Abtreibung: Weg mit § 219a!

Ärztin Kristina Hänel (Mi) mit Politikerinnen vor dem Reichstag.
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Ein kalter Wind pfiff über den Platz vor dem Berliner Reichstag, als Kristina Hänel das Megafon ergriff. „Ich freue mich sehr, dass über 150.000 Unterschriften für meine Petition zusammengekommen sind und bedanke mich bei allen Unterstützerinnen und Unterstützern. Jetzt ist es an der Politik, daraus etwas Gutes zu machen!“

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Das war im Dezember, und jetzt sieht es tatsächlich so aus, als hätten einige Politikerinnen die Ärmel aufgekrempelt und könnte der schändliche §219a schon bald aus dem deutschen Strafgesetzbuch gestrichen werden.

Wem werden sich die PolitikerInnen verpflichtet fühlen?

Laut diesem Gesetz macht sich strafbar, wer „seines Vermögensvorteils wegen (...) Dienste zur Vornahme eines Schwangerschaftsabbruchs (...) anbietet, ankündigt oder anpreist“. Das bedeutet: Jede Ärztin und jeder Arzt, der Abtreibungen vornimmt (für ein Honorar, versteht sich) und darüber informiert, steht mit einem Bein im Gefängnis. Es sei denn, sie oder er nimmt die Information von seiner Website, sobald die Staatsanwaltschaft vorstellig wird.

Die Gießener Ärztin Kristina Hänel aber weigerte sich, das zu tun. Sie war – wie schon viele ihrer KollegInnen – mehrfach von so genannten „Lebensschützern“ angezeigt worden. Ihr „Vergehen“: Sie hatte auf ihrer Website angegeben, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführt. Per E-Mail konnte man Informationen über den ­Ablauf eines Abbruchs, die gesetzlichen ­Voraussetzungen und die Risiken anfordern.

Kristina Hänel auf Twitter.
Kristina Hänel auf Twitter.

Am 24. November 2017 war Hänel deshalb vom Gießener Amtsgericht zu einer Geldstrafe von 6.000 Euro verurteilt worden (EMMA 1/18).

Doch Hänel nahm das Urteil nicht hin und beschloss zu kämpfen. Sie will durch die Instanzen gehen, zur Not bis zum Bundesverfassungsgericht. Schon vor dem Prozess hatte sie auf Change.org eine Petition für die Abschaffung des Knebel-Paragrafen gestartet. Die Resonanz war enorm. Über 150.000 Menschen unterschrieben, die Medien berichteten über Petition und Prozess.

Als Kristina Hänel ihre Unterschriften vor dem Reichstag übergab, waren etliche Politikerinnen gekommen, um sie entgegenzunehmen: Katja Kipping und Cornelia Möhring von der Linken, Renate Künast und Ulle Schauws von den Grünen, Eva Högl von der SPD und Katja Suding von der FDP. Nur Vertreterinnen der Union fehlten.

Nun kam Bewegung in die Sache. Die Linke hatte schon zwei Tage vor Prozess-­Beginn einen Gesetzentwurf vorgelegt, in dem sie die Streichung des § 219a fordert. Inzwischen haben auch SPD und Grüne je einen Entwurf eingebracht, der ebenfalls die Abschaffung des ÄrztInnen und Frauen entmündigenden Gesetzes vorsieht. Allerdings brauchen die drei Parteien, die zusammen nur über 289 von 703 Bundestags-Sitzen verfügen, noch die FDP im Boot. Immerhin waren die Liberalen in den 1970er-Jahren die führenden Gegner des § 218 und Befürworter der Fristenlösung. Doch: „Die Fraktion ist noch im Meinungsbildungsprozess“, heißt es aus dem Büro von Katja Suding, der stellvertretenden Bundesvorsitzenden der FDP.

Dass der § 219a nicht bleiben kann, wie er ist, sei allerdings auch in der FDP unstrittig. Uneins sind sich die heutigen Liberalen darüber, ob das Gesetz ganz gestrichen werden soll oder ob das „Anpreisen“ von Schwangerschaftsabbrüchen weiterhin unter Strafe stehen soll, das bloße „Anbieten“ aber künftig erlaubt wird.

Und wird die SPD sich an ihre Versprechen erinnern?

CDU/CSU sind sich einig: „Wer den Paragrafen 219a StGB ersatzlos aufheben möchte, muss in Zukunft mit offener Werbung im Internet und Fernsehen, in Zeitschriften etc. für Abtreibungen rechnen.“ Dabei ist „anpreisende, irreführende oder vergleichende Werbung“ für medizinische Leistungen laut Ärzte-Berufsordnung verboten. Die AfD, die in ihrem Wahlprogramm eine „Willkommenskultur für ­Ungeborene“ fordert und Abtreibung am liebsten ganz verbieten würde, will den § 219a sowieso nicht antasten.

Bleibt zu hoffen, dass die SPD sich auch nach abgeschlossenen GroKo-Verhandlungen noch an ihre Ankündigung erinnert: „Wir haben das Problem jetzt erkannt und sollten deswegen auch jetzt loslegen, unabhängig von Regierungsbildung und Koali­tionsverhandlungen“, hatte Eva Högl, die stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, erklärt.

Das Recht der ÄrztInnen, ungewollt schwangere Frauen zu informieren, steht und fällt jetzt also mit der SPD – und der Frage, wem sich die Sozialdemokraten stärker verpflichtet fühlen: dem Koalitionspartner – oder den Frauen.

Mehr zum Thema
Das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung ruft für 15 Uhr zu einer Aktion vor dem Berliner Reichstag auf.
Weitere Informationen: solidaritaetfuerkristinahaenel.wordpress.com 

 

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Abtreibung: Es geht wieder los!

Foto: M. Meyborg
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Als Richterin Maddalena Fouladfar ihr Urteil verkündet, dringen von draußen laute Buhrufe in den Gerichtssaal. In Sekundenschnelle war die Nachricht bis zu den rund hundert Menschen gedrungen, die nicht mehr in den zum Bersten vollen Saal gepasst und während der Verhandlung draußen weiter protestiert hatten. Den ganzen Prozess hindurch waren ihre Sprechchöre durch das Fenster zu hören gewesen, darunter der alte Frauenbewegungs-Slogan: „Ob Kinder oder keine, entscheiden wir alleine!“ Dass diese Entscheidungsfreiheit in größter Gefahr ist – diese Lektion wurde am 24. November 2017 vor dem Gießener Amtsgericht nicht nur der Ärztin Kristina Hänel erteilt, sondern allen deutschen ÄrztInnen – und allen deutschen Frauen.

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Hat Hänel TV-Spots mit „Abtreibungs-Werbung“ geschaltet?

Im Gerichtssaal selbst herrschte bedrücktes Schweigen, nachdem die Richterin erklärt hatte, dass sie dem Antrag und auch der Argumentation der Staatsanwaltschaft folgen werde: Die Gießener Ärztin Kristina Hänel wird zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen à 150 Euro, also insgesamt 6.000 Euro, verurteilt. Denn: Sie habe sich „schuldig gemacht, Werbung für den Abbruch von Schwangerschaften betrieben zu haben“.

Hat Kristina Hänel Litfaßsäulen plakatiert oder TV-Spots mit „Abtreibungs-Werbung“ geschaltet? Aber nein. Ihr Vergehen besteht darin, dass, so die Richterin, „Sie auf Ihrer Website über die verschiedenen Formen des Schwangerschaftsabbruchs informiert haben und angegeben haben, dass Sie selbst diese durchführen“.

Wer auf die Website von Hänels Arztpraxis geht, erfährt dort, dass die Fachärztin für Allgemeinmedizin nicht nur EKGs, Lungenfunktionsuntersuchungen oder Ultraschalluntersuchungen der Schilddrüse durchführt, sondern auch Schwangerschaftsabbrüche. Wer auf den Link „Schwangerschaftsabbrüche“ klickt, kann nun per E-Mail Informationen ­anfordern und bekommt per PDF ein ­Informationsblatt geschickt. Darin wird zunächst erklärt, was die gesetzliche Voraussetzung für einen legalen Abbruch ist: eine schriftliche Bescheinigung über eine Beratung bei einer gesetzlich anerkannten Beratungsstelle oder eine ärztliche Bestätigung einer „medizinischen oder kriminologischen Indikation nach dem § 218 StGB“. Dann beschreibt die Praxis Hänel den Unterschied zwischen medikamentösem und chirurgischem Abbruch, inklusive der „Nebenwirkungen und Komplikationen“, die möglicherweise auftreten könnten. Außerdem erläutert das Informationsblatt, unter welchen Bedingungen die Krankenkasse die Kosten für den Abbruch übernimmt.

Warum Kristina Hänel deshalb angeklagt werden konnte? Weil es in Deutschland ein Gesetz gibt, dessen Existenz vor diesem Prozess kaum jemand zur Kenntnis genommen hatte. Laut § 219a macht sich strafbar, wer „seines Vermögensvorteils wegen (...) Dienste zur Vornahme eines Schwangerschaftsabbruchs (...) anbietet, ankündigt oder anpreist“.

Wie es sein kann, dass das „Anbieten“ eines Schwangerschaftsabbruchs unter Strafe steht, wenn doch Abtreibung innerhalb der ersten drei Schwangerschaftsmonate legal ist? Weil Abtreibungen in Deutschland auch nach dem „Abtreibungskompromiss“ von 1995 immer noch verboten sind. „Wer eine Schwangerschaft abbricht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft“, lautet der erste Satz des § 218. Die Abtreibung bleibt jedoch in den ersten zwölf Wochen straffrei, wenn die ungewollt Schwangere sich bei einer gesetzlich zugelassenen Beratungsstelle beraten lässt und zwischen Beratung und Abbruch mindestens drei Tage liegen. Weil sich der Gesetzgeber auch 1995 – ein Viertjahrhundert nach der spektakulären „Wir haben abgetrieben!“-Aktion – immer noch nicht zur einer klaren Fristenlösung durchringen konnte, hat Deutschland ein paradoxes Konstrukt: Abtreibung ist hierzulande „rechtswidrig“, aber – unter bestimmten Bedingungen – gnädigerweise straffrei.

Wieso steht  das „Anbieten“ eines Schwangerschafts-
abbruchs unter Strafe?

Diese juristische Kapriole ist ein gefundenes Fressen für fanatische Abtreibungsgegner wie Günter Annen, dem Betreiber der Website „Babycaust“. Da zeigt der 66-jährige Industriekaufmann aus Weinheim Bilder von zerstückelten Föten und behauptet: „Gestern KZs, heute OPs!“ Seit Jahren zeigt der selbsternannte „Lebensschützer“ MedizinerInnen wegen Verstoßes gegen das „Werbeverbot“ an und veröffentlicht „schwarze Listen“ mit Hunderten Namen und Adressen von Arztpraxen, in denen „ungeborene Kinder ermordet“ werden.

Auch der Prozess gegen Kristina Hänel, die selbst Mutter von zwei Kindern und Großmutter von fünf Enkelkindern ist, geht auf eine Strafanzeige von Annen zurück. Es ist bereits die dritte gegen die Ärztin, die der Fanatiker als „Tötungs­spezialistin“ diffamiert.

Bisher hatten die Staatsanwaltschaften die Verfahren gegen Hänel und die anderen ÄrztInnen allerdings stets eingestellt, meist gegen die Auflage, die „Werbung“ von der Homepage zu entfernen. Die Staatsanwaltschaft Gießen ist die erste, die Anklage erhoben hat. Offenbar wollte sie an Kristina Hänel ein Exempel statuieren. Denn die Ärztin ist davon überzeugt, dass „Frauen das Recht haben, sich sachlich über einen Schwangerschaftsabbruch zu informieren. Wenn wir Ärztinnen und Ärzte diese Information nicht geben dürfen, landen die Frauen zwangsläufig auf den diffamierenden Websites der Abtreibungsgegner.“

Nach dem ersten Schock über die Anklage beschloss Kristina Hänel also, nicht nur für sich, sondern für alle Frauen gegen den § 219a zu kämpfen. Auf der Kampagnen-Plattform change.org veröffentlichte sie eine Petition: „Der § 219a ist veraltet und überflüssig“, schrieb sie. „Er behindert das Anrecht von Frauen auf sachliche Informationen. De facto entscheiden die Beratungsstellen, wo die Frauen zum Schwangerschaftsabbruch hingehen können, da viele Ärzte eingeschüchtert sind und ihre sachlichen Informationen von den Websites herunternehmen aus Angst vor Strafverfolgung. Auch und gerade beim Thema Schwangerschaftsabbruch müssen Frauen freie Arztwahl haben und sich medizinisch sachlich und richtig informieren können!“

Innerhalb weniger Tage hatte Kristina Hänels Petition rund 60.000 Unterschriften – am Tag nach dem Urteil waren es schon 130.000. Und über 70 Ärztinnen und Ärzte unterschrieben eine „Solidaritätserklärung“ mit ihrer Kollegin und forderten: „Ärztinnen und Ärzte dürfen nicht kriminalisiert werden, wenn sie ihrer Informations- und Aufklärungspflicht Patientinnen gegenüber nachkommen.“ Der „Arbeitskreis Frauengesundheit“ (AKF) protestierte ebenso wie Pro Familia, der Juristinnenbund und die DGB-Frauenkonferenz, die konstatierte: „Die Anzeige und wiederholte Anklage gegen Kris­tina Hänel ist Ausdruck der wachsenden rückwärtsgewandten und antifeminis­tischen Stimmung und Haltung in Deutschland. Und dieser Prozess ist nur die Spitze des Eisbergs!“

So ist es. Nicht erst, seit mit der AfD eine Partei im Bundestag sitzt, die das Recht auf Abtreibung laut Wahlprogramm abschaffen will, hat sich das gesellschaftliche Klima verschärft. Seit 2008 ruft der „Bundesverband Lebensrecht“ ­jedes Jahr Ende September zum „Marsch für das Leben“. Tausende folgen dem Aufruf und verkünden, flankiert von Grußworten von Unionspolitikern, ihre frommen Wünsche: Ein „Europa ohne Abtreibung und Euthanasie“, in dem Schwangere keine „Hilfe zum Töten“ mehr erhalten.

"Lebensschützer" zeigen den Frauen zerfetzte Föten.

Die „Lebensschützer“ schüchtern Frauen bei so genannten „Gehsteigberatungen“ vor Arztpraxen ein. Sie bilden Spaliere, durch die die Frau hindurch muss und zeigen den Frauen Fotos zerfetzter Föten. Sie setzen Krankenhäuser unter Druck. Mit Erfolg. 2013 verweigerte in Köln eine katholische Klinik einer vergewaltigten Frau die „Pille danach“. Anfang 2017 weigerte sich in Niedersachsen die einzige Klinik des Landkreises ­Lüchow-Dannenberg, weiterhin Abtreibungen durchzuführen. Der neue Chef der Gynäkologie begründet seinen Boykott, „am OP-Tisch die Tötung werdenden Lebens vorzunehmen“, mit seinem „christlichen Glauben“. Und in Bayern müssen die meisten Frauen für Abtreibungen schon lange das Bundesland verlassen.

Immer weniger MedizinerInnen können oder wollen Abbrüche durchführen. Dieser häufigste medizinische Eingriff bei Frauen ist, auch das eine weitgehend ­unbekannte Tatsache, nicht Teil der ärztlichen Ausbildung. Zwar wird im Medizinstudium die so genannte „Abort-Kürettage“ gelehrt, also die Ausschabung nach einem abgegangenen Fötus. Offiziell aber gehört der Schwangerschaftsabbruch, der in Deutschland jährlich rund 100.000 Mal angewandt wird, nicht zum medizinischen Curriculum. Eine Gruppe MedizinerInnen an der Berliner Charité kämpft nun darum, dass sich das ändert. Aber auch der moralische Druck auf die ÄrztInnen wächst. „Es gibt immer weniger Ärzte, die Abtreibungen durchführen. Wenn man das tut, gerät man in eine Schmuddelecke“, weiß auch Kristina ­Hänel. Die Folge könnte eines nicht allzu fernen Tages sein, dass Frauen wieder auf dem Küchentisch von „Engelmacherinnen“ landen.

Und so ließen im Gießener Gericht weder Richterin Fouladfar noch Staatsanwalt Schneider einen Zweifel daran, worum es im Kern der Sache geht: Frauen die freie Entscheidung über eine Mutterschaft zu verwehren. Die Richterin befürwortete, dass Frauen sich nicht eigenständig für eine Ärztin ihrer Wahl entscheiden können. Dabei offenbarte die Juristin in ihrer Urteilsbegründung eine beklemmende Unkenntnis der bestehenden Rechtslage. „Wenn die Beratungsstellen meinen, dass im konkreten Fall der Schwangerschaftsabbruch durchzuführen ist, dann geben sie der Frau die Adressen“, erklärte die Richterin. Sie hat offenbar nicht begriffen – oder nicht begreifen wollen –, dass nicht die Beratungsstellen die Entscheidung über den Abbruch treffen, sondern letztendlich die ungewollt schwangere Frau. Die Beratungsstellen sollen eben nicht entscheiden, sondern beraten. Und zwar, so verpflichtet sie das Gesetz, „ergebnisoffen“.

Es geht darum, Frauen die freie Entscheidung zu verwehren.

Kristina Hänel ist in ganz Gießen die einzige(!) Ärztin, die Schwangerschaftsabbrüche durchführt. Der Staatsanwalt wertete das jedoch keineswegs als Ausdruck des zunehmend restriktiven gesellschaftlichen Klimas. Vielmehr entstehe der Ärztin, wenn ihr die „offensive Werbung“ gestattet sei, ein „nicht unerheblicher Wettbewerbsvorteil“. Über einen solchen Zynismus konnten die rund 80 ZuschauerInnen im Gerichtssaal nur laut aufstöhnen.

Unter diesen Bedingungen hatte die Forderung von Verteidigerin Monika Frommel keine Chance: Die emeritierte Rechtsprofessorin hatte entweder einen Freispruch verlangt – oder, dass das Gericht den § 219a dem Bundesverfassungsgericht vorlegt. Frommel geht davon aus, dass das Gesetz verfassungswidrig sei. „Die Frau hat seit 1995 die Entscheidungsfreiheit“, erklärte sie. „Und Entscheidungsfreiheit bedeutet, dass Ärztinnen und Ärzte rechtmäßig handeln, wenn sie Abbrüche vornehmen.“ Folglich verstoße der § 219a, der im Übrigen von den Nationalsozialisten eingeführt worden sei, gegen die Informationsfreiheit der Frauen und gegen die Berufsfreiheit der ÄrztInnen.

In der Tat beschäftigt die Frage, ob eine sachliche Information wirklich gleichzusetzen ist mit „Werbung“ für Schwangerschaftsabbrüche, die Juristen seit Jahren. So kam bereits 2005 der Kölner Strafrechtsprofessor Cornelius Nestler in einem Gutachten zu dem Schluss, dass der § 219a verfassungswidrig sei. Auch Martin Löhning, Professor für Rechtsgeschichte an der Universität Regensburg, hält das Gesetz für nicht verfassungskonform: „Eine reine Leistungsbeschreibung, die nicht behauptet, Abtreibung sei toll, ist keine Werbung.“ Ja sogar das Verfassungsgericht selbst hat 2006 eine klare Aussage zum Problem getroffen. Damals war es um die Klage eines „Lebensschützers“ gegangen, der vor der Praxis eines Arztes Flugblätter verteilt hatte. Die Karls­ruher RichterInnen hatten argumentiert, es müsse „dem Arzt auch ohne negative Folgen für ihn möglich sein, darauf hinzuweisen, dass Patientinnen seine Dienste in Anspruch nehmen können“. Dennoch sah Richterin Fouladfar „nicht, wo die Verfassungswidrigkeit des § 219a gegeben sein soll“.

Entsprechend harsch fiel nach dem Gießener Urteil das Urteil von Strafrechts-Professorin Monika Frommel über das Urteil aus. Ein „Abgrund rechtlicher Unkenntnis“ habe sich hier offenbart. „Ein solches Denken erwarte ich in der Türkei, im Iran oder in Saudi-Arabien“, erklärte sie dem ReporterInnen-Pulk, der vor dem Gerichtssaal die Mikrofone auf die Anwältin richtete. Selbstverständlich werde man in Revision gehen.

Auch in Deutschland ist der Backlash in vollem Gange.

Die Gießener Ärztin Hänel ist nicht mehr die einzige, die sich wehrt. Die Kasseler Gynäkologin Nora Szász und ihre Kollegin Natascha Nicklaus gehören ebenfalls zu den ÄrztInnen, die von dem fanatischen Abtreibungsgegner Günter Annen und seiner Initiative „Nie wieder!“ angezeigt wurden. Auch sie haben sich, wie Kristina Hänel, geweigert, die Information von ihrer Website zu löschen, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Auch ihnen steht bald ein Prozess ­bevor. „Es geht nicht, dass es für Frauen immer schwieriger wird, sich über Schwangerschaftsabbrüche zu informieren“ sagt Ärztin Szász. „Das führt nicht dazu, dass es weniger Abtreibungen gibt, sondern dazu, dass ungewollt schwangere Frauen immer später zu uns kommen.“ In der Schweiz, in der Abtreibung wie in Deutschland rechtswidrig, aber straffrei ist, sind übrigens die Kantone selbst gesetzlich verpflichtet, Arztpraxen und Kliniken zu benennen, in denen Frauen eine Schwangerschaft abbrechen lassen können.

Vielleicht kommt die Politik der Justiz ja zuvor: Aufgerüttelt durch den Fall Hänel hat Die Linke gerade einen Gesetzentwurf vorgelegt, um den § 219a zu streichen bzw. gesetzlich klar zwischen Werbung und Information zu unterscheiden. Womöglich könnten die Parteien im Bundestag das momentane Machtvakuum nutzen und das entmündigende Gesetz kurzerhand abschaffen. Eine Mehrheit dafür gäbe es, denn bis auf Union und AfD sind alle dafür.

Was aus dem §219a wird, wird also nicht in Gießen entschieden, sondern früher oder später in Berlin oder Karls­ruhe. Eins ist aber nicht erst seit dem heutigen Urteil klar: In Deutschland ist das Recht auf Abtreibung keineswegs gesichert. Der Backlash ist in vollem Gange. 

Chantal Louis

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