Afghaninnen: Wir sind noch da!

Die afghanische Pop-Sängerin Aryana Sayeed - ein Dorn im Auge der konservativen Kleriker.
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Sie sind Informatikerinnen, Architektinnen, Betriebswirtinnen. Sie kehrten in den 2000ern zurück nach Afghanistan und wollten etwas aufbauen, den Frauen und Mädchen eine Zukunft geben. Nun stehen sie auf den Todeslisten der Taliban. Die Wahl-Münchnerin Nahid Shahalimi hat diese Frauen porträtiert. Sie kämpfen weiter – und wie!

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"Während ich als Jurorin bei ‚The Voice of Afghanistan‘ tätig war, präsentierte ein anderer Fernsehsender namens Noorin TV in den ersten zwölf Tagen des Fastenmonats jeden Abend einen anderen Mullah als Gast – und jeden Abend sprachen sie eine Stunde lang ausschließlich über mich und darüber, welch negativen Einfluss ich auf die Gesellschaft und die Frauen in Afghanistan hätte. In der dreizehnten Nacht kamen alle zwölf Mullahs zusammen und erließen eine gemeinsame Fatwa: Jeder, der Aryana Sayeeds Kopf abschlägt und ihn zu ihnen bringt, kommt in den Himmel.“

Das war acht Jahre vor dem Schicksalsdatum, dem 15. August 2021. Die Sängerin Aryana, ein Superstar in Afghanistan im westlich-orientalischen Outfit, mit zahlreichen Fernsehshows, war schon damals ein Dorn im Auge der konservativen Kleriker. Trotz der drohenden Todesgefahr trat sie weiter auf, live, tanzend, mit offenen Haaren. Und immerhin war das noch möglich in dieser „freien Zeit“, zwischen 2001 und 2021.

Sollte ich gefangen werden, schieß mir eine Kugel in den Kopf

Aber dann kam der 15. August 2021. „Sollte ich gefangengenommen werden“, sagt Aryana zu ihrem Ehemann, der ihr Manager ist, „schieß mir eine Kugel in den Kopf“. Denn natürlich ist eine wie sie an oberster Stelle auf der Todesliste der Taliban. Einen Tag nach der Machtübernahme, kurz vor Mitternacht und in letzter Sekunde, schafft Aryana es mit ihrem Mann auf das Flughafengelände. „Mein Herz schmerzt, wenn ich an die vielen schönen jungen Frauen denke, die mich zum Vorbild nahmen“, schreibt sie.

Politikwissenschaftlerin Mariam Safi; Initatiorin der Frauenproteste Mariam Safi und Informatikerin Manzizha Wafeq.
Politikwissenschaftlerin Mariam Safi; Initatiorin der Frauenproteste Mariam Safi und Informatikerin Manzizha Wafeq.

Wie fast jede der 13 Frauen, die Nahid Shahalimi für ihr Buch „Wir sind noch da“ um Texte gebeten bzw. interviewt hat, war auch Aryana Anfang der 1990er das erste Mal aus Afghanistan geflohen, damals als Kind zusammen mit ihren Eltern, der Exodus der fortschrittlich denkenden, wohlhabenden Familien nach London, Pakistan, Deutschland oder Kanada. Anfang der 2000er Jahre dann kehrten die Töchter, gut ausgebildet und voller Hoffnung in ihr vertrautes und fremdes Land zurück. Informatikerinnen, Architektinnen, Politikwissenschaftlerinnen oder Betriebswirtinnen kamen, um mit anzupacken. Sie alle träumten davon, den Frauen und Mädchen eine Zukunft geben zu können in diesem Land, das unter der ersten Taliban-Herrschaft in eine Wüste verwandelt worden war: keine Schule für Mädchen, keine Ausbildung, keine Zukunft. Das wollten sie ändern.

Frauen wie Fereshteh Forough, Informatikerin, die 2015 „Code to Inspire“, eine Programmierschule für Mädchen gründete. Zunächst argwöhnisch beäugt, kamen nach und nach immer mehr Mädchen zu ihr, unterstützt von Vätern, Brüdern und Ehemännern, die festgestellt hatten, dass die Absolventinnen von „Code to Inspire“ Respekt und gut bezahlte Arbeit bekamen. „Es gefiel ihnen, dass die Mädchen Geld mit ihren Laptops verdienten – ohne zu verstehen, was die genau taten“, schreibt Fereshteh.

Oder Manizha Wafeq. In Pakistan in Englisch und Informatik ausgebildet und, wie viele der in diesem Band Versammelten von ihrem Vater unterstützt, kehrte auch sie zurück in ihr Geburtsland. 2013 war sie in zahlreiche Provinzen gereist, um Frauen mit neuen Geschäftsideen zu treffen: Nazifah, die frischen Apfelsaft presste und umweltfreundlich verpackte, oder Marghuba, die Bio-Seife herstellte und eine Online-Plattform gründete. Manizha initiierte mit diesen modernen Unternehmerinnen einen Zusammenschluss von Geschäftsfrauen, und später sogar eine Industrie- und Handelskammer – für Frauen. Mit fünf Büros in Kabul und vier in weiteren Provinzen.

Oder Mariam Safi. Auch sie kehrte zurück, aus Kanada, wo sie Politikwissenschaft und Internationale Friedensforschung studiert hatte. In Kabul gründete sie das „Institute of Organisation for Policy Research and Development Studies“ (DROPS), einen Think Tank für Politikforschung.

Dageblieben war Roya Sadat, eine der interessantesten Filmemacherinnen Afghanistans. Ihre Familie war während der ersten Taliban-Ära nicht geflohen. Als Roya und ihre fünf Schwestern nicht mehr zur Schule gehen durften, schrieb sie ihr erstes Drehbuch. Roya Sadat stellt in ihren Dokumentar- und Spielfilmen afghanische Frauen in den Mittelpunkt. Sie war Mitbegründerin und Vizepräsidentin des International Women’s Film Festival von Afghanistan.

Roya Sadat begleitete 2020 mit der Kamera die vier Frauen, die bei den Verhandlungen mit den Taliban in Doha dabei waren. Die einzigen Frauen in der ansonsten exklusiven Männerrunde. Roya filmte, wie sie versuchten, Frauenrechte mit auf die Agenda zu setzen. Zwei von ihnen sind die Juristin und Politikwissenschaftlerin Fawzia Koofi, ehemaliges Mitglied des afghanischen Parlaments, und die Rechtswissenschaftlerin Fatima Gailani, die 2001, nach dem Sturz des ersten Taliban-Regimes, an der Ausarbeitung der neuen Verfassung beteiligt war. Auch sie kommen im Buch zu Wort.

Fawzia Koofi und Fatima Gailani gehörten, ebenso wie Mariam Safi, die Gründerin des Think Tank DROPS, zu den Frauen, die schon früh davor warnten, dass es in Afghanistan zu einer erneuten Katastrophe kommen könnte. Bereits vor vier Jahren informierten sie darüber, dass kleine Mädchen wieder aus der Schule vertrieben werden. 2018 beschwor Mariam Safi unter Tränen den UN-Sicherheitsrat, das Land rechtzeitig zu stabilisieren, sich an die Seite der modernen Afghaninnen und Afghanen zu stellen und die für den Friedensprozess so wichtigen Frauen miteinzubeziehen. Umsonst.

Und nun? Nahid Shahalimi seufzt am Telefon. Die Autorin und Künstlerin, die seit 20 Jahren in München lebt, hat – nach dem ersten Schock, der Wut und der Verzweiflung – gehandelt. In den Wochen nach der Machtübernahme hat sie Frauen in Afghanistan kontaktiert, da waren die meisten noch im Land. „Ich musste einfach etwas tun“, sagt sie. „Nicht in der Schockstarre verharren und schweigen. Denn wir sind noch da! Wir wollen uns Gehör verschaffen. Und die Arbeit an dem Buch hat uns allen auch geholfen, unsere Wut und unseren Schmerz in etwas Konstruktives zu verwandeln.“

Wir sind noch da, wir müssen uns Gehör verschaffen! Es geht um unser Leben!

Wie geht es den Frauen heute? DROPS-Gründerin Mariam Safi floh bereits vor der Machtübernahme. Die Friedensforscherin bekam Mitte Juli 2021 einen Anruf aus dem Innercircle der neuen Machthaber: Sie solle sich schnellstmöglich in Sicherheit bringen, sie stehe an oberster Stelle auf der Todesliste der Taliban. Einen Monat, bevor die Taliban den überraschten Westen mit der Übernahme Afghanistans übertölpelten, bestieg Mariam in Kabul das nächste Flugzeug nach Kanada, um ihr Leben zu retten.

Und die anderen? Manizha, die Gründerin von AWCCI, der Industrie- und Handelskammer für Frauen in Afghanistan, hatte in dem Buch noch kämpferisch geschrieben: „Wenn wir jetzt unsere Hoffnungen verlieren, würden wir den Mut von über 57.000 Geschäftsfrauen preisgeben.“ Da war sie noch in Kabul und glaubte, mit den Taliban verhandeln zu können. Aber auch sie hat, wie nahezu alle Protagonistinnen des Buches, das Land inzwischen verlassen.

Künstlerin und Aktivistin Nahid Shahalimi, die Herausgeberin des Buches "Wir sind noch da", lebt heute in München.
Künstlerin und Aktivistin Nahid Shahalimi, die Herausgeberin des Buches "Wir sind noch da", lebt heute in München.

„Nur noch Razia ist da“, sagt Nahid. Razia Barakzai ist die Initiatorin der Frauenproteste, eine der drei todesmutigen Frauen, die mit selbstgemalten Schildern in der Hand den Taliban entgegentrat. „Am 16. August machte ich mich mit zwei Frauen auf den Weg“, schreibt Razia in ihrem Text. „Wir zitterten von Kopf bis Fuß.“ Wenige Wochen später war die Gruppe bereits auf 600 angewachsen. Auch Razia steht auf der Todesliste. Jede Woche wechselt sie den Aufenthaltsort.

Über Razia erfährt Nahid, wie es zurzeit um das Land steht. Die Menschen haben nicht genug zu essen, eine Million Kinder werden in diesem Winter verhungern. Das macht die Afghaninnen und Afghanen verzweifelt. Und zu allem bereit. „Ehe ich verhungere, werde ich handeln“, sagt auch Razia.

„Wir kämpfen weiter, das hält uns am Leben“, sagt Nahid. „Und fast alle Frauen in dem Buch haben ihren Mut wiedergefunden.“ Jede auf ihre Weise: Zum Beispiel Aryana Sayeed, die Sängerin, hat gerade ein neues Album herausgebracht: „For Taliban“. Aus dem großen afghanischen Liedschatz singt sie alte afghanische Weisen. Und widmet sie den Taliban, die die Musik verdammen. In der Sprache der Taliban, in Paschtu.

„Diesen Krieg haben wir verloren“, sagt Nahid Shahalimi im Januar 2022. „Aber wir geben nicht auf. Die afghanischen Frauen sind immer die stärkste Kraft im Kampf gegen die Taliban gewesen. Sie haben so viel aufgebaut, weil sie nicht Teil des starren Systems waren. Sie konnten Neues denken. Das ist auch im Westen so. Frauen auf der ganzen Welt sind in der gleichen Lage. Wir müssen gemeinsam kämpfen.“ – Gemeinsam. Das heißt unsere aktive Solidarität.

Wir sind noch da!

Weiterlesen: Nahid Shahalimi (Hg.): Wir sind noch da! Mutige Frauen aus Afghanistan. (Sandmann Verlag), mit einem Vorwort von Margaret Atwood.

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