich in vielerlei Hinsicht mit ihrem Motiv gemein.

Bei EMMA mehr über die Klitoris erfahren.
Den ganzen Artikel bei Tsüri.ch lesen.

 

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